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Zehn Jahre danach: Aus dem Atomausstieg muss ein Atomumstieg werden: Kommentar

DIW Wochenbericht 12 / 2021, S. 236

Christian von Hirschhausen

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Alle Jahre wieder, zwischen dem 11. März und dem 26. April, wird weltweit, und natürlich auch in Deutschland, der Toten und Geschädigten durch die katastrophalen Unfälle in den Kernkraftwerken Fukushima-Daichi am 11. März 2011 und Tschernobyl am 26. April 1986 gedacht. Dieses Jahr war Fukushima mit dem zehnten Jahrestag besonders „rund“ und damit auch zehn Jahre Atomausstieg in Deutschland, den Bundeskanzlerin Merkel nur drei Tage nach der Reaktorkatastrophe verkündet hatte.

Zum Auftakt der diesjährigen Fukushima-Gedenkveranstaltung hat das Bundesumweltministerium ein Zwölf-Punkte-Papier vorstellt – und damit bestätigt, dass wir zehn Jahre später nicht am Ende, sondern erst mitten in einem sehr langfristigen Umstellungsprozess stehen. So gibt es auf der Welt bis heute kein einziges funktionierendes tiefengeologisches Endlager. In Deutschland und anderswo laufen zwar derzeit gesetzlich strukturierte Prozesse in diese Richtung, doch werden diese selbst bei besten Rahmenbedingungen tief ins 22. Jahrhundert dauern. Neben der Zwischen- und Endlagerei beinhaltet das Zwölf-Punkte-Papier auch den Rückbau der Kernkraftwerke, ebenfalls in seiner Komplexität unterschätzt und unterfinanziert, die Schließung der Brennelementefabrik in Lingen und der Anreicherungsanlage in Gronau.

Und es enthält die Ankündigung, dass Deutschland Widerstand leisten wird: gegen KKW-Laufzeitverlängerungen, insbesondere in Nachbarstaaten wie Frankreich, gegen die Subventionierung von Kernkraft, vor allem im aktuellen European Green Deal, und gegen Versuche, durch die Taxonomie-Regulierung Kernkraft als „sauber“ zu klassifizieren. Darüber hinaus sollen wissenschaftliche Fachkompetenz erhalten und solide Fakten in den internationalen Atom-Diskurs und zu neuen Reaktorkonzepten eingebracht werden.

Dieser von vielen als Atomausstieg bezeichnete Prozess erfolgte auch in vielen anderen Ländern, so in Belgien, Italien, der Schweiz, Schweden und inzwischen sogar in Südkorea. Insgesamt bestätigt sich die seit langem zu beobachtende Tendenz, dass Länder, die keine Synergieeffekte aus kommerzieller und militärischer Nutzung von Kernkraft erzielen können, mit der reinen Stromerzeugung kein nachhaltiges Modell etablieren und diese daher früher oder später beenden – anders als die USA, Russland, China, das Vereinigte Königreich oder Frankreich.

Doch halt: Das Narrativ „AtomAUSstieg“, wenn auch auf den ersten Blick griffig und vielversprechend, hat nicht nur nichts damit zu tun, was derzeit in Deutschland und anderswo tatsächlich passiert, sondern verklärt die noch lange anhaltenden Gefahren und Kosten der Nutzung der Kernkraft. Aus der Kernspaltung von Uran kann man nämlich nicht aussteigen wie aus einer U-Bahn oder aus der Nutzung fossiler Energieträger wie Kohle, Erdgas oder Erdöl: Die Folgen der Kernspaltung bleiben uns inklusive der Zerfalls- und Strahlungsprozesse über eine Million Jahre erhalten und schaffen somit Handlungsdruck, über deren Komplexität wir uns erst jetzt langsam klar werden: die Notwendigkeit des Rückbaus, die Zwischen- und Endlagerung hochradioaktiver Abfälle sowie die Frage zukünftiger Forschungsschwerpunkte.

Etablieren wir lieber AtomUMstieg als ein neues Narrativ, das die möglichst sichere Behandlung der in den 1940er Jahren geöffneten Kiste der Pandora umfasst. Nicht gemeint damit ist übrigens der Umstieg auf sogenannte „neue“ Kernkraftwerke, etwa der vierten Generation oder mit besonders kleinen Leistungen („SMR-Konzepte“), die etwa Bill Gates derzeit populär machen möchte. Diese auf den ersten Blick „sauber“ erscheinenden Lösungen werden seit vielen Jahrzehnten erfolglos erforscht. Dies gilt auch für das „nuclear valley“: Atomkraft lässt sich nicht digitalisieren. Vielmehr müssen im täglichen, anstrengenden und sehr arbeitsintensiven Diskurs gesellschaftlich durchsetzbare Lösungen für eine Technologie gefunden werden, die heute als „wohlfahrtsmindernd“ bezeichnet werden kann, schafft sie doch eindeutig mehr Schaden und Kosten als Nutzen.

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