Bereits zu Beginn der Corona-Pandemie und des ersten Lockdowns wurde vermutet, dass die Krise mit einer starken psychischen Belastung der Bevölkerung einhergehen würde. Im zweiten, deutlich längeren, Lockdown wurden diese Befürchtungen noch größer. Denn viele sahen dadurch die psychische Gesundheit der in Deutschland lebenden Menschen akut bedroht. Wie aktuelle Ergebnisse der SOEP-CoV-Studie zeigen, waren diese Sorgen zumindest teilweise begründet. So blieb während des zweiten Lockdowns die Einsamkeit unverändert hoch und die Lebenszufriedenheit sank. Sollte die ökonomische Unsicherheit steigen oder der Alltag der Menschen anhaltend durch die Krise beeinträchtigt bleiben – etwa durch einen weiteren Lockdown – ist anzunehmen, dass sich auch die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden verschlechtern. Daher sollten schon jetzt Konzepte erarbeitet werden, damit Betroffene möglichst einfach und ausreichend Zugang zu Psychotherapien und anderen Hilfsangeboten erhalten. Dabei wäre es ratsam, insbesondere Frauen, jüngere Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund anzusprechen, die während des zweiten Lockdowns besonders stark seelisch gelitten haben.
Am 2. November 2020 begann der Lockdown „light“ in Deutschland, der nach mehreren Verschärfungen im Mai 2021 endete. Aus einer zweiten Erhebung der SOEP-CoV-Studie auf Basis der Langzeitbefragung Sozio-oekonomisches Panel (SOEP) im Januar und Februar 2021 lassen sich nun erste Ergebnisse über die Entwicklung der selbstberichteten psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens der in Deutschland lebenden Menschen zu dieser Zeit ablesen. Dabei wird der sehr lange zweite Lockdown mit dem ersten Lockdown im Jahr 2020Zur Lage der psychischen Gesundheit im ersten Lockdown, siehe: Entringer,Theresa, Kröger, Hannes (2020): Einsam, aber resilient – Die Menschen haben den Lockdown besser verkraftet als vermutet. DIW aktuell (46)., aber auch mit den Jahren vor der Corona-Pandemie verglichen.Für Analysen, die spezielle Ost/West-Unterschiede untersuchen, siehe: Liebig, Stefan, Buchinger, Laura, Entringer, Theresa, Kühne, Simon (2020). DIW Berlin: Ost- und Westdeutschland in der Corona-Krise: Nachwendegeneration im Osten erweist sich als resilient. DIW Wochenbericht, 38, 721-729. https://doi.org/10.18723/diw_wb:2020-38-5
Die Schätzungen der Jahre 2003 bis 2018 basieren auf dem Sozio-oekonomische Panel (SOEP), einer jährlich durchgeführten Befragung von etwa 30.000 Personen in repräsentativ ausgewählten deutschen Haushalten. Vgl. Jan Goebel et al. (2019): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 239(2) (doi: 10.1515/jbnst-2018-0022). Die Schätzungen für 2020 und 2021 stammen aus der SOEP-CoV-Studie, einem vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Kooperationsprojekt der Universität Bielefeld mit dem SOEP am DIW Berlin (Förderkennzeichen 01KI2087A sowie 01KI2087B), für die repräsentativ ausgewählte SOEP-Haushalte im Umfang von knapp 6.700 Personen – zusätzlich zur regelmäßigen jährlichen Befragung - insbesondere zu COVID-19-bezogenen Einstellungen und Verhaltensweisen telefonisch interviewt wurden. Die Befragung erfolgte zwischen Ende März und Anfang Juli 2020 und abermals im Januar und Februar 2021. Vgl. http://www.soep-cov.de oder Simon Kühne et al. (2020): The Need for Household Panel Surveys in Times of Crisis: The Case of SOEP-CoV. Survey Research Methods 14(2) (doi: 10.18148/srm/2020.v14i2.7748).
Einsamkeit beschreibt eine wahrgenommene Diskrepanz zwischen gewünschten und tatsächlichen sozialen Beziehungen. Wird die Einsamkeit chronisch, geht sie mit schwerwiegenden Folgen für die psychische und physische Gesundheit einher. Bereits im ersten Lockdown war die Einsamkeit der in Deutschland lebenden Menschen auf auffällig hohem Niveau (Durchschnittswert im ersten Lockdown = 5,1, Durchschnittswert in 2017 = 3,0 im Wertebereich von 0 bis 12, niedrige Werte geben niedrige Einsamkeitsgefühle an). Im zweiten Lockdown zeigte sich im Vergleich dazu kaum eine Veränderung: Die Einsamkeit blieb auf unverändert hohem Niveau, stieg aber trotz der länger andauernden Kontaktbeschränkungen auch nicht weiter an (Durchschnittswert = 5,2). Allerdings ist dieser Durchschnittswert insbesondere im Vergleich zu den Vorjahren besorgniserregend hoch (vgl. Abbildung 1a). Aus diesem Grund gilt es in den folgenden Monaten genau zu beobachten, ob die Einsamkeit der in Deutschland lebenden Menschen mit den Lockerungen der Kontaktbeschränkungen wieder abnimmt, oder ob sie möglicherweise chronisch wird.
Die allgemeine Lebenszufriedenheit hat sich zwischen dem ersten und dem zweiten Lockdown verringert, wie schon eine frühere AuswertungLiebig, Stefan und Simon Kühne. 2021. Während der Corona-Pandemie sind die Menschen zunehmend unzufrieden mit der Freizeit, aber weiterhin zufrieden mit ihrem Schlaf. SOEP-CoV-Spotlight 5. Berlin: DIW Berlin. der SOEP-CoV-StudieLiebig, Stefan und Simon Kühne. 2021. Während der Corona-Pandemie sind die Menschen zunehmend unzufrieden mit der Freizeit, aber weiterhin zufrieden mit ihrem Schlaf. SOEP-CoV-Spotlight 5. Berlin: DIW Berlin. gezeigt hat. Während die Bevölkerung im ersten Lockdown noch äußerst resilient war (die Lebenszufriedenheit blieb im Vergleich zu den Vorjahren unverändert: Durchschnittswert im ersten Lockdown = 7,4, Durchschnittswert in 2019 = 7,4 auf einer Skala von 0 bis 10), ging die Lebenszufriedenheit im zweiten Lockdown spürbar zurück. (Durchschnittswert = 7,2; vgl. Abbildung 1a). Eine ähnliche Entwicklung lässt sich in Bezug auf das emotionale Wohlbefinden erkennen (vgl. Abbildung 1b). So lag der Durchschnittswert des emotionalen Wohlbefindens im ersten Lockdown bei 14,6, während er 2019 noch bei 14,7 gelegen hatte (Wertebereich von 4 bis 20). Im zweiten Lockdown sank der Wert auf 14,5. Allerdings war der Rückgang des emotionalen Wohlbefindens im Januar/Februar 2021 (noch) nicht signifikant (Abbildung 1b).
Abbildung 1: Allgemeine Lebenszufriedenheit und emotionales Wohlbefinden der in Deutschland lebenden Menschen
Durchschnittswert
Quelle: SOEPv35 und SOEP-CoV. Alle Werte gewichtet mit individuellen Hochrechnungsfaktoren
© DIW Berlin
Obwohl die Einsamkeit unverändert hoch war und auch die Lebenszufriedenheit der in Deutschland lebenden Menschen im zweiten Lockdown sank, lässt sich auch eine positive Entwicklung erkennen. Im Vergleich zum ersten Lockdown litten die Menschen während des zweiten Lockdowns im Durchschnitt etwas seltener unter Angst- und DepressionssymptomenIm Rahmen der SOEP und der SOEP-CoV-Befragung wurden die Teilnehmenden gebeten, den PHQ-4 Fragebogen auszufüllen, ein oft eingesetztes Instrument zum Screening von Depressionen und (generalisierten) Angststörungen. Der Fragebogen besteht aus vier Fragen und die Befragten werden gebeten anzugeben, wie oft sie in den letzten zwei Wochen verschiedene Symptome (z.B. “Wenig Interesse oder Freude an Tätigkeiten” oder “Nervosität, Ängstlichkeit oder Anspannung”) verspürt haben. Die Fragen werden mithilfe einer 4-stufigen Antwortskala von “überhaupt nicht” (0) über “an einigen Tagen” (1) und “an mehr als der Hälfte der Tage” (2) bis zu “fast jeden Tag” (3) beantwortet. Für die Auswertung wurden die Antworten auf jede Frage zu einem Summenscore zusammengefasst (mögliche Werte zwischen 0 und 12, höhere Werte entsprechen stärkeren Depressions- und Angstsymptomen). wie etwa einem geringeren Interesse an Tätigkeiten, Nervosität, Ängstlichkeit oder Anspannung. Das heißt, diese Symptomatik lag während des zweiten Lockdowns auf einem ähnlichen Niveau wie 2016 (Durchschnittswert im 2. Lockdown = 2,2, Durchschnittswert in 2016 = 2,3, Wertebereich 0 bis 12). Dieser Rückgang ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass die Menschen nach insgesamt fast einem Jahr Pandemie die Krise nicht mehr als so bedrohlich wahrnehmen wie noch zu Beginn und sich daher weniger Sorgen machen. Gleichzeitig ist jedoch bekannt, dass sich ökonomische Unsicherheit auf die Symptomatik auswirkt. Es ist daher anzunehmen, dass diese noch einmal ansteigen könnte, sollten durch die Krise zukünftig Arbeitsplätze verloren gehen und die ökonomische Unsicherheit ansteigen.
Siehe hierzu die Darstellung des RKI: https://experience.arcgis.com/experience/478220a4c454480e823b17327b2bf1d4/page/page_1/.
Wie die Auswertung der SOEP-CoV-Studie zeigt, war vor allem die psychische Gesundheit von Frauen, jüngeren Menschen und Menschen mit direktem MigrationshintergrundEine Person hat einen Migrationshintergrund, wenn sie selbst oder mindestens ein Elternteil nicht mit deutscher Staatsangehörigkeit geboren wurde. Im Einzelnen umfasst diese Definition zugewanderte und nicht zugewanderte Ausländerinnen und Ausländer, zugewanderte und nicht zugewanderte Eingebürgerte, (Spät-) Aussiedlerinnen und (Spät-) Aussiedler sowie die als Deutsche geborenen Nachkommen dieser Gruppen. während der Corona-Pandemie beeinträchtigt. Zum Beispiel berichteten Frauen im zweiten Lockdown eine höhere Einsamkeit, eine geringere Lebenszufriedenheit und mehr Angst- und Depressionssymptome als Männer. (vgl. Abbildung 2a und 3a). Bemerkenswert ist daran insbesondere, dass in den vergangenen Jahren Frauen tendenziell immer eher etwas zufriedener mit ihrem Leben waren als Männer. Auffällig ist auch, dass sich der Unterschied in der Angst- und Depressionssymptomatik zwischen Frauen und Männern im zweiten Lockdown im Vergleich zum ersten Lockdown noch weiter vergrößert hatFrauen sind in einigen Bereichen auch stärker ökonomisch betroffen vom Lockdown als Männer: Seebauer, Johannes, Kritikos, Alexander S., Graeber, Daniel. (2021). DIW Berlin: Geflüchtete sind auch in der Corona-Pandemie psychisch belastet und fühlen sich weiterhin sehr einsam. DIW Wochenbericht, 15, 261-269. https://doi.org/10.18723/diw_wb:2021-15-3 (vgl. Abbildung 3a). Eine mögliche Erklärung für dieses Ergebnis ist, dass Frauen sowohl wirtschaftlich als auch durch die zusätzlichen Anforderungen im Rahmen von Kinderbetreuung und Homeschooling mehr belastet waren als Männer.
Abbildung 2a: Einsamkeit bei Männern und Frauen
Quelle: SOEPv35 und SOEP-CoV. Alle Werte gewichtet mit individuellen Hochrechnungsfaktoren.
© DIW Berlin
Abbildung 2b: Einsamkeit nach Altersgruppen
Durchschnittswerte
Quelle: SOEPv35 und SOEP-CoV. Alle Werte gewichtet mit individuellen Hochrechnungsfaktoren.
© DIW Berlin
Darüber hinaus zeigte sich, dass jüngere stärker unter der Krise leiden als ältere Menschen: Sie fühlten sich während des ersten und des zweiten Lockdowns wesentlich einsamer und berichteten im Mittel deutlich mehr Angst- und Depressionssymptome (vgl. Abbildung 2b und 3b).
Auch Menschen mit direktem Migrationshintergrund reagierten mit mehr Angst- und Depressionssymptomen auf die Krise als Menschen ohne MigrationshintergrundZum Vergleich mit Geflüchteten, siehe: Entringer, T., Jacobsen, J., Kröger, H., & Metzing, M. (2021). DIW Berlin: Geflüchtete sind auch in der Corona-Pandemie psychisch belastet und fühlen sich weiterhin sehr einsam. DIW Wochenbericht, 12, 227–232. https://doi.org/10.18723/diw_wb:2021-12-1.. So lag ihre Angst- und Depressionssymptomatik im zweiten Lockdown im Durchschnitt bei 2,6 während sie bei Menschen ohne Migrationshintergrund lediglich bei 2,1 lag.
Abbildung 3a: Angst- und Depressionssymptomatik bei Menschen nach Migrationshintergrund
Durchschnittswerte
Quelle: SOEPv35 und SOEP-CoV. Alle Werte gewichtet mit individuellen Hochrechnungsfaktoren.
© DIW Berlin
Abbildung 3b: Angst- und Depressionssymptomatik bei Männern und Frauen
Durchschnittswerte
Quelle: SOEPv35 und SOEP-CoV. Alle Werte gewichtet mit individuellen Hochrechnungsfaktoren.
© DIW Berlin
Abbildung 3c: Angst- und Depressionssymptomatik nach Altersgruppen
Durchschnittswerte
Quelle: SOEPv35 und SOEP-CoV. Alle Werte gewichtet mit individuellen Hochrechnungsfaktoren.
© DIW Berlin
Während des zweiten Lockdowns zeigte sich, dass die in Deutschland lebenden Menschen nach wie vor sehr einsam waren und auch die Lebenszufriedenheit im Vergleich zum ersten Lockdown gesunken ist. Gleichzeitig litten sie etwas seltener unter Angst- und Depressionssymptome als noch im ersten Lockdown. Die nächsten Monate werden nun zeigen, wie sich die Krise langfristig auf die Psyche der Bevölkerung auswirkt. Sollte die ökonomische Unsicherheit nochmals steigen oder der Alltag der Menschen anhaltend durch die Krise beeinträchtigt sein – etwa durch einen weiteren Lockdown – ist anzunehmen, dass sich auch die psychische Gesundheit und das Wohlbefinden nochmals verschlechtern. Eine engmaschige Beobachtung der Situation scheint daher notwendig. Präventiv wäre es darüber hinaus schon jetzt sinnvoll, Konzepte zu erarbeiten, um sicherzustellen, dass die in Deutschland lebenden Menschen in ausreichendem Umfang und möglichst einfach Zugang zu Psychotherapien erhalten. So wäre es beispielsweise denkbar, approbierten Psychotherapeuten, die derzeit noch nicht über eine Zulassung für die gesetzlichen Krankenversicherungen verfügen, zeitweise die Möglichkeit zu geben, mit den gesetzlichen Krankenversicherungen abzurechnen. Auf diese Weise könnte kurzfristig und flexibel Therapieangebote für Betroffene geschaffen werden. Auch ein Ausbau niedrigschwelliger Hilfsangebote (online oder telefonische Hilfsangebote) erscheint in Anbetracht möglicher weiterer Lockdowns sinnvoll. Insbesondere Frauen, jüngere Menschen und Menschen mit direktem Migrationshintergrund, die während des zweiten Lockdowns besonders stark seelisch gelitten haben, sollten dabei gezielt angesprochen werden. In Anbetracht der anhaltend hohen Einsamkeit in der Bevölkerung wird darüber hinaus zu empfohlen, das Thema noch stärker in den politischen Fokus zu rücken. Eine Möglichkeit wäre es beispielsweise auf Bundesebene Einsamkeitsbeauftrage einzusetzen, die das Thema ganzheitlich betreuen und koordinieren. Vergleichbare erfolgreiche Beispiele finden sich bereits im europäischen Ausland wie den Niederlanden oder Großbritannien.
Themen: Wohlbefinden, Gesundheit
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/235920