DIW Wochenbericht 36 / 2021, S. 593
Jan Philipp Fritsche, Erich Wittenberg
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Herr Fritsche, Sie haben sich mit der Wirkung von Geldpolitik, insbesondere von Zinsänderungen, auf die Lohn- und Gehaltszahlungen und die Wertschöpfung in arbeitsintensiven Unternehmen beschäftigt. Können Sie diesen Zusammenhang und den Fokus Ihrer Studie kurz erklären? Unsere Untersuchung betrachtet die Lohnquote, also das Verhältnis von Einkommen aus Arbeit zum Gesamteinkommen in der Volkswirtschaft. Die Lohnquote wird als Verteilungsindikator interpretiert und unsere Studie stellt fest, dass Zinserhöhungen zu einem Rückgang der Lohnquote führen. Dieser Effekt ist besonders stark in Unternehmen, die viel Arbeit zur Produktion einsetzen. Das wären beispielsweise Beratungsunternehmen. Dort wird infolge einer Zinserhöhung besonders viel Wertschöpfung von ArbeitnehmerInnen zu den EigentümerInnen umverteilt. Um dies einzuordnen: Die Europäische Zentralbank (EZB) hat das Mandat der Preisstabilität. Sie versucht, die Inflationsraten gering zu halten, damit unser Einkommen nicht von Preiserhöhungen entwertet wird. In einem Umfeld von steigenden Preisen erhöht die EZB die Leitzinsen, um die Konjunktur und Preisdynamik zu bremsen. Wenn die EZB versucht, unser Einkommen durch Zinsänderungen stabil zu halten, gleichzeitig aber ein Effekt auftritt, der Arbeitseinkommen zu Eigentumseinkommen umverteilt, müssen diese Effekte gegeneinander abgewogen werden.
Warum trennen sich Unternehmen von MitarbeiterInnen, wenn die EZB den Leitzins erhöht? Wenn die EZB die Zinsen erhöht, führt das grundsätzlich zu einer geringeren Nachfrage. Das bedeutet, dass zum Beispiel eine Beratungsfirma darauf verzichtet, Bonuszahlungen zu zahlen oder sich möglicherweise von MitarbeiterInnen trennt oder zumindest keine neuen einstellt, da sie die Erwartung hat, dass sie mit einer geringeren Nachfrage konfrontiert ist. Bei Unternehmen, die tendenziell weniger Arbeit in ihrer Produktion einsetzen, fällt dieser Effekt nicht so stark aus. Es gibt aber eine Ausnahme: Dies sind Unternehmen, die sehr fremdkapitalintensiv produzieren. Hier kommt es ebenfalls zu einem starken Rückgang der Lohnquote.
Warum spricht man dabei von einer Umverteilung? Der wesentliche Teil der Bevölkerung bezieht sein Einkommen aus Löhnen und Gehältern. Wenn diese stärker sinken als die Wertschöpfung, dann hat ein Großteil der Bevölkerung mehr verloren als ein anderer Teil der Bevölkerung, nämlich die AnteilseignerInnen der Unternehmen. Das ist ein relativer Umverteilungseffekt.
Arbeitsintensive und nicht-arbeitsintensive Unternehmen sind in Europa ungleich verteilt. Was bedeutet das für die Lenkungswirkung der Geldpolitik im Euroraum? Wie sich die Lohnquote im Euroraum nach einer Zinsänderung anpasst, fällt sehr unterschiedlich aus, weil die arbeitsintensiven Unternehmen in den verschiedenen Ländern unterschiedlich verteilt sind. Das bedeutet, dass zum Beispiel in Frankreich der Effekt der Geldpolitik viel stärker ist als in Spanien oder Portugal, und das führt zu einer Asymmetrie. Damit kann es sein, dass die Geldpolitik die Inflationsraten in Frankreich besser in den Griff bekommt als in Spanien, weil sie in Frankreich einen stärkeren Effekt hat.
Was könnte eine Lösung für dieses Problem sein? Eine Lösung wären gezieltere geldpolitische Instrumente, die direkt auf Haushalte und Unternehmen wirken. Diese könnten den Verteilungseffekt und auch die Asymmetrie lindern. Ebenso wäre eine Integration des europäischen Arbeitsmarktes und der europäischen Arbeitsmarktinstitutionen wünschenswert.
Das Gespräch führte Erich Wittenberg.
Themen: Unternehmen, Geldpolitik, Europa, Arbeit und Beschäftigung
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2021-36-2
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/245807