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Deutsche Wirtschaft steckt im Stop-and-Go: Editorial

DIW Wochenbericht 11 / 2021, S. 169-173

Claus Michelsen, Guido Baldi, Paul Berenberg-Gossler, Marius Clemens, Geraldine Dany-Knedlik, Hella Engerer, Marcel Fratzscher, Max Hanisch, Simon Junker, Konstantin A. Kholodilin, Laura Pagenhardt

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  • DIW Berlin senkt Wachstumsprognose für dieses Jahr deutlich auf 3,0 Prozent, für nächstes Jahr sind Stand jetzt 3,8 Prozent zu erwarten
  • Zu erwartendes Wechselspiel aus Lockerungen, aufflammendem Infektionsgeschehen und erneuten Schließungen trifft vor allem Dienstleistungsbereiche
  • China und die USA sind derzeit Lokomotiven der Weltwirtschaft – Deutsche Wirtschaft profitiert von gut laufendem Auslandsgeschäft und damit robuster Industriekonjunktur
  • Probleme im Unternehmenssektor durch Aussetzung der Insolvenzmeldepflicht und staatliche Hilfeleistungen verschleiert – Zahl der Firmenpleiten dürften deutlich steigen
  • Mehr Tempo bei Pandemiebekämpfung und Zukunftsinvestitionen dringend geboten, damit Deutschland international nicht den Anschluss verliert

„Das Konjunkturpaket aus dem vergangenen Jahr hat in Deutschland einen erheblichen Impuls gegeben, der allerdings bei weitem nicht so groß ist wie in den USA. Diese und auch andere Volkswirtschaften nutzen die aktuelle Situation, um ihre Wettbewerbsfähigkeit zu stärken. Das würden wir auch der Bundesregierung empfehlen.“ Claus Michelsen, DIW-Konjunkturchef

Nach wie vor bestimmt die Corona-Pandemie das weltwirtschaftliche Geschehen. Im vergangenen Jahr folgte auf den drastischen Einbruch der Wirtschaftsleistung im ersten Halbjahr eine kräftige Erholung im Sommer, die bis in den Spätherbst anhielt. Dann stiegen die Neuinfektionszahlen in vielen Ländern stark an, was zu erneuten, teils weitreichenden Beschränkungen des gesellschaftlichen Lebens führte. Am stärksten waren dabei die Länder der Europäischen Union und die USA betroffen. Alles in allem sank die globale Wirtschaftsleistung im abgelaufenen Jahr um 2,7 Prozent. Die entwickelten Volkswirtschaften hatten mit 4,8 Prozent einen deutlich stärkeren Rückgang zu verkraften. Die Wirtschaftsleistung Deutschlands sank ebenfalls in dieser Größenordnung.

Die zweite Infektionswelle im Winter und die sich nun abzeichnende dritte Infektionswelle haben die Erholung in vielen Ländern unterbrochen. Vor allem die Dienstleistungsbereiche wurden erneut von Kaufzurückhaltung und den lockdownbedingten Schließungen unter anderem des Einzelhandels und von Kulturbetrieben ausgebremst. Das verarbeitende Gewerbe hat sich im Vergleich zur ersten Corona-Welle im Frühjahr 2020 weltweit deutlich besser auf die Pandemiesituation eingestellt; die industrielle Wertschöpfung erweist sich daher als robust. Insbesondere der globale Handel steht gegenüber dem vergangenen Frühjahr deutlich besser da. Hiervon profitiert auch die deutsche Wirtschaft, deren Exportgüter trotz der grassierenden Pandemie gefragt sind. Vor allem die Geschäfte in Asien und in den USA stützen die Ausfuhren – in der Europäischen Union hingegen hat die zweite Corona-Welle die Erholung gestoppt. Anders als in den USA oder dem Vereinigten Königreich verläuft die Impfkampagne schleppend und trübt die Aussichten auf eine raschere Erholung.

Trotz der anhaltend hohen Infektionszahlen haben sich viele Länder dennoch für Lockerungen der Restriktionen entschieden. Auch in Deutschland wurde Anfang März 2021 ein Stufenplan beschlossen, der regionale Differenzierungen der Corona-Neuinfektionen für die Öffnung des Handels, der Gastronomie und vieler anderer Dienstleistungen zur Grundlage macht. Danach können Regionen mit einer Sieben-Tage-Inzidenz von weniger als 50 Neuinfektionen je 100 000 EinwohnerInnen innerhalb einer Woche umfangreiche Öffnungsschritte vollziehen. In Gegenden mit einer Inzidenz zwischen 50 und 100 Neuinfektionen gelten restriktivere Regeln für den Publikumsverkehr. Für den Fall, dass die Inzidenz wieder über 100 steigt, sind erneute Schließungen vereinbart.

Dies dürfte zu einem Stop-and-Go der Wertschöpfung vor allem bei den Dienstleistungen führen. Denn bei einem steigenden Anteil mutierter Corona-Viren, die sich schneller als die ursprüngliche Virusvariante verbreiten, und gleichzeitigen Öffnungen ist zu erwarten, dass die Infektionszahlen wieder deutlich anziehen. Unterstellt wird in dem berechneten Szenario, dass um Ostern zahlreiche Kreise und kreisfreie Städte die Aktivitäten in Handel, Gastronomie und anderen Dienstleistungsbereichen wieder spürbar einschränken müssen. Nach neuerlichen Öffnungen wird eine ähnliche Entwicklung auch für den Frühsommer erwartet. Unter dem Strich dürfte der vereinbarte Stufenplan im zweiten Quartal wieder mehr wirtschaftliche Aktivität in den Dienstleistungsbereichen ermöglichen als noch zu Jahresbeginn – die Erholung wird dennoch schleppend verlaufen und eine dauerhafte Normalisierung der Geschäftstätigkeit im Zuge fortschreitender Impfungen und zusätzlicher Testmöglichkeiten erst ab den Sommermonaten möglich sein.

Das DIW Berlin geht angesichts der robusten Industriekonjunktur und des sich weiter erholenden Auslandsgeschäfts davon aus, dass die Wirtschaftsleistung Deutschlands in diesem Jahr um rund 3,0 Prozent steigen wird und sich die Erholung im kommenden Jahr mit einem Plus von 3,8 Prozent fortsetzt. Damit verläuft die Erholung deutlich langsamer als noch zum Jahresende 2020 erwartet. Das zugrundeliegende Szenario geht von einer Stop-and-Go-Konjunktur in Deutschland und Europa aus, während in anderen Teilen der Welt – insbesondere in Asien und den USA – die Pandemiebekämpfung vor allem wegen des schnelleren Impffortschritts effektiver ist und keine neuerlichen Lockdowns in größerem Umfang notwendig werden.

Nach wie vor sind die Risiken auch für dieses Szenario erheblich. So hat die Politik in den vergangenen Wochen ihre Linie in der Corona-Politik mehr als nur einmal geändert. Das allein erzeugt Unsicherheit für die Wirtschaftsakteure. Hinzu kommt, dass das Insolvenzgeschehen durch die Aussetzung der Meldepflicht für Unternehmen verschleiert ist. Viele Firmen haben ihre Eigenkapitalpuffer im vergangenen Jahr aufgebraucht. Dies gilt insbesondere für kleinere Unternehmen in den Dienstleistungsbereichen, deren Krisenresilienz ohnehin geringer ist und die weniger Möglichkeiten hatten, sich auf schwere wirtschaftliche Krisen vorzubereiten. Schon vor der Corona-Pandemie hatten diese Unternehmen eine geringere Eigenkapitaldecke, wie Erhebungen beispielsweise der KfW Bankengruppe zeigen. Diese sind vielfach auf staatliche Hilfen angewiesen, um die Zahlungsunfähigkeit zu vermeiden. Häufig fließen diese aber nur verzögert oder wurden zuletzt aufgrund von Betrugsfällen gänzlich gestoppt. Im vergangenen Jahr kam es dennoch zu weniger Unternehmensinsolvenzen – Firmenpleiten könnten alleine deshalb in diesem Jahr erheblich zunehmen und den Arbeitsmarkt zusätzlich unter Druck bringen. Es besteht daher ein erhebliches Risiko, dass eine größere Zahl an Unternehmen in die Pleite geht. Dies könnte auch negative Konsequenzen für viele GläubigerInnen, insbesondere den Bankensektor, haben. Die ausgereichten Hilfen in Form von Krediten verschlechtern zudem die Bonität der überlebenden Unternehmen, deren Handlungsspielräume gerade für Investitionen dann im Nachgang der Krise eingeschränkt sein werden.

Gleichwohl dürften die Soforthilfen für Unternehmen, die finanzpolitischen Impulse und die expansive Geldpolitik die negativen wirtschaftlichen Folgen der Krise erheblich reduziert haben. Größere Teile der Einkommensverluste und Rückgänge der Nachfrage wurden mit den Instrumenten der Kurzarbeit und dem Konjunkturpaket aus dem Sommer des vergangenen Jahres aufgefangen. Der Flurschaden auf dem Arbeitsmarkt ist zwar erheblich, angesichts des wirtschaftlichen Einbruchs aber dennoch verhältnismäßig gering. Dies dürfte primär auf die flexible Nutzung der Kurzarbeiterregelungen zurückzuführen sein. Die Arbeitslosenquote dürfte im vergangenen Jahr in der Spitze auf über sechs Prozent gestiegen sein und in diesem Jahr im Durchschnitt bei 5,8 Prozent liegen. Dass die Staatsschuldenquote Deutschlands bislang nur auf knapp 69 Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt gestiegen ist, liegt auch daran, dass Teile der bereitgestellten Hilfen noch nicht abgerufen oder gar nicht benötigt wurden. In diesem Jahr dürfte die Schuldenstandsquote dennoch weiter steigen, auf 71 Prozent. Gleichwohl liegt sie dann nach wie vor deutlich niedriger als unmittelbar nach der Finanzkrise.

Eine Diskussion über eine schnelle Rückkehr zu den Regelungen der Schuldenbremse ist bereits im Gang. Dennoch scheint es angesichts der konjunkturellen Lage und der Unwägbarkeiten verfrüht, einen nahezu ausgeglichenen Haushalt kurzfristig anzustreben. Zumal der fiskalische Impuls in Deutschland und im Euroraum bisher deutlich kleiner ist als in anderen großen Wirtschaftsräumen wie den USA oder Japan. In den USA beträgt er rund 13 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, in Japan rund sechs Prozent. In Deutschland betrug der gesamtstaatliche finanzpolitische Impuls in Reaktion auf die Corona-Krise hingegen nur knapp vier Prozent in Relation zum Bruttoinlandsprodukt. Auch in den kommenden Monaten und Jahren plant Deutschland deutlich weniger Geld in die Hand zu nehmen als etwa die USA, wo rund das Vierfache der aktuellen Produktionslücke zur Krisenbewältigung ausgegeben wird. Hierzulande sind für die Finanzhilfen und konjunkturstützenden Maßnahmen für die Jahre 2020 bis 2022 insgesamt rund sechs Prozent der Wirtschaftsleistung vorgesehen, was etwa dem 1,2-fachen der Produktionslücke im Jahr 2020 entspricht.

Deutschland und auch der Euroraum werden kurzfristig fraglos von den Impulsen in der übrigen Welt profitieren. Gleichwohl werden in den anderen Volkswirtschaften wichtige Modernisierungsvorhaben schneller vorangebracht. Deshalb wäre auch in Deutschland mehr Tempo wichtig. Gerade in Zeiten nach wie vor negativer Zinsen scheint der Zeitpunkt für investive Maßnahmen günstig, denn diese zahlen sich in der aktuellen wirtschaftlichen Lage doppelt aus. Die Wirtschaft ist in der Unterauslastung, die Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung hoch und die Zinsen sind äußerst niedrig. Gleichzeitig besteht Konsens über die Notwendigkeit umfangreicher staatlicher Investitionen in Dekarbonisierung, Digitalisierung, Forschung und Entwicklung, Bildung, aber auch in die gebaute Infrastruktur. Modellschätzungen zeigen, dass ein Euro dieser öffentlichen Investitionen kumuliert bis 2024 etwa 1,6 Euro zusätzliches Bruttoinlandsprodukt mit sich bringt. Dadurch läge die reale Wirtschaftsleistung bis 2024 jahresdurchschnittlich um etwa 0,4 Prozent höher als ohne die Investitionen im Rahmen des Konjunkturprogramms. Insbesondere im Niedrigzinsumfeld, durch das die Finanzierungskosten bei der Ausgabe von Staatsschuldtiteln wegfallen oder sogar zu realen Finanzierungsgewinnen werden können, sollte das zusätzliche Wachstum auch einen spürbaren Beitrag bei der mittelfristigen Rückführung der öffentlichen Verschuldung liefern.

Mit dem Anstieg des Produktionspotenzials werden die öffentlichen und privaten Kapazitäten ausgeweitet und Produktionsprozesse effizienter, beispielsweise durch digitalisierte Schulen und öffentliche Verwaltungen oder auch eine bessere Kinderbetreuung. Auch kurz- und mittelfristige Nachfragengpässe, die durch den wirksamen Fiskalimpuls zu steigenden Preisen führen könnten, würden dadurch abgemildert, dass ein Investitionsprogramm auch die volkswirtschaftlichen Produktionskapazitäten permanent erhöht.

Dies bedeutet, dass es langfristig keinen Zielkonflikt zwischen einem Abbau der Staatsschuldenquote und höheren öffentlichen Ausgaben für Investitionen gibt, wenn diese Investitionen das Potenzialwachstum erhöhen, dadurch die Steuereinnahmen stärken und die Sozialsysteme entlasten. Gegenwärtig hat Deutschland einen großen Bedarf an solchen Investitionen und sollte die Gelegenheit nutzen, um die Volkswirtschaft nachhaltig zu modernisieren und gleichzeitig die Krise zu überwinden.

Paul Berenberg-Gossler

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Provisorischer Bereich Prognose und Konjunkturpolitik

Laura Pagenhardt

Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Makroökonomie

Geraldine Dany-Knedlik

Co-Leitung Konjunkturpolitik in der Abteilung Makroökonomie

Max Hanisch

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Weltwirtschaft

Marius Clemens

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Provisorischer Bereich Prognose und Konjunkturpolitik

Claus Michelsen

Abteilungsleiter in der Provisorischer Bereich Prognose und Konjunkturpolitik

Guido Baldi

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Makroökonomie

Simon Junker

Stellvertretender Abteilungsleiter in der Provisorischer Bereich Prognose und Konjunkturpolitik

Konstantin A. Kholodilin

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Makroökonomie

Hella Engerer

Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt

Themen: Konjunktur

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