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Ob Impfpflicht oder Klimaschutz: Ohne gesetzliche Vorgaben wird es nicht gehen – zum Wohle aller: Kommentar

DIW Wochenbericht 51/52 / 2021, S. 836

Daniel Graeber

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Die COVID-19-Pandemie stellt uns vor ein gesellschaftliches Dilemma, aus dem wir ohne Impfpflicht kaum noch herauskommen, auch wenn wir lieber auf Freiwilligkeit gesetzt hätten. Die Mehrheit hat zwar erkannt, dass eine Impfung das einzige Mittel ist, mit dem wir die Pandemie bewältigen können. Schon im Sommer 2020, als ein wirksamer Impfstoff nicht mal in Sicht war, gaben 70 Prozent der deutschen Bevölkerung an, sich impfen lassen zu wollen, sobald das ohne größere Nebenwirkungen möglich ist. Dies hat eine Strichprobenerhebung des Sozio-oekonomischen Panels ergeben. Zu diesem Zeitpunkt hätte damit mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit Herdenimmunität hergestellt werden können. Von einer Impfpflicht wagte damals niemand zu reden.

Seitdem hat sich aber eine Menge geändert: Wirkungsvolle Impfstoffe kamen zwar schneller als viele erwartet haben, doch der Schwellenwert für die Herdenimmunität erhöhte sich mit der Delta-Variante. Mittlerweile müssen wir feststellen, dass die Appelle nicht ausreichten, um eine Herdenimmunität zu erreichen. Wie unter anderem unsere Studie zeigte, war die Impfbereitschaft nie hoch genug. Zwar wurden einige Anstrengungen unternommen, diese zu erhöhen, aber ohne ausreichenden Erfolg. In der Zwischenzeit kamen zusätzliche Herausforderungen dazu. Beispielsweise wurden Booster-Impfungen zur Auffrischung des Impfschutzes notwendig. Gleichzeitig wird unsere Gesellschaft mit der neuen Omikron-Variante konfrontiert, die womöglich nicht die letzte sein wird.

Derzeit ändert sich das gesellschaftliche Klima stark zugunsten einer Impfpflicht. Schon bei der Umfrage im Sommer 2020 hatte die Hälfte der Bevölkerung eine Impfpflicht begrüßt, mehrheitlich diejenigen, die ohnehin zur Impfung bereit waren. Aber selbst unter denjenigen, die einer Impfung skeptisch gegenüberstanden, hätte jeder Dritte bis Vierte einer Impfpflicht zugestimmt. Inzwischen deuten Umfragen auf eine große Mehrheit für eine Impfpflicht hin, die im Parlament sogar beinahe ausreichen würde, das Grundgesetz zu ändern. Mit der Verabschiedung einer Impfpflicht, wie es die neue Bundesregierung plant, werden aber keine dystopischen Zustände einkehren, wie sie Impfgegner*Innen und Impfskeptiker*Innen gerne ausmalen. Denn eine Impfpflicht ist noch lange kein Impfzwang. Es wird in der Zukunft aber garantiert, dass nicht die Freiheitsrechte der Mehrheit zugunsten einiger weniger eingeschränkt werden.

An dem Szenario rund um den Impfschutz zeigt sich auch, inwiefern unsere Gesellschaft gewappnet ist, die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen: Eine hohe Impfquote würde gewährleisten, dass das Virus schlechter bis gar nicht zirkulieren würde. So hat eine ausreichend hohe Impfquote die Eigenschaft, dass theoretisch sogar Ungeimpfte vom Impfschutz profitieren können. Unter diesen Umständen kann es aus einer individuellen Perspektive sinnvoll erscheinen, den Aufwand einer Impfung zu meiden und gleichzeitig von dem indirekten Impfschutz zu profitieren. Wenn aber zu viele so denken und handeln, wird die kritische Schwelle zur Herdenimmunität nicht erreicht. In der Folge profitiert niemand davon. Eine mit Bußgeldern bewährte Impfpflicht könnte also ein Weg sein, dass die Bürger*Innen die Konsequenzen ihres Handelns stärker berücksichtigen.

Dieses Dilemma teilt die Impfpolitik mit der Umweltpolitik. In beiden Szenarien geht es um die Koordination individueller Beiträge zur Aufrechterhaltung von öffentlichen Gütern: Sei es die Herdenimmunität oder ein Klima, das für die Menschheit verträglich ist. Somit zeigt sich am Beispiel der Herstellung der Herdenimmunität, inwiefern wir in der Lage sind, den aktuellen drängenden Herausforderungen zu begegnen – und alle gemeinsam den größten Nutzen erzielen können.

Wenn mit einer Impfpflicht die Impflücke geschlossen werden kann, können wir den Pfad von SARS-CoV-2 zum endemischen Virus gestalten, ohne unnötige Opfer zu beklagen. Und gleichzeitig bleibt zu hoffen, dass mit demselben Eifer in vergleichbaren Katastrophen gehandelt wird, wie zum Beispiel beim Klimawandel.

Daniel Graeber

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Infrastruktureinrichtung Sozio-oekonomisches Panel

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