DIW Wochenbericht 10 / 2021, S. 163
Karsten Neuhoff, Erich Wittenberg
get_appDownload (PDF 96 KB)
get_appGesamtausgabe/ Whole Issue (PDF 2.89 MB)
Herr Neuhoff, die EU-Kommission hat im Jahr 2019 den Green Deal vorgestellt, der die Europäische Union bis 2050 klimaneutral machen soll. Welche Rolle spielt dabei die Industrie? Die Industrie spielt im Green Deal eine zentrale Rolle. Zum einen brauchen wir viele Produkte der Industrie für diese Transformation, aber zum anderen ist die Industrie verantwortlich für einen großen Teil unserer Emissionen. Allein die Herstellung von Grundstoffen wie Stahl, Zement und Chemikalien ist verantwortlich für 16 Prozent der europäischen und 25 Prozent der weltweiten Emissionen. Für Klimaneutralität müssen wir diese auf null bringen.
Wie kann der Green Deal dazu beitragen, dass die Grundstoffindustrie klimaneutral wird? Als erstes müssen die klimaneutralen Optionen wirtschaftlich sein. Dafür braucht es einen CO₂-Preis, der für die Hersteller und auch für die Nutzer der Materialien gilt. Zweitens braucht es verbindliche Aspekte, damit Unternehmen die klimaneutralen Optionen nutzen. Es muss sichergestellt sein, dass Unternehmen sehen, welche Risiken sie haben, wenn sie nicht auf klimaneutrale Optionen umstellen. Drittens brauchen wir Rahmenbedingungen wie ausreichenden Ausbau der erneuerbaren Energien, der Netze oder vielleicht auch Regulierungen für die Nutzung von Materialien in Produkten, damit wir diesen Übergang schaffen. Die Politik muss Farbe bekennen und sagen, bis zum Jahr 2030 wollen wir 20 oder 30 Prozent der Grundstoffherstellung auf klimaneutrale Prozesse umgestellt haben und dafür schaffen wir die Rahmenbedingungen.
Wer trägt die Kosten klimaneutraler Produktionsprozesse? Im Endeffekt wird ein Produkt ein bisschen teurer, wenn es klimaneutral hergestellt wird. Ein Auto aus klimaneutral hergestellten Grundstoffen wird vermutlich 200 bis 300 Euro mehr kosten. Dafür müssen dann die Käufer des Autos aufkommen. Aber die Industrie glaubt nicht, dass genügend Käufer freiwillig dazu bereit sind. Deswegen ist es notwendig, dass das über einen politischen Rahmen geregelt wird.
Inwieweit erfordern klimaneutrale Investitionen eine Reform des EU-Emissionshandels? Eine Reform des Emissionshandels ist dringend notwendig. Bislang haben wir einen Emissionshandel, der recht wirkungsvoll im Strombereich ist. Dort werden die Zertifikate auktioniert und damit gibt es für alle Akteure ein klares Preissignal. Im Industriebereich werden viele Zertifikate kostenlos zugeteilt, aus Angst, dass europäische Unternehmen im internationalen Wettbewerb zu viele Mehrkosten haben. Das führt dazu, dass nur ein Bruchteil des CO₂-Preises an die Produkte weitergegeben wird. Damit entstehen jedoch keine Investitionsrahmenbedingungen für klimaneutrale Prozesse, weil nicht klar ist, wie deren Mehrkosten gedeckt werden können. Deswegen wird zurzeit die Ergänzung des europäischen Emissionshandels um einen Klimabeitrag diskutiert.
Die EU-Kommission muss nicht nur den Green Deal umsetzen, sondern auch die durch die Corona-Pandemie geschwächte Wirtschaft ankurbeln. Entsteht hier ein Konflikt oder lässt sich das eine mit dem anderen verbinden? Diese beiden Ziele können sich ergänzen, denn Investitionen in Klimaneutralität bedeuten ja neue wirtschaftliche Aktivitäten. Auch Kapital steht genügend zur Verfügung. Die Mehrkosten der klimaneutralen Prozesse werden dann in den nächsten zwei Jahrzehnten mit den klimaneutralen Produkten erwirtschaftet. Insofern kann man jetzt die Aktivität ankurbeln, um die Konjunktur voranzubringen, und um sich auf den Weg zur Klimaneutralität zu begeben.
Das Gespräch führte Erich Wittenberg.
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2021-10-2
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/233003