DIW Wochenbericht 49 / 2021, S. 795-802
Geraldine Dany-Knedlik, Andrea Papadia
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„Würde selbstgenutztes Wohnen berücksichtigt, wäre die ausgewiesene Inflation höher und die Entscheidungsgrundlage für die EZB genauer. Eine grundlegend andere Geldpolitik hätten wir aber wohl nicht gesehen.“ Geraldine Dany-Knedlik
Die Kosten für selbst genutztes Wohneigentum stellen einen beachtlichen Ausgabeposten für die privaten Haushalte dar. Steigen sie, steigt auch die gefühlte Inflation. In der Inflationsmessung der EZB spielen sie für den Euroraum bisher aber keine Rolle. Dies ist aus zwei Gründen problematisch: Zum einen stützt die Geldpolitik im Euroraum sich somit nicht auf eine umfassende Abbildung der Preisentwicklung. Zum anderen können sich die von den Haushalten wahrgenommene und die von offizieller Seite berichtete Preissteigerungsrate deutlich voneinander unterscheiden. Künftig will die EZB den harmonisierten Verbraucherpreisindex deshalb um die Kosten für selbstgenutztes Wohneigentum erweitern. Dazu müssen einige konzeptionelle und praktische Probleme gelöst werden. Erste Schätzungen deuten darauf hin, dass eine stärkere Berücksichtigung dieser Kosten die Inflationsrate zwar erhöht, bisher aber wohl kaum Auswirkungen auf die geldpolitischen Entscheidungen gehabt hätte. Vor allem für Deutschland wäre der Effekt aufgrund der niedrigen Wohneigentumsquote wohl gering gewesen. Er hätte aber zumindest teilweise erklären können, warum die von den Haushalten gefühlte Inflation in den vergangenen Jahren deutlich über der offiziellen Preissteigerungsrate gelegen haben dürfte. Die Berücksichtigung dieser Kosten – und somit die Annäherung von gefühlter und tatsächlicher Inflation – könnte helfen, die Glaubwürdigkeit der EZB und ihrer Politik zu stützen.
Kosten für Wohnen machen für viele Haushalte einen großen Teil der Ausgaben aus. Dies ist auch der Fall, wenn der Wohnraum nicht gemietet wird, sondern in eigenem Besitz steht. Nehmen die Kosten für Wohnen zu, spüren Menschen Inflation. Das Maß für die Preisentwicklung der Konsumgüter im Warenkorb des durchschnittlichen Haushalts ist der Harmonisierte Verbraucherpreiseindex (HVPI) in den die Güterpreise entsprechend ihrer Ausgabenanteile eingehen. Für Wohnen werden dabei bisher nur die laufenden Kosten wie Mieten und Instandhaltung, kleinere Reparaturen sowie andere wiederkehrende Ausgabeposten für selbstgenutztes Wohneigentum erfasst; die Wohnkosten sind damit deutlich unterrepräsentiert. Dies soll sich ändern. Die Europäische Zentralbank (EZB) hat angekündigt, dass künftig darüberhinausgehende mit dem Erwerb von selbstgenutztem Wohneigentum verbundene Kosten, im HVPI abgebildet werden sollen.ECB Strategieüberprüfung 2021 (online verfügbar; abgerufen am 15.11.2021. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt).
Die Kosten selbstgenutzten Wohneigentums (KSW) in den HVPI einzubeziehen, ist nicht unproblematisch. Ein Verbraucherpreisindex misst – wie der Name es sagt – die Entwicklung der Verbrauchpreise. Im Gegensatz zu gemietetem Wohnraum besteht bei selbstgenutztem Wohnraum aber nicht nur ein Konsummotiv, sondern auch ein Investitionsmotiv. Das Mandat der EZB, Preisstabilität zu gewährleisten, richtet sich allein auf die Entwicklung der Konsumentenpreise, Kosten für Vermögensbildung sollten hier keine Rolle spielen. Hinzu kommt, dass die auf Konsum und Vermögen entfallenden Kostenanteile nicht direkt beobachtbar sind und bislang auch nicht separat gemessen werden. Das soll sich nun ändern. Für die Geldpolitik ist von Belang, inwieweit eine Berücksichtigung der KSW das Inflationsbild im Euroraum wie auch in den einzelnen Euroraumländern ändern würde. Die bisherige Vorgehensweise dürfte zu einer Unterschätzung der Inflation geführt haben.
Dabei ist allerdings bislang noch nicht entschieden, welche Methodik angewendet werden soll. Zudem bedarf es zur Umsetzung nicht nur den Arbeitseinsatz und die Zustimmung der europäischen Notenbank. Vielmehr müssen für eine formale Einführung eines HVPI mit selbstgenutztem Wohneigentum europäische und nationale statistische Ämter die Umstellung tragen und das europäische Regelwerk muss angepasst werden.
Dieser Bericht diskutiert die praktischen und konzeptionellen Herausforderungen sowie die verschiedenen Messmethoden.Dieser Wochenbericht basiert teilweise auf Geraldine Dany-Knedlik und Andrea Papadia (2021): Owner-Occupied Housing Costs and Monetary Policy: Goals and Challenges for the Euro Area. Publication for the committee on Economic and Monetary Affairs, Policy Department for Economic, Scientific and Quality of Life Policies, European Parliament, Luxembourg. Vor allem aber werden die Effekte der Berücksichtigung von Wohnkosten im HVPI für den Euroraum insgesamt und die fünf größten Euroraumländer – darunter Deutschland – seit dem Jahr 2010 berechnet. Die Frage ist, ob eine Einbeziehung Auswirkungen auf die europäische Geldpolitik gehabt hätte beziehungsweise in Zukunft haben wird.
Bereits im Jahr 2016 wurde die Relevanz der Einbeziehung von Wohnkosten selbstgenutzten Eigentums in den HVPI festgestellt.Artikel 10, Verordnung (EU) 2016/792 (online verfügbar). Eurostat stellte daraufhin – in Zusammenarbeit mit den nationalen statistischen Ämtern – einen Preisindex für selbstgenutztes Wohneigentum (owner-occupied house price index – OOHPI) rückwirkend ab dem Jahr 2010 auf vierteljährlicher Basis bereit. Die Europäische Kommission lehnte eine Einbeziehung des OOHPI-Preisindex in den HVPI jedoch ab.European Commission (2018): Report from the Commission to the European Parliament and The Council on the Suitability of the Owner-Occupied Housing (OOH) Price Index for Integration into the Harmonised Index of Consumer Prices (HICP) Coverage, COM (2018) 768 final, (online verfügbar). Für die aktuelle Gesetzgebung zur Messung von KSW siehe Verordnung (EU) 2016/792, Durchführungsverordnung der European Commission (2020): Durchführungsverordnung (EU) 2020/1148 der Kommission vom 31. Juli 2020 zur Festlegung der methodischen und technischen Spezifikationen gemäß der Verordnung (EU) 2016/792 des Europäischen Parlaments und des Rates im Hinblick auf harmonisierte Verbraucherpreisindizes und den Hauspreisindex (online verfügbar).
Es gibt zwei Gründe für die derzeitige Nichtberücksichtigung. Der erste ist konzeptioneller Natur: Für den Erwerb von Wohneigentum spielt nicht nur das Konsummotiv – Wohnen – eine Rolle, sondern auch ein Investitionsmotiv. Letzteres sollte für einen KSW-Index zur Aufnahme in den HVPI unberücksichtigt bleiben. Welche Teile der Wohnkosten dem Konsum und welche den Investitionen zuzurechnen sind, lässt sich für die Erhebung der KSW jedoch nicht direkt getrennt beobachten. Nach der derzeitigen Rechtslage dürfen bei der Berechnung des HVPI nur solche Entwicklungen berücksichtigt werden, die auf tatsächlichen monetären Transaktionen beruhen.Artikel 3 Absatz 3, Verordnung (EU) 2016/792. Auf eine rechnerische Aufschlüsselung der konsumtiven und investiven Wohnkosten für selbstgenutztes Eigentum, wie sie derzeit von Eurostat für den OOHPI verwendet wird, kann daher nicht zurückgegriffen werden. Aus dem gleichen Grund können KSW-Indizes, die auf alternativen Methoden zur rechnerischen Aufschlüsselung beruhen – z.B. dem in den USA verwendeten MietäquivalentansatzU.S. Bureau of Labor Statistics (2020): Handbook of Methods: Consumer Price Index (online verfügbar). – ebenfalls nicht in den HVPI integriert werden. Sollen die KSW in den Verbraucherpreisindex einbezogen werden, ist eine Änderung des rechtlichen Rahmens für den HVPI notwendig.Dany-Knedlik und Papadia (2021), a.a.O.; ECB (2021): Inflation Measurement and its Assessment in the ECB’s Monetary Policy Strategy Review. Occasional Paper Series No 265/September (online verfügbar).
Der zweite Grund für die bisherige Nichtberücksichtigung der KSW im HVPI ist praktischer Natur. Der HVPI wird derzeit am Monatsende als Schnellschätzung und 15 Tage später detailliert für die abgebildeten Produktgruppen veröffentlicht. Dies ist entscheidend für die zeitnahe Überwachung der Inflationsentwicklung durch die EZB und, falls erforderlich, eine Anpassung der Geldpolitik. Der OOHPI wird derzeit aber nur vierteljährlich erstellt und erst 100 Tage nach Ende des Quartals veröffentlicht. Damit ist er für die zeitnahe Anpassung der Geldpolitik nicht geeignet.
Die EZB hat nun einen FahrplanECB (2021), a.a.O. vorgelegt, an dessen Ende die Einbeziehung der KSW in den HVPI stehen soll. Dieser Fahrplan berücksichtigt eine Vielzahl von organisatorischen, statistischen, rechtlichen und kommunikativen Änderungen, die dazu notwendig sind. Neben der EZB müssen weitere wichtige Akteure einbezogen werden: Eurostat, die nationalen statistischen Ämter, die Zentralbanken und das Europäische Parlament. Ziel ist es, ab dem Jahr 2026 oder 2027 einen vierteiljährlichen offiziellen HVPI-Index einschließlich Wohnkosten (HVPI-H) zu veröffentlichen. Methodisch wird die Berechnung voraussichtlich auf der Grundlage des Nettoerwerbs oder des Mietäquivalents erfolgen. Ein HVPI-H für den internen Gebrauch der EZB dürfte bereits im Jahr 2022 erscheinen und könnte schon ab diesem Zeitpunkt als ein wichtiger Indikator in die gelpolitische Entscheidung einfließen. Langfristig möchte die EZB Verbesserungen in Bezug auf Methodik und Aktualität sowie die Möglichkeit prüfen, schließlich einen monatlichen Index bereitzustellen.
Es gibt drei verschiedene Ansätze zur Messung der Kosten für selbstgenutztes Wohneigentum, die sowohl Vor- als auch Nachteile haben. Jeder Ansatz geht die konzeptionellen Herausforderungen bei der Erstellung eines für die Aufnahme in einen Preisindex geeigneten Maßes für KSW auf unterschiedliche Weise an.Walter E. Diewert (2004): The Treatment of Owner Occupied Housing and Other Durables in a Consumer Price, CRIW Conference on Price Index Concepts and Measurement (online verfügbar); Eurostat (2017): Technical Manual on Owner-Occupied Housing and House Price Indices (online verfügbar); Robert J. Hill, Miriam Steurer und Sofie R. Waltl (2018): Owner Occupied Housing in the CPI and its Impact on Monetary Policy During Housing Booms and Busts, LISER Working Paper 2018-05 (online verfügbar); Robert J. Hill, Miriam Steurer und Sofie R. Waltl (2020): Owner Occupied Housing, Inflation and Monetary Policy, Graz Economic Paper 2020-18 (online verfügbar).
Der Nettoerwerbsansatz beruht auf tatsächlich angefallenen Kosten für Wohndienstleistungen, allerdings beinhalten diese einen Konsum- und einen Investitionsanteil. Letzteres ist mit den Anforderungen des HVPI, nur die Konsumausgaben abzubilden, nicht vereinbar, kann nicht direkt beobachtet und somit nicht abgezogen werden. Selbst wenn man sich auf die grobe, aber allgemein akzeptierte Annahme verlassen würde, dass der Erwerb von Grundstücken den Investitionsanteil der Wohnungstransaktionen darstellt, während die Wohnausstattung die Konsumkomponente abbildet, müsste dennoch eine statistische Bereinigung um die Grundstückskomponente vorgenommen werden. Ein solcher Ansatz ist jedoch mit dem oben genannten HVPI-Rechtsrahmen nicht vereinbar. Dieser sieht vor, dass bei seiner Erstellung nur tatsächliche Geldtransaktionen verwendet werden dürfen. Der Vorteil des Nettoerwerbsansatz liegt allerdings darin, dass er auch für andere langlebige Konsumgüter wie Autos und Waschmaschinen verwendet wird, die im HVPI enthalten sind. Eine Verwendung dieses Ansatzes würde zur Konsistenz zwischen den verschiedenen im Verbraucherkorb enthaltenen Produktgruppen beitragen.
Mit dem Mietäquivalenzansatz werden hypothetische Mieten für selbstgenutztes Wohneigentum errechnet. Dafür werden entweder Ist-Mieten und Wohnungsmerkmale wie Größe, Lage, Anzahl der Zimmer herangezogen oder Befragungen der EigentümerInnen, welche Miete sie ihrer Meinung nach für die Wohnung zahlen müssten. Der Hauptvorteil dieses Ansatzes liegt in seiner Vereinbarkeit mit der Behandlung der Kosten für nicht selbstgenutztes Wohneigentum. Problematisch können hingegen die Größe und Struktur der Mietmärkte sein. Beispielsweise kann eine weit verbreitete Mietpreisbindung dazu führen, dass die Mietpreise den tatsächlichen Wert der durch die Miete gemessenen Wohnungsdienstleistungen nicht mehr repräsentieren. Ein kleiner Mietmarkt ist wiederum möglicherweise nicht repräsentativ genug, um Eigentumswohnungen genau abzubilden. Auch kann es durch den Einsatz von Eigentümerbefragungen zu Über- oder Unterbewertungen kommen, da EigentümerInnen bestimmte Eigenschaften ihrer Wohnung anders bewerten als MieterInnen oder nicht ausreichend über den Mietmarkt informiert sind. Zudem basiert auch dieser Ansatz nicht auf tatsächlichen Geldtransaktionen, so dass die Aufnahme eines solchen Index in den HVPI wiederum rechtliche Änderungen des HVIP-Rahmens erfordern würde.
Der Nutzerkostenansatz zielt darauf ab, die Kosten selbstgenutzten Wohneigentums zu messen, indem sämtliche Ausgaben im Zusammenhang mit Wohnen erfasst werden. Dazu gehören Reparaturen und Wartung, Versicherungen, Anschaffungs- und Baugebühren, Hypothekenzinsen, Abschreibungen und Opportunitätskosten alternativer Anlagen. Darüber hinaus versucht dieser Ansatz, den Investitionsanteil an den Wohnimmobilienkosten durch den Abzug von Kapitalgewinnen (d.h. Wertsteigerungen von Wohnimmobilien) zu bestimmen.
Der Hauptvorteil dieses Ansatzes ist, dass die Wohnkosten umfassend einbezogen werden. Eine Gemeinsamkeit mit den anderen Ansätzen in Bezug auf den HVPI-Rechtsrahmen besteht darin, dass einige der im Nutzerkostenansatz enthaltenen Posten nicht direkt beobachtbar sind.
Für die letztendliche Aufnahme in den HVPI scheidet die mit dem Nutzerkostenansatz ermittelte Preisentwicklung allerdings aufgrund konzeptioneller Widersprüche mit dem EZB-Mandat aus. So werden die berücksichtigten Hypothekenzahlungen von den vorherrschenden Zinssätzen beeinflusst, die wiederum ein Schlüsselinstrument der Zentralbanken zur Beeinflussung der Inflation sind. Eine Einbeziehung dieser Kosten in den HVPI würde die Instrumente der Geldpolitik (Zinssätze) mit ihren Zielvorgaben (Preise) verschmelzen und sie somit nur eingeschränkt nutzbar machen. Die Einbeziehung von Finanzierungskosten für den Wohnungskauf (d.h. Hypothekenzahlungen) würde auch eine Ungleichbehandlung zu anderen Gütern bedeuten, bei denen die Kreditkosten für den Erwerb nicht berücksichtigt werden.
In den meisten fortgeschrittenen Volkswirtschaften sind die Kosten für selbstgenutztes Wohneigentum in den jeweiligen geldpolitisch relevanten Verbraucherpreisindizes enthalten. Einigkeit über die Erhebungsmethode der KSW-Indizes gibt es allerdings nicht. So wird in den USA, Japan, Tschechien und der Schweiz der Mietäquivalenzansatz herangezogen. Der Nettoerwerbsansatz wird in Australien und Neuseeland verwendet, während in Kanada, Island und Schweden auf den Nutzerkostenansatz zurückgegriffen wird.Das Vereinigte Königreich schließt die KSW aus seinem Verbraucherpreisindex (VPI) zwar aus, veröffentlicht aber eine separate Version des VPI, die die Kosten für selbstgenutztes Wohneigentum enthält. Office for National Statistics (2020): Measures of owner occupiers' housing costs, UK: January to March 2020 (online verfügbar).
Die Gewichte, die die Wohnkosten in den Verbraucherpreisindizes der verschiedenen Länder haben, lassen vermuten, dass eine Nichtberücksichtigung der Wohnkosten selbstgenutzten Wohneigentums zu einer deutlichen Unterschätzung der Teuerung im Euroraum führt. Der Warenkorbanteil der Wohnkosten im Euroraum liegt nach der gegenwärtigen Berechnungsmethode, also nur die Mietkosten sowie Kosten für Instandhaltung und Reparaturen, bei unter zehn Prozent; im internationalen Durchschnitt betragen die Wohnkosten für selbstgenutztes Wohneigentum, Mieten sowie Kosten für Instandhaltung und Reparaturen hingegen etwa 20 Prozent.Für die internationale Vergleichbarkeit konnten die Kosten für Wasser, Beheizung und Elektrizität nicht berücksichtigt werden. So liegt der Warenkorbanteil der Wohnkosten in Japan bei ungefähr 30 Prozent, in den USA bei knapp 20 Prozent und in Kanada bei 35 Prozent.Vgl. Franziska Bremus, Geraldine Dany-Knedlik und Thore Schlaak (2020): Preisstabilität und Klimarisiken: Was im Rahmen der Strategierevision der Europäischen Zentralbank sinnvoll ist, DIW-Wochenbericht Nr. 12 238-245 (online verfügbar). Allerdings sind nicht alle diese Unterschiede auf die Nichtberücksichtigung der KSW zurückzuführen; die von Land zu Land unterschiedlichen Verbrauchsmuster führen ebenfalls zu Unterschieden in der Zusammensetzung des Warenkorbs.
Die derzeitige Berücksichtigung allein der Mietkosten im HVPI bildet für Länder mit niedriger Wohneigentumsquote, wie Deutschland, eine gute Annäherung an die Wohnkosten. In Ländern, in denen ein großer Teil der Haushalte in einer eigenen Immobilie wohnt, wird die Preisentwicklung hingegen deutlich unterschätzt, wenn lediglich Instandhaltung, kleinere Reparaturen und andere Betriebskosten wie Wasser, Strom, Gas und andere Brennstoffe erfasst werden. Insgesamt bewegt sich die jährliche Inflation der HVPI-Wohnungskomponente eng an der HVPI-Inflation insgesamt, ist aber volatiler (Abbildung 1). Dies ist jedoch auf die laufenden Wohnkosten zurückzuführen, die die Auf- und Abschwünge der Rohstoffpreise, wie z.B. des Erdgaspreises, widerspiegeln. Die Inflation der Wohnungskosten ohne die laufenden Kosten entwickelt sich viel allmählicher.
Der von Eurostat veröffentlichte vierteljährliche OOHPI zeigt, dass die Wohnkosten des selbstgenutzten Wohneigentums deutlich stärker fluktuieren als die Wohnkostenkomponente im aktuellen HVPI (Abbildung 2). So sind ab 2012 länderübergreifend die KSW bis 2014 gesunken und danach wieder gestiegen. Insbesondere für Spanien und die Niederlande sind große Schwankungen zu verzeichnen.
Für die Geldpolitik ist entscheidend, ob die Änderungen des HVPI aufgrund der Einbeziehung der KSW zu erheblichen Änderungen des Inflationsbildes führen. Zur Abschätzung dieses Effektes werden die HVPIs im EuroraumDiese Studie bezieht sich auf den Euroraum ohne Litauen. und die HVPIs in den fünf größten Volkswirtschaften der Währungsunion um die von Eurostat erstellten OOHPI erweitert. Dabei wird zunächst das Gewicht der Wohnkostenkomponente im HVPI um die KSW-Komponente angepasst. Hierfür werden die Erhebungen über die Wirtschaftsrechnungen der privaten Haushalte für die Jahre 2010 und 2015 von Eurostat herangezogen.Daten auf der Webseite von Eurostat (online verfügbar). Diese enthalten Angaben zu den Anteilen der tatsächlichen Mietausgaben sowie der hypothetischen Mietausgaben für selbstgenutztes Wohneigentum. Letztere werden jeweils für die Jahre 2010 bis 2021 linear extrapoliert und als zusätzliches Gut in den HVPI Warenkorb aufgenommen. Der HVPI spiegelt die Veränderungen der Preise eines Warenkorbs von Waren und Dienstleistungen wider. Diese erhalten im Index ein unterschiedliches Gewicht, um die tatsächlichen Verbraucherausgaben so weit wie möglich abzubilden. Da sich diese Gewichte zu eins addieren, erfordert die Einführung eines weiteren Gutes die Verringerung des Gewichts anderer Positionen. Für die vorliegenden Berechnung wurden dementsprechend die Gewichte der anderen Posten proportional zu ihrem ursprünglichen Gewicht verringert.Weitere Informationen darüber, wie der HVPI erstellt wird, sind erhältlich unter: Eurostat, Statistics Explained, HICP Methodology (online verfügbar).
Ein Vergleich der tatsächlichen Gewichtung der Wohnkostenkomponente mit der um das selbstgenutzte Wohneigentum erweiterten Gewichtung zeigt, dass die Wohnkostenanteile deutlich steigen (Abbildung 3). So nehmen die Anteile im Euroraum und in den einzelnen Ländern mit knapp einem Drittel zu. Am höchsten sind die Zuwächse für Italien und Spanien, für die sich die Ausgabenanteile für Wohnraum mehr als verdoppeln. Hingegen steigen die Wohnkostenanteile in Deutschland am geringsten – um rund zehn Prozentpunkte.
Anhand der angepassten Warenkorbgewichtung werden schließlich um die Kosten des selbstgenutzten Wohneigentums erweiterte HVPIs (HVPI-H) berechnet. Ein Vergleich der Verläufe der HVPIs und HVPI-Hs zeigt, dass für den Euroraum und die einzelnen Länder die Differenz relativ gering ausfällt (Abbildung 4).
Im Durchschnitt tragen die KSW mit 0,27 Prozentpunkten zu der Euroraum-Inflation bei, wobei die Inflation durch die OOHPI-Komponente von 2010 bis 2014 um 0,22 Prozentpunkte niedriger und zwischen 2015 bis 2021 um 0,29 Prozentpunkte höher lag (Tabelle). Den größten Effekt – mit einer absoluten Abweichung von 0,9 und 0,67 Prozentpunkten – hat die Einbeziehung der KSW auf die Inflationsraten in Spanien und in den Niederlanden. Die Änderung des HVPIs in Deutschland ist hingegen in etwa so hoch wie im Euroraum.
In Prozentpunkten
2011–2014 | 2015–2021 (bis einschl. Juni) | 2010–2021 (in Betrag) | |
---|---|---|---|
Euroraum | −0,22 | 0,29 | 0,27 |
Deutschland | 0,06 | 0,34 | 0,24 |
Spanien | −1,19 | 0,68 | 0,90 |
Frankreich | −0,12 | 0,11 | 0,16 |
Italien | −0,32 | 0,03 | 0,21 |
Niederlande | −0,70 | 0,65 | 0,67 |
Quelle: Eurostat, eigene Berechnungen.
Für den Euroraum ergeben sich ähnlich große Effekte wie sie interne Berechnungen der EZB nahelegen. Sie kommt zu dem Schluss, dass die Einbeziehung der KSW für den Zeitraum 2018 bis 2020 die Inflationsrate des Euroraums im Durchschnitt um 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte erhöht hätte. Einschätzungen für einzelne Länder liegen von Seiten der EZB nicht vor.EZB (2021), ECB (2016): Economic Bulletin, Issue 8 (online verfügbar).
Die EZB hat seit der großen Finanzkrise 2007 bis 2008 Schwierigkeiten, ihr Inflationsziel von zwei Prozent zu erreichen. Die Berechnungen zeigen, dass eine Berücksichtigung der Kosten selbstgenutzten Wohneigentums die Inflation im Euroraum durchaus angehoben hätte. So hätte die durchschnittliche Inflationsrate seit 2015 bis zum Juli dieses Jahres 1,2 anstatt 0,9 Prozentpunkte betragen. Allerdings sind diese quantitativen Effekte zu gering, um das Inflationsbild der Währungsunion grundlegend zu ändern, denn auch unter Einbeziehung der KSW hätte die EZB ihr Inflationsziel verfehlt und wohl die gleichen geldpolitischen Entscheidungen getroffen. Im Ländervergleich fällt auf, dass gerade für die deutsche Inflation die Effekte der KSW vergleichsweise gering ausfallen, was teilweise auf die geringe Wohneigentumsquote zurückzuführen ist (siehe unten). Am aktuellen Rand zeigen sich für Deutschland allerdings deutliche Unterschiede zwischen dem HVPI und dem HVPI-H. Dies lässt sich auf den starken Anstieg der Kosten für selbstgenutztes Wohneigentum, insbesondere wegen der derzeitigen Materialknappheiten bei Renovierungen und Instandhaltungen sowohl für existierendem Wohnraum als auch für Neubauten, zurückführen.
Zwar hat die Einbeziehung der KSW quantitativ einen geringen Effekt für den Euroraum insgesamt, für die einzelnen Länder zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede, sowohl in der Entwicklung als auch in der Höhe. Diese Unterschiede dürften durch zwei Faktoren erklärt werden: die nationale Wohnungsmarktstruktur und die entsprechende Wohnraumpreisentwicklung. Zum einen sind Länder mit einer relativ hohen Wohneigentumsquote stärker von der Berücksichtigung der KSW im Verbraucherpreisindex betroffen. Zum anderen fluktuieren auch die Kosten für selbstgenutztes Wohneigentum in einigen Ländern deutlich stärker als in anderen.
Werden die Wohneigentumsquoten in den einzelnen Ländern des Euroraums betrachtet, zeigt sich, dass die nationalen Wohnungsmärkte deutliche Unterschiede aufweisen (Abbildung 5). Vor allem Deutschland und Frankreich verzeichnen mit rund 46 und 57 Prozent recht geringe Wohneigentumsquoten im Vergleich zum Euroraumdurchschnitt, der bei rund 75 Prozent liegt. Spanien liegt mit 78 Prozent leicht über dem Durchschnitt der Währungsunion.
Um den Erklärungsbeitrag der Unterschiede in den Wohnungsmärkten und der Wohneigentumspreise auf die um die KSW erweiterten Inflationsraten abzuleiten, werden die länderspezifischen Abweichungen der Wohneigentumsquoten und die Standardabweichung der KSW-Inflationsraten vom jeweiligen Euroraumdurchschnitt einander gegenübergestellt (Abbildung 6). Es zeigt sich, dass die Einbeziehung der KSW für die spanische und niederländische Inflationsrate aufgrund von starken Fluktuationen der Kosten des selbstgenutzten Wohneigentums einen größeren Einfluss hat. Die geringe Auswirkung der Berücksichtigung der OOHPI-Komponente in den HVPI für Frankreich und vor allem für Deutschland ist besonders durch den relativ geringen Anteil des Wohneigentums zu erklären.
Da für die meisten Haushalte die Ausgaben für Wohnen einen erheblichen Anteil ihrer Ausgaben darstellen, ist es umso wichtiger diese Ausgabenkomponente und deren Preisänderungen auch im Inflationsmaß zu berücksichtigen. Wenn die gefühlte Preisentwicklung von den Verlautbarungen der Notenbank abweicht, kann dies zu Lasten ihrer Glaubwürdigkeit gehen.
Die Einbeziehung der Kosten des selbstgenutzten Wohneigentums in den HVPI ist nicht nur wünschenswert, sie wird von den meisten Zentralbanken anderer fortgeschrittener Volkswirtschaften bereits umgesetzt. Die EZB hat nun einen konkreten Fahrplan vorgelegt. Aufgrund konzeptioneller und praktischer Probleme, die sich zum einen auf die korrekte Abgrenzung der konsumtiven und der investiven Komponente der Kosten selbstgenutzten Wohneigentums und zum anderen auf eine zeitnähere Bereitstellung der notwendigen Daten beziehen, ist die formale Umsetzung bis zum Jahr 2026 recht knapp bemessen.
Es zeigt sich, dass die Berücksichtigung des derzeit von Eurostat bereitgestellten Preisindizes von selbstgenutztem Wohneigentum in den HVPI in der Vergangenheit die Gewichtung der Wohnkosten im Warenkorb fast verdoppelt hätte. Im Durchschnitt wäre die Inflation im Euroraum in den letzten fünf Jahren um 0,3 Prozentpunkte höher gewesen. Damit hätte die Inflation im Euroraum allerdings weiterhin unterhalb des Inflationsziels gelegen und die geldpolitischen Entscheidungen der EZB wohl kaum beeinflusst.
Im Ländervergleich führt die Berücksichtigung der Wohnkosten für selbstgenutztes Wohnen im HVPI allerdings zu deutlichen Unterschieden: In Spanien und in den Niederlanden sind die Auswirkungen wesentlich stärker als in Frankreich und in Deutschland. Das liegt an den länderspezifischen Wohneigentumsquoten und an der Entwicklung der Wohneigentumskosten. So fluktuierten diese Kosten in Spanien und den Niederlanden besonders stark.
Für Deutschland ist die Differenz zwischen dem HVPI ohne und mit selbstgenutztem Wohneigentum in der Vergangenheit hingegen überwiegend gering. Allerdings zeigen sich am aktuellen Rand deutliche Unterschiede: So lag die Inflation im Juni dieses Jahres ohne Berücksichtigung von KSW bei rund zwei Prozent und mit diesen Kosten bei 2,8 Prozent. Das liegt wohl vor allem an den aktuellen Materialknappheiten und den damit verbundenen Preisanstiegen für Baustoffe.
Gerade die aktuelle Preisentwicklung verdeutlicht, wie wichtig die Berücksichtigung der Wohnkosten selbstgenutzten Wohnens im Preisindex ist: Die empfundene Inflation ist wichtig für eine kohärente und glaubwürdige Geldpolitik. Auch wenn die Einbeziehung der KSW das Bild der Verbraucherpreisinflation im Euro-Währungsgebiet und damit auch die grundlegenden geldpolitischen Entscheidungen wahrscheinlich nicht wesentlich verändern wird.
Themen: Konjunktur, Immobilien und Wohnen, Geldpolitik
JEL-Classification: E31;E52;E58
Keywords: Inflation, Housing, Monetary Policy, Germany
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2021-49-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/248539