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Zukunft des europäischen Energiesystems: Die Zeichen stehen auf Strom

DIW Wochenbericht 6 / 2022, S. 75-82

Franziska Holz, Alexander Roth, Robin Sogalla, Frank Meißner, Georg Zachmann, Ben McWilliams, Claudia Kemfert

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  • Für die zukünftige Form des europäischen Energiesystems ohne Kohle und Erdgas werden drei Szenarien untersucht
  • Für alle Szenarien ist ein schneller Ausbau der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien notwendig
  • Eine weitgehende Elektrifizierung aller Wirtschaftssektoren ist kostengünstiger als eine umfangreiche Verwendung von synthetischem Gas oder Wasserstoff
  • In jedem Szenario fällt ein Großteil des Investitionsbedarfes bei den Endverbrauchern an
  • Es müssen klare regulatorische Rahmenbedingungen gesetzt werden, um private Investitionen anzustoßen

„Um Klimaneutralität zu erreichen, muss die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien massiv ausgebaut werden. Ob mehr Strom, mit Strom erzeugter Wasserstoff oder synthetisches Gas als Energieträger eingesetzt werden, ist noch offen. Die direkte Nutzung von Strom wäre für viele Anwendungen bei den Energieverbrauchern die günstigste Lösung.“ Franziska Holz

Die Umstellung des europäischen Energiesystems auf einen geringeren Ausstoß von Treibhausgasen wird einen grundsätzlichen Wandel der Art und Weise erfordern, wie Energie bereitgestellt, transportiert und genutzt wird. Als hauptsächliche Energieträger kommen Strom, Wasserstoff und synthetisches Gas in Frage. Die kostengünstigste Option ist die weitgehende Elektrifizierung aller Wirtschaftssektoren. Unabhängig von der genauen Ausgestaltung des zukünftigen europäischen Energiesystems gibt es einige Politikmaßnahmen, die notwendig sind, um das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 zu erreichen: Ein umfangreicher Ausbau der Erzeugungskapazitäten erneuerbarer Energien, das möglichst schnelle Ende der Nutzung der fossilen Energieträger Kohle und Erdgas, sowie eine stärkere Nutzung von Elektrizität als Energieträger. Die zukünftige Rolle von neuen Energieträgern wie Wasserstoff und synthetischem Gas ist jedoch noch unklar.

Die Europäische Union (EU) hat sich zum Ziel gesetzt, bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent zu werden. Dafür ist die Umstellung des europäischen Energiesystems in Richtung einer geringeren Nutzung fossiler Brennstoffe, insbesondere Erdgas und Kohle, von entscheidender Bedeutung (Dekarbonisierung).infoDieser Wochenbericht basiert auf einer Studie, die die AutorInnen für den Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie des Europäischen Parlaments erstellt haben: Georg Zachmann et al. (2021): Decarbonisation of Energy: Determining a robust mix of energy carriers for a carbon-neutral EU (online verfügbar). Aktuell sind 75 Prozent der in der Europäischen Union verbrauchten Energie fossil. Der Energiesektor ist dabei für mehr als drei Viertel der Treibhausgasemissionen in der EU verantwortlich.infoEuropäische Umweltagentur: EEA greenhouse gases – data viewer (online verfügbar). Auch in Zukunft wird Energie für Transport, Heizung, Kühlung, Beleuchtung, Güterherstellung und Dienstleistungen benötigt. Daher müssen die meisten derzeit auf fossilen Energieträgern basierenden Energiedienstleistungen durch klimaneutrale Technologien ersetzt werden.

Verschiedene Szenarien für das zukünftige europäische Energiesystem denkbar

Momentan besteht große Unsicherheit über die genaue Entwicklung des europäischen Energiesystems in den nächsten Jahrzehnten. Insbesondere die Rolle von Wasserstoff (H2), synthetischem Gas (Methan, CH4) und ihren Derivaten (wie Ammoniak) im künftigen Energiemix ist derzeit noch schwer vorherzusagen (Abbildung 1, Kasten 1).

Die Energieträger Wasserstoff (H2) und synthetisches Gas (CH4) können mit Hilfe von Strom oder Biomasse hergestellt werden. Falls sie aus Strom aus erneuerbaren Energiequellen (Wind, Solar) oder aus Biomasse hergestellt werden, werden sie als „grün“ bezeichnet.

Wasserstoff kann durch die Elektrolyse von Wasser unter Nutzung von Strom gewonnen werden (Abbildung 1). Synthetisches Gas kann dann über ein weiteres elektrochemisches Verfahren, die Methanisierung von Wasserstoff, hergestellt werden. Bei diesem Verfahren werden Wasserstoff und Kohlenstoffdioxid (CO2) verwendet.infoManuel Götz et al. (2016): Renewable power-to-gas: A technological and economic review. Renewable Energy, 85, 1371–1390 (online verfügbar). Wenn die Ausgangsstoffe Wasserstoff und Kohlenstoffdioxid treibhausgasneutral hergestellt werden, gilt auch das synthetische Gas als treibhausgasneutral. Dafür muss der Wasserstoff etwa durch Elektrolyse mit erneuerbarem Strom gewonnen werden und das Kohlenstoffdioxid aus der Atmosphäre gefiltert oder bei der Verbrennung von Biomasse abgeschieden werden. Alternativ kann synthetisches Gas aus biogenen Quellen hergestellt werden, indem die Methankonzentration in Biogas auf nahezu 100 Prozent erhöht wird. Jedoch ist das Potenzial hierfür eher begrenzt. Synthetisches Gas könnte fossiles Erdgas ersetzen, das ebenfalls fast reines Methan (CH4) ist.

Zwar ist synthetisches Gas durch den zusätzlichen Methanisierungsprozess stromintensiver und somit teurer in der Herstellung als Wasserstoff.infoVgl. Stavroula Evangelopoulou, et al. (2019): Energy System Modelling of Carbon-Neutral ­Hydrogen as an Enabler of Sectoral Integration within a Decarbonization Pathway. Energies 12, 2551 (online verfügbar). Andererseits hat es den entscheidenden Vorteil, dass die bestehende Infrastruktur für den Transport und die Speicherung von fossilem Erdgas genutzt werden kann. Bei Wasserstoff ist dies nicht ohne weiteres der Fall und bestehende Gaspipelines müssen für den sicheren Transport von Wasserstoff umgerüstet werden.

Um mögliche Ausprägungen des europäischen Energiesystems zu veranschaulichen, werden drei Szenarien untersucht. Jedes Szenario ist auf die schwerpunktmäßige Nutzung eines bestimmten Energieträgers ausgerichtet (Tabelle), jedoch wird die Energieversorgung in jedem Szenario von einem Mix von Energieträgern erbracht. Unterschieden werden a) ein vorrangig elektrisches System (Szenario Elektrifizierung), b) ein wasserstoffdominiertes System (Szenario Wasserstoff) und c) ein System, in dem synthetisches Gas eine zentrale Rolle beim Ersatz von Erdgas spielt (Szenario Synthetisches Gas). In allen Szenarien wird von einem Ausstieg aus den fossilen Energieträgern Kohle und Erdgas sowie von einer Fortführung der Nutzung von Atomenergie in Europa im heutigen Umfang ausgegangen. Der Nutzenergiebedarf, das heißt der Bedarf an zum Beispiel mechanischer Energie und Wärme, ist in allen Szenarien in den jeweiligen Zeitpunkten gleich groß.

Tabelle: Szenarienannahmen

Synthetisches Gas Wasserstoff Erneuerbarer Strom
Szenario Elektrifizierung Das Gasübertragungs- und -verteilnetz ist weitgehend stillgelegt; Methan wird dort verbraucht, wo es erzeugt wird Wasserstoff-Cluster mit sehr konzentriertem Leitungsnetz; Wasserstoffspeicher für die saisonale Speicherung von Strom Erhebliche Modernisierung des europäischen Übertragungs- und Verteilungsnetzes
Szenario Wasserstoff Das Gasübertragungs- und -verteilnetz wird weitgehend wiederverwendet; grünes Gas wird dort verbraucht, wo es erzeugt wird Vernetzte europäische Übertragungsinfrastruktur, die über aufgerüstete Methanpipelines mit Importpunkten und Wasserstoffverteilnetzen verbunden ist; Aufbau einer Wasserstofftankstellen-Infrastruktur

Das Stromverteilnetz wird nur dort ausgebaut, wo kein Wasserstoff verfügbar ist;

Übertragungsnetze werden in geringem Maß ausgebaut

Szenario Synthetisches Gas Das Gasübertragungs- und -verteilnetz wird weitgehend von synthetischem Methan genutzt und in Stand gehalten Wasserstoff-Cluster mit sehr konzentrierten Leitungsnetzen; Wasserstoffspeicher für die saisonale Stromspeicherung Das Stromverteilnetz wird nur dort ausgebaut, wo kein Methan verfügbar ist; Übertragungsnetze werden in geringem Maß ausgebaut

Quelle: Eigene Zusammenstellung.

Strombedarf steigt in allen Szenarien stark

Der Bedarf an Nutzenergie wird in den verschiedenen Szenarien mit unterschiedlichen Technologien und aus unterschiedlichen Quellen gedeckt (Kasten 2). Die Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien muss sich in allen Szenarien bis 2050 stark erhöhen. Im Vergleich zu 2019 muss sie vier bis sechs Mal höher liegen. (Abbildung 2).infoAnnahmegemäß wird der Zuwachs dabei überwiegend aus erneuerbaren Energien, vor allem aus Wind- und Sonnenenergie, stammen. Insbesondere die Szenarien Wasserstoff und Synthetisches Gas benötigen einen sehr starken Ausbau der Stromerzeugung, da auch diese Energieträger mit Hilfe von Strom produziert werden. Ein Teil dieser Stromerzeugung wird in Länder außerhalb der europäischen Union verlagert und in Form von Wasserstoff und synthetischem Gas importiert. Energieimporte basieren in Zukunft auf der Stromerzeugung im Ausland anstatt auf dort geförderten fossilen Energieträgern.

Für jedes Szenario werden die erforderlichen Investitionen im Energiesektor in den Zeiträumen 2020 bis 2030 und 2030 bis 2050 berechnet. Diese umfassen Investitionen in zusätzliche Stromerzeugungskapazitäten, in Elektrolyseure und Übertragungsnetze sowie Investitionen in Wasserstoffnetze. Kosten für Geräte bei den Energieverbrauchern werden dabei nicht einbezogen, da es bislang nicht möglich ist, die Kosten von Geräten, die demselben Zweck dienen, aber unterschiedliche Energieträger verwenden, eindeutig zuzuordnen. Die Annahmen über Investitionskosten in Energiesysteme sind dem ASSET-Projekt entnommen.infoAlessia De Vita, Izabela Kielichowska und Pavla Mandatowa (2018): Technology pathways in decarbonisation scenarios. Asset, 44–46 (online verfügbar).

Für die Berechnung der Investitionsvolumina in den verschiedenen Szenarien wird angenommen, dass die in den einzelnen Sektoren nachgefragte Menge an Nutzenergie dieselbe ist wie im MIX-55-Szenarios des E3M-Modells der Europäischen Kommission.infoVerfügbar im interaktiven Tool des JRC, Szenario FF55 MIX (online verfügbar). Nutzenergie ist die Energiedienstleistung, die den Nutzern letztendlich zur Verfügung gestellt wird. Effizientere Formen der Energienutzung benötigen dabei weniger Kilowattstunden für die gleiche Dienstleistung als weniger effiziente Systeme. Für jedes Szenario werden Annahmen über die Anteile der Energieträger an den jeweiligen Nutzungsarten getroffen. Auf dieser Grundlage kann der Energiemix für jeden Sektor sowie der gesamte Energiemix berechnet werden. Dies ermöglicht auch die Berechnung der erforderlichen Übertragungs- und Erzeugungskapazitäten, für die wiederum die Investitionskosten berechnet werden.

Die zukünftig größere Rolle der Elektrizität wird in zwei Dimensionen sichtbar: Zum einen bei der zunehmenden direkten Verwendung von Elektrizität in der Endenergienutzung (direkte Elektrifizierung) und zum anderen bei der Einführung von Wasserstoff und synthetischem Gas, die mit Hilfe von Elektrizität hergestellt werden (indirekte Elektrifizierung).

Die direkte Elektrifizierung wird in allen Szenarien eine wichtige Rolle spielen, da sie eine kostengünstige Option zur Dekarbonisierung vieler Bereiche der Energienachfrage darstellt.infoAnstelle von „Dekarbonisierung“ sollte der Begriff „Defossilisierung“ verwendet werden, um ein Energiesystem mit synthetischem Gas zu beschreiben, da Gas (Methan) ein kohlenstoffhaltiger Energieträger ist. Bei seiner Verbrennung wird Kohlendioxid (CO2) freigesetzt und CH4 ist selbst ein Treibhausgas, das beim Transport austreten kann. Dies umfasst zum Beispiel den Individualverkehr (Elektrofahrzeuge oder -roller) und einen großen Teil der Wärmebereitstellung für Haushalte und industrielle Niedertemperaturwärme. Die Herstellung von Wasserstoff oder synthetischem Gas ist gegenüber einem vorwiegend elektrischen System mit höheren angebotsseitigen Investitions- und Energieimportkosten verbunden. Beide Energieträger würden nur dann eine relativ große Rolle in der Energieversorgung Europas spielen, wenn sie durch die zukünftige Energiepolitik direkt präferiert würden (Abbildung 3). Aufgrund ihrer aktuell mangelnden Wettbewerbsfähigkeit benötigen diese Technologien staatliche Förderungen, um im europäischen Energiesystem eingeführt und verbreitet zu werden. Selbst wenn die Herstellungskosten weiter sinken, werden wahrscheinlich nur vergleichsweise geringe Mengen an Wasserstoff und synthetischem Gas genutzt. Beschränken wird sich die Nutzung von Wasserstoff und synthetischem Gas hauptsächlich auf Sektoren, in denen eine Elektrifizierung unmöglich oder nur schwer zu erreichen ist, wie zum Beispiel im Luftverkehr oder in bestimmten Bereichen der chemischen Industrie.

Kosten der Dekarbonisierung bei weitgehender Elektrifizierung am geringsten

Die in den verschiedenen Szenarien entstehenden Kosten können derzeit nur annähernd geschätzt werden. Bei Schlüsselparametern, wie Lernraten und zukünftigen Gerätekosten, bestehen hohe Unsicherheiten. Dennoch lassen sich aus dem Vergleich der drei Szenarien wichtige Erkenntnisse gewinnen.

Erstens haben die verschiedenen Szenarien einen unterschiedlichen angebotsseitigen Investitionsbedarf (Abbildung 4). Das Szenario Elektrifizierung erfordert einen umfangreichen Ausbau der Stromnetze, der wegen der flächendeckenden Anbindung aller in Frage kommenden Energieverbraucher größer ist als in den anderen Szenarien. Im Gegensatz dazu entstehen bei einem auf Wasserstoff ausgerichteten Energiesystem Kosten für die Umrüstung der Erdgasrohrleitungen auf den Wasserstofftransport.

Zweitens erfordern alle Szenarien erhebliche Investitionen in eine kohlenstoffarme Stromversorgung. Die Ausbaukosten für die Stromerzeugung betragen in allen Szenarien mehr als die Hälfte der Investitionskosten.

Drittens wäre der Bedarf an Investitionen in die inländische Stromerzeugung in den Szenarien Wasserstoff und Synthetisches Gas noch höher, wenn nicht ein Großteil der Stromerzeugung in das außereuropäische Ausland ausgelagert und in Form von Wasserstoff und synthetischem Gas importiert würde. Dies führt jedoch zu hohen Importkosten (Abbildung 4).

Die Elektrifizierung ist in allen drei Szenarien ein unverzichtbarer Bestandteil. Die direkte Nutzung von Strom hat einen höheren Wirkungsgrad als die Nutzung von Wasserstoff, synthetischem Gas oder von fossilen Energieträgern. Bei gleicher Nutzenergie ist der Primärenergieverbrauch geringer und das Szenario, das sich auf eine weitgehende Elektrifizierung konzentriert, ist mit den geringsten Kosten verbunden. Unter Kostengesichtspunkten ist die Nutzung von Wasserstoff wahrscheinlicher als die Nutzung von synthetischem Gas. Wasserstoff kann dabei eine Ergänzung zur weit verbreiteten Elektrifizierung sein, da er hilft, Schwankungen der erneuerbaren Energien auszugleichen und schwer zu elektrifizierende Nachfragebereiche, wie den Luftverkehr, klimafreundlich zu versorgen. Ein Energiesystem, das auf synthetisches Gas ausgerichtet ist, ist die teuerste Wahl. Die Vorteile der Wiederverwendung bestehender fossiler Erdgasinfrastrukturen gleichen die hohen Investitions- und Betriebskosten für Produktionsanlagen zur Herstellung von synthetischem Gas nicht vollständig aus. Zudem würden weiterhin Treibhausgase verursacht werden, da Kohlendioxid bei der Nutzung (Verbrennung) emittiert würde und Methan aus möglichen Infrastrukturleckagen austreten könnte.

Investitionen auch bei den Energieverbrauchern in großem Umfang notwendig

Während sich die Szenarioanalyse ausschließlich auf die Angebotsseite konzentriert, zeigen andere Modellierungsstudien, dass der größte Teil des Investitionsbedarfs auf der Nachfrageseite besteht (Abbildung 5). Das REG-Szenario basiert auf der Annahme, dass durch EU-Regulierungen, wie strenge Treibhausgasbegrenzungen sowie hohe Energieeffizienz- und Erneuerbarenförderungen, das europäische Ziel der Treibhausgasneutralität erreicht wird.infoVgl. Europäische Kommission (2020): Stepping up Europe’s 2030 climate ambition. COM(2020) 562 final (online verfügbar) und zugehöriges Impact Assessment (online verfügbar). Für das Ausgewogene Szenario wurden drei Szenarien verbunden, die sehr ähnlich zu den hier untersuchten Szenarien sind und mit dem EU-Energiemodell PRIMES berechnet wurden.infoEvangelopoulou et al. (2019), a.a.O.

Investitionen auf der Nachfrageseite beinhalten vielfältige Maßnahmen. Haushalte werden neue Fahrzeuge kaufen, Gebäude sanieren und saubere Heizsysteme installieren, Unternehmen müssen in saubere Produktionsverfahren investieren. Insgesamt können die Investitionen sowie die Ausgaben für langlebige Konsumgüter auf der Nachfrageseite die Investitionsausgaben auf der Angebotsseite um das Fünffache übersteigen.

Um den privaten Akteuren genügend Vertrauen für diese Investitionen zu geben, muss die Politik zwei sich ergänzende Wege einschlagen. Ohne starke Signale, dass fossile Energieträger in Zukunft nicht mehr zur Verfügung stehen, werden Investoren nicht bereit sein, in die Umstellung von Technologien zu investieren. Dabei wird es nicht reichen, nur den Ausstieg aus fossilen Energieträgern anzukündigen. Vielmehr müssen glaubwürdige Zusagen gegeben und angepasste regulatorische Rahmenbedingungen für neue Energiequellen und Technologien geschaffen werden. Ein wichtiges Instrument, um Finanzströme in bestimmte Investitionen zu lenken, ist die grüne Taxonomie.infoWeitergehende, laufend aktualisierte Informationen zur Taxonomie-Regulierung der EU können auf der Website der Europäischen Kommission abgerufen werden. Siehe auch Pressemitteilung der Europäischen Kommission vom 2. Februar 2022 zur EU-Taxonomie Green Deal (online verfügbar). Der aktuelle Vorschlag der EU-Kommission zielt zu sehr auf kurzfristige Investitionen (unter anderem in Erdgas) ab und zu wenig auf Investitionen, die zum Ziel der nachhaltigen Klimaneutralität beitragen. Soziale und politische Zwänge können schnell dazu führen, dass Regierungen Verbote fossiler Energieträger oder hohe Kohlenstoffpreise nicht durchsetzen oder durchhalten können, wenn keine Alternativen vorhanden sind.

Fazit: Infrastrukturausbau und Anpassung der energiepolitischen Rahmenbedingungen notwendig

Die europäische Energiepolitik muss in den kommenden Jahren durch eine Reihe von Weichenstellungen die Transformation des Energiesystems sicherstellen.

Erstens wird der Zugang zu Energie zunehmend von kohlenstoffarmen Stromquellen und den daraus gewonnenen Energieträgern bestimmt. Daher ist der Ausbau der Infrastruktur für alle erneuerbaren Energieträger von entscheidender Bedeutung. Unabhängig davon, ob das zukünftige Energiesystem auf direkter oder indirekter Elektrifizierung (synthetisches Gas und Wasserstoff) basiert, ist ein massiver Ausbau der erneuerbaren Energien erforderlich. Die direkte Elektrifizierung ist für die meisten Anwendungen die kostengünstigste Option und bietet zudem den Vorteil, dass das Energiesystem weniger stark von Importen aus dem EU-Ausland abhängig ist.

Dies erfordert eine stärkere Zusammenarbeit der europäischen Mitgliedsstaaten in Bezug auf die Planung und Förderung von grenzübergreifenden Infrastrukturprojekten. Neben der Infrastruktur auf der Übertragungsebene wird auch die Unterstützung und Genehmigung von Investitionen in Verteilnetze und die notwendige Endinfrastruktur, zum Beispiel für das Laden von Elektrofahrzeugen, eine wichtige Rolle spielen.

Zweitens müssen die entsprechenden Rahmenbedingungen für das veränderte Energiesystem von der Politik gesetzt werden. Das derzeitige Marktdesign für Strom und Erdgas spiegelt das Bestreben wider, schrittweise einen integrierten europäischen Energiemarkt zu schaffen. Die Energiewende erfordert eine Verbesserung der Koordinierung zwischen europäischer und nationaler Ebene, um künftig einen möglichst effizienten europäischen Energiemix zu erreichen. Das Hauptaugenmerk sollte auf der Gestaltung des Strommarktes und dessen Verknüpfung mit anderen Sektoren, wie dem Transport- und Wärmesektor, liegen, da Strom in jedem Fall der wichtigste zukünftige Energieträger sein wird. Aber auch die Regeln für andere Energieträger müssen klar formuliert werden. Bei Erdgas ist eine Schlüsselfrage, wie der mittelfristige Ausstieg mit möglichst geringen Friktionen bewältigt werden kann. Wichtiger werdende Energieträger wie Wasserstoff, der bisher vor allem als chemisches Vorprodukt genutzt wird, müssen als Energieträger neu betrachtet werden.

Robin Sogalla

Doktorand in der Abteilung Unternehmen und Märkte

Alexander Roth

Wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt

Claudia Kemfert

Abteilungsleiterin in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt

Franziska Holz

Stellvertretende Abteilungsleiterin in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt



JEL-Classification: Q48;Q47;Q42
Keywords: energy, decarbonisation, EU, scenarios, fossil phase-out
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-6-1

Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/251404

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