DIW Wochenbericht 28 / 2021, S. 491-499
Jannes Jacobsen, Martin Kroh
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„Parteien haben die Chance, Menschen mit Einwanderungsgeschichte langfristig an sich zu binden. Dazu sollten sie die vielfältigen politischen Interessen von Eingewanderten und deren Kindern systematisch in ihre Programme integrieren und auch in konkrete Politik umsetzen.“ Jannes Jacobsen
Etwa jede vierte Person in Deutschland hat eine Einwanderungsgeschichte. Ein Indikator für ihre Inklusion in das politische Leben ist, ob sie sich mit einer Partei verbunden fühlen. Befragungen des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zeigen, dass Eingewanderte und ihre Kinder dies seltener tun als die restliche Bevölkerung. Bei selbst Eingewanderten steigt die Parteibindung mit der Aufenthaltsdauer: Bis fünf Jahre nach ihrer Einwanderung gibt etwa ein Viertel der Befragten eine erste Parteibindung an, nach 15 Jahren ist es rund die Hälfte. Dabei unterscheiden sich die Parteibindungen zwischen Personen verschiedener Herkunftsländer stark. So neigen Menschen aus der Türkei häufiger der SPD zu, während sich Eingewanderte aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion beziehungsweise den Nachfolgestaaten häufiger der CDU/CSU verbunden fühlen. Dass die Hälfte der Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland den Parteien bisher dauerhaft distanziert gegenübersteht, weist auf ein hohes Mobilisierungspotenzial hin. Parteien sollten daher diese wachsende Wählergruppe noch aktiver ansprechen und ihre vielfältigen politischen Interessen stärker einbeziehen.
In Deutschland hat rund jede vierte Person eine Einwanderungsgeschichte, ist also selbst aus dem Ausland nach Deutschland zugezogen oder Nachfahre beziehungsweise Nachfahrin einer solchen Person.Statistisches Bundesamt (2021): Bevölkerung nach Migrationshintergrund und Geschlecht (online verfügbar, abgerufen am 28. Juni 2021. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Eingewanderte und deren Kinder leben dauerhaft oder zumindest über viele Jahre in Deutschland, und manche bemühen sich schließlich um Einbürgerung. Ihre Integration in die hiesige Gesellschaft ist daher eine wichtige Aufgabe von Gesellschaft und Politik. Ein häufig vernachlässigter Bestandteil von Integrations- und Inklusionsbemühungen ist die politische Teilhabe. Hierzu gehört neben der Teilnahme an Wahlen, Abstimmungen und Demonstrationen, der Mitarbeit in Parteien und politischen Initiativen auch die sichtbare Repräsentation von Menschen mit Einwanderungsgeschichte in politischen Ämtern. Parteien haben in Deutschland die wichtige Funktion, an der politischen Willensbildung mitzuwirken. Inwieweit es ihnen gelungen ist, Menschen mit Einwanderungsgeschichte langfristig an sich zu binden, kann als Hinweis für eine erfolgreiche Inklusion in den Willensbildungsprozess interpretiert werden.
Die Parteiidentifikation oder auch Parteibindung beschreibt, ob eine Person einer Partei langfristig zuneigt. Sie ist meist stabiler als die aktuelle Wahlabsicht, die von der aktuellen Stimmung beeinflusst wird (Kasten 1). Die Parteiidentifikation bildet sich maßgeblich über das soziale Umfeld und politisches Lernen in der frühen Jugend heraus; danach ist sie eine vergleichsweise stabile politische Orientierung von Personen.Angus Campbell et al. (1960): The American Voter. New York: John Wiley; Jürgen W. Falter, Harald Schoen und Claudio Caballero (2000): Dreißig Jahre danach. Zur Validierung des Konzepts „Parteiidentifikation“ in der Bundesrepublik. In: Markus Klein et al. (Hrsg.): 50 Jahre Empirische Wahlforschung in Deutschland. Entwicklungen, Befunde, Perspektive, Daten. Wiesbaden, 235–271; Martin Kroh (2019): Parteiidentifikation: Konzeptionelle Debatte und empirische Befunde. In: Thorsten Faas et al. (Hrsg.): Politikwissenschaftliche Einstellungs- und Verhaltensforschung. Nomos: 458–479. Sind Menschen in einem anderen politischen System aufgewachsen, stellt ihr Zugang zu Informationen sowie ihre wachsende Erfahrung mit dem hiesigen politischen System eine wichtige Bedingung für ihre Herausbildung dar.In den 1960er Jahren wurde zum Beispiel wissenschaftlich debattiert, ob Westdeutsche 20 Jahre nach dem Totalitarismus bereits Identifikationen mit den demokratischen Parteien herausbilden konnten. Harald Schoen und Cornelia Weins (2014): Der sozialpsychologische Ansatz zu Erklärung von Wahlverhalten. In: Jürgen Falter et al. (Hrsg.): Handbuch Wahlforschung. Springer Fachmedien. 241–329.Eine ähnliche Debatte gab es in den 1990er Jahren bezüglich der Verbreitung langfristiger Bindungen an Parteien in Ostdeutschland. Martin Kroh (2014): Growth trajectories in the strength of party identification: The legacy of autocratic regimes. Electoral studies 33, 90–101.
In der Wahlforschung wird zwischen der Wahlabsicht, der Wahlentscheidung sowie der Parteiidentifikation unterschieden.Harald Schoen und Cornelia Weins (2014): Der sozialpsychologische Ansatz zu Erklärung von Wahlverhalten. In: Jürgen Falter et al. (Hrsg.): Handbuch Wahlforschung. Springer Fachmedien. 241–329. Die Wahlabsicht ist vielfach auch unter dem Begriff der Sonntagsfrage bekannt und bezeichnet die Auskunft darüber, welcher Partei eine Person bei der nächsten Parlamentswahl seine Zweitstimme geben möchte. Die Wahlentscheidung ist die retrospektive erhobene, tatsächlich vorgenommene Abgabe der (Zweit-)Stimme. Während die Wahlabsicht sowie die Wahlentscheidung vielfach aktuellen Entwicklungen und Trends unterliegen, ist die Parteiidentifikation, idealtypisch, stabiler und maßgeblich durch die soziale Umwelt (beispielsweise das Elternhaus) geprägt.Martin Kroh (2019): a.a.O.
Befragte zeigen eine Parteiidentifikation, wenn sie mit „ja“ auf folgende Frage im SOEP-Fragebogen antworten: „Viele Leute in der Bundesrepublik neigen längere Zeit einer bestimmten Partei zu, obwohl sie auch ab und zu eine andere Partei wählen. Wie ist das bei Ihnen: Neigen Sie einer bestimmten Partei in Deutschland zu?“ Hiernach wird abgefragt, welcher Partei Befragte zuneigen.
Es ist daher wichtig, die Parteibindungen sowohl von wahlberechtigten als auch nicht wahlberechtigten Menschen mit Einwanderungsgeschichte zu untersuchen – nicht nur um Wahlergebnisse vorherzusagen oder die Bindungskraft einzelner Parteien zu messen, sondern auch um zu überprüfen, ob sich Eingewanderte und ihre Kinder durch Parteien als zentrale Akteure der politischen Willensbildung hinreichend angesprochen fühlen und sich mit ihnen identifizieren können.
Im Jahr 2009 resümierte ein DIW Wochenbericht bereits, dass die politischen Interessen von Eingewanderten stärker berücksichtig werden könnten.Martin Kroh und Ingrid Tucci (2009): Parteibindung von Migranten: Parteien brauchen Einbürgerung nicht zu fürchten. DIW Wochenbericht Nr. 47, 821–827 (online verfügbar). Was hat sich seitdem in Deutschland im Hinblick auf die Parteiidentifikation von Personen mit Einwanderungsgeschichte getan? Wie verbreitet sind Parteiidentifikationen unter Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland? Mit welchen Parteien fühlen sie sich maßgeblich verbunden? Und inwieweit unterscheidet sich die Parteiidentifikation nach Herkunftsländern? Antworten darauf liefert der vorliegende Wochenbericht. Datengrundlage ist das Sozio-oekonomische Panel (SOEP, Kasten 2).
Der vorliegende Bericht stützt sich auf das Sozio-oekonomische Panel (SOEP). Das SOEP ist eine jährliche Wiederholungsbefragung zufällig ausgewählter Privathaushalte, die seit 1984 in Westdeutschland und seit 1990 auch in Ostdeutschland durchgeführt wird.Jan Goebel et al. (2019): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 239(2), 345–360 (online verfügbar). Um die Einwanderung nach Deutschland im SOEP abzubilden wurden seit 1984 verschiedene Sondererhebungen implementiert, welche sich speziell an EinwanderInnen und ihre Kinder richten.Jannes Jacobsen et al. (2021): Growing Potentials for Migration Research using the German Socio-Economic Panel Study. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, online first (online verfügbar). Somit können detaillierte Analysen für unterschiedliche Einwanderungskohorten über die Zeit vorgenommen werden.
Für den Bericht wurde die Version v.36 (Datenrelease 2021) und alle Befragungsjahre zwischen 1984 und 2019 genutzt.
Dabei wird zwischen Personen mit und ohne Einwanderungsgeschichte sowie zwischen erster und zweiter Generation unterschieden. Eine Person hat eine Einwanderungsgeschichte, wenn sie selbst (erste Generation) oder mindestens ein Elternteil (zweite Generation) nach 1949 nach Deutschland eingewandert ist. Somit beschränkt sich der Bericht nicht auf Personen, die eine deutsche Staatsbürgerschaft haben.
Eingewanderte und ihre Kinder neigen seltener einer Partei zu als Menschen ohne Einwanderungsgeschichte (Abbildung 1). In den 1980er Jahren lag der Unterschied bei rund 20 Prozentpunkten: Etwa 40 Prozent der Menschen mit Einwanderungsgeschichte nannten eine Parteiidentifikation gegenüber 60 Prozent der Menschen ohne Einwanderungsgeschichte. Dieser Abstand ist über die Jahre stabil. Jedoch sinkt in Deutschland, wie in vielen westlichen Demokratien, die parteipolitische Bindung ganz grundsätzlich seit den 1970er Jahren.Russel J. Dalton und Martin P. Wattenberg (2000): Parties without Partisans: Political Change in Advanced Industrial Democracies. Oxford: Oxford Scholarship; Russel J. Dalton (2014): Interpreting Partisan Dealignment in Germany. German Politics 23(1–2), 134–144. So neigten in den letzten zehn Befragungsjahren (2009 bis 2019) nur noch 30 Prozent der Personen mit Einwanderungsgeschichte und 45 Prozent derer ohne Einwanderungsgeschichte einer Partei zu.
Die Parteiidentifikationen in lediglich einer Befragung stellen jedoch nur eine Momentaufnahme dar. Die Wiederholungsbefragung des SOEP erlaubt festzustellen, ob Menschen sich im Laufe ihrer Biografie einer Partei besonders verbunden fühlen. Werden drei aufeinander folgende Befragungsjahre betrachtet, zeigt sich, dass in den 1980er Jahren fast zwei Drittel der Personen mit Einwanderungsgeschichte wenigstens einmal eine Parteiidentifikation angaben. Im Jahr 2019 lag dieser Anteil bei rund 45 Prozent. Etwa die Hälfte der Menschen mit Einwanderungsgeschichte scheint also dauerhaft parteipolitisch ungebunden, im Rest der Bevölkerung liegt dieser Anteil bei etwa einem Drittel.
Um sich mit einer Partei des Einwanderungslandes verbunden zu fühlen, müssen Eingewanderte eigene Erfahrungen mit ihnen sammeln, welche mit der Aufenthaltsdauer zunehmen können. So geben innerhalb der ersten fünf Jahre nach ihrer Einwanderung rund 25 Prozent der Befragten eine erste Parteibindung an (Abbildung 2). Nach etwa 15 Jahren Aufenthalt in Deutschland sind es bereits rund die Hälfte der Befragten, nach 25 Jahren dann rund 58 Prozent.
Geben Personen in der SOEP-Befragung an, dass sie einer Partei langfristig zugeneigt sind, werden sie anschließend gefragt, welche dies ist. Langfristige Trends bei der Bindung zu bestimmten Parteien decken sich zwischen Menschen mit und ohne Einwanderungsgeschichte: Beispielsweise fühlen sich seit den 1990er Jahren in beiden Gruppen immer weniger Menschen der SPD verbunden (Abbildung 3). Gleichzeitig neigen der SPD in den meisten Jahren signifikant häufiger Menschen mit Einwanderungsgeschichte zu als Personen der restlichen Bevölkerung. Genau andersherum ist es bei den Unionsparteien: Eingewanderte und ihre Kinder neigen seltener der CDU/CSU zu als Personen ohne Einwanderungsgeschichte. In den 1980er Jahren waren diese Unterschiede besonders deutlich ausgeprägt: Mit der SPD fühlten sich mehr als die Hälfte der Menschen mit Einwanderungsgeschichte verbunden (53 Prozent), mit den Unionsparteien nur 37 Prozent. Kaum Unterschiede zwischen Menschen mit und ohne Einwanderungsgeschichte zeigen sich in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren: Beide neigen in dieser Zeit sowohl der SPD als auch der CDU/CSU zu jeweils 40 bis 43 Prozent zu. Ab 2005 gingen die Parteibindungen der beiden Gruppen wieder weiter auseinander. Durch die allgemein abnehmende Unterstützung der SPD neigen Menschen mit Einwanderungsgeschichte mittlerweile genauso häufig der CDU/CSU zu wie der SPD: Zwischen 2015 und 2019 gaben je etwa 32 Prozent eine Parteiidentifikation mit der SPD und der CDU/CSU an.
Auch bei den kleineren Parteien im Deutschen Bundestag ähneln sich langfristige Trends der Parteiidentifikation zwischen Menschen mit und ohne Einwanderungsgeschichte (Abbildung 4). Der FDP neigen bis 2004 relativ gesehen weniger Menschen mit Einwanderungsgeschichte zu als Menschen ohne Einwanderungsgeschichte. In beiden Gruppen blieb die Unterstützung jedoch gering: So fühlten sich seit 1984 nie mehr als fünf Prozent der Partei verbunden. Für Bündnis 90/Die Grünen ist es umgekehrt der Fall: Ihr neigten meist mehr Menschen mit Einwanderungsgeschichte zu als Menschen ohne Einwanderungsgeschichte. In den letzten Jahren fühlten sich aber immer mehr Menschen mit wie auch ohne Einwanderungsgeschichte den Grünen verbunden, sodass der Abstand zwischen beiden Gruppen vollständig schmilzt. Die Parteiidentifikation mit den Grünen stieg bei Menschen mit Einwanderungsgeschichte von acht Prozent in den Jahren 1984/1989 auf 16 Prozent in den Jahren 2015/2019. In der restlichen Bevölkerung stiegt sie von sechs Prozent auf ebenfalls 16 Prozent.
Eine Trendwende hat sich bei der Partei Die Linke vollzogen: Während sich der Linken bis 2014 relativ gesehen häufiger Menschen ohne als Menschen mit Einwanderungsgeschichte verbunden fühlten, liegt der Anteil danach erstmals bei Eingewanderten und ihren Kindern höher als in der restlichen Bevölkerung. So stagnierte die Parteiidentifikation von Menschen ohne Einwanderungsgeschichte zur Linken in den letzten zehn Jahren bei sieben Prozent und wuchs unter Menschen mit Einwanderungsgeschichte von fünf auf neun Prozent.
Der 2013 gegründeten AfD fühlen sich seltener Menschen mit Einwanderungsgeschichte (vier Prozent) als Menschen ohne Einwanderungsgeschichte (sechs Prozent) verbunden. Auch hier ist die Parteiidentifikation grundsätzlich auf sehr geringem Niveau.
Die beschriebenen Parteiidentifikationen von Menschen mit Einwanderungsgeschichte zeichnen ein erstes, gleichwohl sehr ungenaues Bild. Denn es werden Menschen aus sehr unterschiedlichen Herkunftsländern, die teilweise sehr unterschiedliche Erfahrungen gemacht haben, zusammengefasst. Werden die Parteibindungen von Personen unterschiedlicher Herkunftsländer miteinander verglichen, zeigen sich sehr ausgeprägte Unterschiede. Menschen mit Einwanderungsgeschichte sind somit in ihrer parteipolitischen Identifikation keineswegs homogen.Für eine vereinfachte Darstellung zeigen wir nur Länder, die von mehr als 100 Befragten im SOEP repräsentiert werden.
Eingewanderte aus Osteuropa und Ländern der ehemaligen Sowjetunion (beispielsweise Kirgistan, Russland und Kasachstan) berichten häufiger eine Bindung zur CDU/CSU (Abbildung 5). Viele von ihnen kamen als SpätaussiedlerInnen insbesondere seit 1990 nach Deutschland und erhielten erleichterten Zugang zur deutschen Staatsbürgerschaft. So sind unter den Wahlberechtigten mit Einwanderungsgeschichte die SpätaussiedlerInnen mit rund einem Drittel (36 Prozent) die größte Wählergruppe.Im Jahr 2019 gab es rund 2,6 Millionen SpätaussiedlerInnen über 18 Jahre. Statistisches Bundesamt (2020): a.a.O.
Personen mit einer eigenen Einwanderungsgeschichte aus Südeuropa und der Türkei neigen eher der SPD zu. Sie gehören vielfach zur Gruppe der Personen, die über die Anwerbung von ArbeitnehmerInnen als sogenannte GastarbeiterInnen zwischen den 1950er und 1970er Jahren nach Westdeutschland einwanderten. Personen, die selbst oder deren Eltern in Anwerbeländern geboren wurden, machten 2019 die größte Gruppe an Personen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland aus.
Die Zuwendung dieser beiden großen und daher aus parteipolitischer Sicht wichtigen Einwanderergruppen zu den Volksparteien war in der Vergangenheit durchaus dynamisch (Abbildung 6 ).Untersucht wurden für diesen Abschnitt zum einen die Parteibindungen von Personen, die aus den wichtigsten Anwerbeländern (Türkei, Jugoslawien beziehungsweise den Nachfolgestaaten, Griechenland, Italien, Spanien, Portugal) bis 1992 selbst einwanderten. Zum anderen wurden die Parteibindungen von Personen untersucht, die aus den Ländern stammen, welche für den Zuzug der SpätaussiedlerInnen am bedeutendsten sind (Rumänien, Polen, Sowjetunion sowie die Nachfolgestaaten Russland, Kasachstan, Kirgistan, Ukraine, Tadschikistan, Usbekistan) und vor 2003 selbst einwanderten. So zeigt sich, dass die Identifikation mit der SPD sowohl bei selbst eingewanderten Personen aus den Anwerbeländern als auch bei Eingewanderten aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion seit 1984 konstant sinkt und somit dem allgemeinen negativen Trend der SPD folgt. In den Jahren 1984 bis 1989 identifizierten sich noch rund 76 Prozent der Eingewanderten aus Anwerbeländern mit der SPD, in den Jahren 2015 bis 2019 waren es rund 20 Prozentpunkte weniger. Umgekehrt steigt die Bindung der Eingewanderten aus Anwerbeländern an die Unionsparteien zwischen 1984 und 2019 von 13 Prozent auf rund 25 Prozent, während die Bindung der Eingewanderten aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion zwischen 1984 und 2004 stieg und dann bis 2019 wieder auf das Niveau von 1984 fällt und somit langfristig stabil scheint.
Personen aus Westeuropa und Nordamerika fühlen sich überproportional mit Bündnis 90/Die Grünen verbunden (Abbildung 7). Insbesondere Personen aus der Schweiz, den Niederlanden oder Österreich repräsentieren die neuere Einwanderung aus Westeuropa.
Personen aus Herkunftsländern, die die Fluchtmigration zwischen 2013 und 2016 prägten, unterstützen überproportional häufig die Regierungsparteien CDU/CSU (Syrien) und SPD (Eritrea, Irak, Afghanistan). Auffällig ist schließlich der hohe Zuspruch der Personen aus Serbien zur Partei Die Linke.
Die Gründe für die unterschiedlich starke und dynamische Bindung gesellschaftlicher Gruppen an die Parteien sind vielfältig. Frühere AuswertungenMartin Kroh und Ingrid Tucci (2009): a.a.O. auf Basis des SOEP sowie die bisherigen Analysen dieses Berichts legen allerdings nahe, dass unabhängig von sozioökonomischen Merkmalen die Zuordnung zu einer bestimmten Einwandererkohorte und -gruppe einen eigenständigen Einfluss auf die Herausbildung einer Parteiidentifikation mit einer bestimmten Partei hat. Die Gründe hierfür können auf Basis des SOEP nicht eindeutig identifiziert werden. Allerdings zeigt sich, dass die Parteien in der Vergangenheit in unterschiedlichem Maße die Interessen der Einwandererkohorten und -gruppen bedient haben.
Es ist beispielsweise naheliegend, dass die Bindung Geflüchteter an die CDU/CSU und SPD als ein Resultat der Flüchtlingspolitik interpretiert werden kann, und der Zuspruch von serbisch-stämmigen Eingewanderten zur Linken auf die kritische Haltung ihrer Vorgängerpartei gegenüber der NATO-Intervention im Jugoslawienkrieg zurückzuführen ist. Die Bindung der SpätaussiedlerInnen zur CDU/CSU kann in ähnlicher Weise als Folge innenpolitischer Entscheidungen der Parteien gesehen werden: Während beispielsweise in der SPD im Jahr 2002 eine Begrenzung des Zuzugs von SpätaussiedlerInnen diskutiert wurde,Von Rimscha (2002): Zuwanderung: SPD will den Zuzug von Spätaussiedlern begrenzen. Der Tagesspiegel (online verfügbar, abgerufen am 20. Mai 2021). gilt die CDU/CSU traditionell als Interessensvertretung dieser Gruppe.Achim Goerres et al. (2018) Immigrant voters against their will: a focus group analysis of identities, political issues and party allegiances among German resettlers during the 2017 bundestag election campaign. Journal of Ethnic and Migration Studies 46(7), 1205–1222. Umgekehrt galt die SPD insbesondere zu Zeiten der Kanzlerschaft von Gerhard Schröder als Befürworter eines Beitritts der Türkei zur EU, während die CDU dies vehement ablehnte.
Dies zeigt: Berücksichtigen Parteien die Interessen von EinwanderInnen und ihren Kindern sowohl in der Außen- als auch in der Innenpolitik können sie potenziell bestimmte Gruppen langfristig an sich binden.
Etwa die Hälfte der Menschen mit eigener oder familiärer Einwanderungsgeschichte in Deutschland steht Parteien des Bundestags dauerhaft distanziert gegenüber. Ihre Bindung an Parteien liegt signifikant niedriger als in der restlichen Bevölkerung und schlägt sich auch in einer deutlich niedrigeren Wahlbeteiligung nieder.Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (2020): Mitten im Spiel – oder nur an der Seitenlinie? Politische Partizipation und zivilgesellschaftliches Engagement von Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland. Studie des SVR-Forschungsbereichs 2020-3 (online verfügbar). Rund die Hälfte gibt aktuell an ungebunden zu sein. Das ist diskussionswürdig, denn eine schwache Identifikation mit Parteien weist auch auf eine mangelnde politische Inklusion in einem zentralen Bereich der politischen Willensbildung hin. Die Befunde dieses Berichts bestätigen somit Befunde von vor rund zehn Jahren,Martin Kroh und Ingrid Tucci (2009): a.a.O. und es wird deutlich, dass die Herausbildung einer Parteiidentifikation und mithin die politische Integration und Inklusion nicht an Dynamik gewonnen hat.
Dabei kann die Parteiidentifikation durch einen leichten Zugang zu Informationen und Erfahrungen mit dem politischen System gestärkt werden. Die Parteien sollten daher Menschen mit Einwanderungsgeschichte noch aktiver ansprechen sowie ihre vielfältigen politischen Interessen stärker berücksichtigen, um sie langfristig als Wählerklientel an sich zu binden.
Auch sollte die Politik aktiv in die politische Bildung investieren, beispielsweise in Integrationskursen oder durch die gezielte Ansprache der Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung.
Die politische Mobilisierung von Menschen mit Einwanderungsgeschichte ist den Parteien bislang unterschiedlich gut gelungen. In der jüngeren Vergangenheit waren insbesondere SPD und Bündnis 90/Die Grünen erfolgreich, zuletzt gelingt es auch der Linken diese Wählergruppe überproportional an sich zu binden.
Allerdings sind die Parteiidentifikationen von Menschen mit Einwanderungsgeschichte keineswegs homogen, sondern spiegeln durchaus die innen- und außenpolitische Verortung der Parteien wider. Für eine gelungene Integration von EinwanderInnen und ihren Kindern ist somit entscheidend, dass Parteien ihre vielfältigen Interessen in die Partei- und Wahlprogramme einbinden. Eine Politik gegen diese Gruppe hingegen birgt das Potenzial, diese wachsende Wählerschaft dauerhaft zu verlieren.
Themen: Migration
JEL-Classification: J15;D72;C33;Z13;P16
Keywords: migrants, political integration, political behavior, SOEP
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2021-28-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/242055