DIW Wochenbericht 47 / 2021, S. 775
Christian von Hirschhausen, Erich Wittenberg
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Herr von Hirschhausen, 2022 sollen in Deutschland die letzten der sechs noch laufenden Kernkraftwerke abgeschaltet werden. Was bedeutet das für die Versorgungssicherheit Deutschland? Wir haben die energiewirtschaftlichen Effekte dieser Abschaltungen analysiert und ermittelt, dass sich zwar leichte Verschiebungen von Stromflüssen ergeben, diese aber im geringfügigen Bereich sind. Damit ist die Versorgungssicherheit kurz- und auch langfristig nicht gefährdet. Voraussetzung ist, dass wir den Ausbau der Erneuerbaren in Verbindung mit Flexibilitätsoptionen, wie zum Beispiel Speicher oder auch Power-to-Gas-Anlagen, beschleunigen.
Inwieweit ist mit einem Anstieg der CO2-Emissionen zu rechnen, wenn der Atomstrom gänzlich wegfällt? Die Strommenge der sechs verbleibenden Kernkraftwerke beträgt etwa 60 Terawattstunden. Wir haben modellbasiert ermittelt, dass der Ersatz in Deutschland sowie geringfügig ansteigende Importe im Jahr 2023 zu einem Anstieg der CO2-Emissionen von etwa 40 Millionen Tonnen führen. Das ist nicht gut, es ist aber vor dem Hintergrund der Gefährlichkeit von Kernkraft hinzunehmen.
Ist der Anstieg der CO2-Emissionen nur ein vorübergehender Effekt? Es handelt sich eindeutig um einen kurzfristigen Effekt, wenn die Reduktion der CO2-Emissionen durch die Beschleunigung des Ausbaus der Erneuerbaren in Verbindung mit Flexibilitätsoptionen fortgesetzt wird. Wichtig ist hierbei nicht nur die Beschleunigung des Kohleausstiegs, sondern auch die Beschleunigung des Erdgasausstiegs. Wir müssen aus fossilem Erdgas genauso aussteigen wie aus der Kohle, wenn wir die Klimaschutzziele in Deutschland, in Europa oder weltweit einhalten möchten.
Dennoch haben Kernkraftwerke noch immer Fürsprecher und teilweise werden neue Konzepte vorgeschlagen. Kann eine moderne Kernkraft doch eine Option im Kampf gegen die Klimakrise sein? Kernkraft kann für die Bekämpfung der Klimakrise weder im aktuellen Technologiestadium noch in einem zurzeit in der Grundlagenforschung stehenden Technologiestadium relevant sein. Kurzfristig sind die bestehenden Kraftwerke der sogenannten Generation drei plus zu teuer und auch ihre Planung würde sehr lange dauern. Vor 2050 stünden sie praktisch nicht bereit. Die derzeit diskutierten SMR-Konzepte oder sogenannte neuartige Reaktoren sind für die gegenwärtige Klimakrise irrelevant, weil wir hier von Forschungs-, Umsetzungs- und Produktionszyklen von zwei bis drei Jahrzehnten sprechen, eventuell sogar länger.
Könnte es sein, dass die Kernkraft weiter subventioniert wird? Zurzeit läuft ein Verfahren zur EU-Taxonomie, bei der die Europäische Kommission einen Vorschlag entwickeln wird, welche Technologien im Rahmen des europäischen Green Deals als nachhaltig gelten. Frankreich und einige osteuropäische Länder versuchen, Kernkraft dort als nachhaltig deklarieren zu lassen. Deutschland hat sich dem Versuch, fossiles Erdgas auch als nachhaltig zu deklarieren, noch nicht widersetzt, was konträr ist zu den Klimaschutzzielen und zur bisherigen Meinung der Bundesregierung.
Was bedeutet der Verzicht auf Kernenergie für die Endlagersuche? Die Beendigung der kommerziellen Nutzung der Kernenergie ist eine Bedingung für die Akzeptanz der Endlagersuche. Das hat das Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, das sogenannte BASE, schon vor 20 Jahren festgestellt und das gilt heute genauso. Das Ende der kommerziellen Kernenergie ist existenzieller Bestandteil der Energiewende und es ist völlig undenkbar, dass wir in zehn Jahren in die Regionen gehen und einen Endlagerstandort festlegen, ohne die Abfallmenge gedeckelt zu haben.
Das Gespräch führte Erich Wittenberg.
Themen: Klimapolitik, Europa, Energiewirtschaft
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2021-47-2
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/248535