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EuropäerInnen nehmen Defizite in der sozialen Gerechtigkeit wahr: Editorial

DIW Wochenbericht 7 / 2022, S. 87-88

Stefan Liebig, Jule Adriaans, Sandra Bohmann

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Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat 2007 den 20. Februar zum Internationalen Welttag der sozialen Gerechtigkeit erklärt. Mit diesem Tag soll darauf aufmerksam gemacht werden, dass soziale Gerechtigkeit „für die Herbeiführung und Wahrung von Frieden und Sicherheit innerhalb der Nationen und zwischen ihnen unerlässlich sind“ und deshalb „die Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft zur Armutsbeseitigung sowie zur Förderung der Vollbeschäftigung und einer menschenwürdigen Arbeit, der Gleichstellung der Geschlechter und des Zugangs aller Menschen zu gesellschaftlichem Wohlstand und zu Gerechtigkeit weiter verstärkt werden müssen“.

In den öffentlichen und politischen Debatten stehen ökonomische Ungleichheiten dabei häufig im Fokus. Der US-amerikanische Philosoph Harry G. Frankfurt hat jedoch in seinem vielbeachteten Beitrag „On Inequality“ darauf hingewiesen, dass aus gerechtigkeitstheoretischer Sicht eigentlich nicht die Frage wichtig ist, ob der eine mehr oder weniger hat als die andere, sondern die Frage, ob jeder und jede ausreichend viel hat, um ein angemessenes Leben führen zu können. Es sollte also für die Debatten um soziale Gerechtigkeit nicht einzig relevant sein, ob etwa die klassischen Maße für die Messung der Verteilungsungleichheit – zum Beispiel der Gini-Koeffizient – um einzelne Prozentpunkte gestiegen oder gesunken sind. Zuallererst sollten sich die politisch Verantwortlichen um die Bekämpfung von Armut, die Gewährleistung eines Mindestmaßes an Lebensstandard und fairen Chancen kümmern.

Diese erweiterte Perspektive auf soziale Gerechtigkeit wird in den drei Berichten dieser Wochenberichtsausgabe aufgegriffen: Gleichbehandlung, Chancengerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit. Im Fokus steht dabei die Perspektive der Bürgerinnen und Bürger. Das ist wichtig, weil politische Maßnahmen, die – im Einklang mit der 2007 verabschiedeten UN-Resolution – auf die Förderung sozialer Gerechtigkeit abzielen, auf breite Unterstützung in der Bevölkerung angewiesen sind. Deshalb ist eine Bestandsaufnahme der Wahrnehmung sozialer Gerechtigkeit in Europa wichtig, um aufzuzeigen, wo Politik ansetzen muss.

Der Bericht zum subjektiven Diskriminierungsempfinden zeigt, dass sich nicht einmal jeder zehnte Europäer oder jede zehnte Europäerin einer diskriminierten Gruppe zugehörig fühlt. Allerdings ist der Anteil derer, die sich so sehen, zwischen 2008 und 2018 um fast ein Viertel gestiegen. Der Anteil derer, die sich aus mehreren Gründen diskriminiert fühlen, hat sich sogar verdoppelt. Die Menschen nehmen also systematische Benachteiligungen der eigenen Gruppe immer häufiger wahr.

Aus dem zweiten Bericht geht unter anderem hervor, dass knapp ein Drittel der Europäer und Europäerinnen in ihren Heimatländern die Chancengerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt eher nicht erfüllt sieht. Auch hier zeigt sich, dass benachteiligte Personengruppen ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt als weniger gerecht einschätzen und auch sensibler für allgemeine Ungerechtigkeiten auf dem Arbeitsmarkt sind.

Das ist vor allem deshalb bedenklich, weil der Arbeitsmarkt eine zentrale Rolle für die Verteilung von Einkommen, Status und Ansehen spielt und damit ein zentraler Ort der Produktion sozialer Ungleichheiten in der Gesellschaft ist. Haben nicht alle einen gerechten Zugang zum Arbeitsmarkt, dann scheint es auch fraglich, ob die daraus resultierenden Ungleichheiten in der Einkommens- und Vermögensverteilung gerecht sein können.

Schaut man sich an, wie erwerbstätigte Personen ihr eigenes Einkommen, die Einkommen anderer und auch Vermögensunterschiede bewerten, zeigt sich: In Europa werden umfangreiche Gerechtigkeitsdefizite bei Einkommen und Vermögen deutlich. Insbesondere in Osteuropa gibt es viele Kritiker und Kritikerinnen, die sowohl ihr eigenes Einkommen als auch die Einkommens- und Vermögensunterschiede in ihrem Land als ungerecht bewerten. In nord- und westeuropäischen Ländern sind hingegen Altruisten und Altruistinnen häufiger vertreten: Sie bewerten zwar ihr eigenes Einkommen als gerecht, Ungleichheiten bei Einkommen und Vermögen in der Gesellschaft aber dennoch als ungerecht. Besonders häufig werden Einkommen am unteren Ende der Einkommensverteilung als ungerecht bewertet. Diese besondere Sorge um die Situation der Ärmsten ist in Deutschland weit verbreitet und spiegelt auch die Perspektive von Harry G. Frankfurt wider: Absicherung nach unten und Gewährleistung eines angemessenen Lebensstandards. Politische Maßnahmen, die es sich zum Ziel setzen, dieser Verteilungsungerechtigkeit zu begegnen, sollten berücksichtigen, „wo“ Gerechtigkeitsdefizite bestehen und – in Deutschland – zum Beispiel die unteren Einkommen stärken. Insofern erscheinen die Vorhaben der neuen Bundesregierung in die richtige Richtung zu weisen, wenn sie durch die Einführung des Bürgergelds und der Anhebung der Mindestsicherungsbeträge am unteren Rand der Einkommensverteilung ansetzen und dort Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bürger voranbringen wollen.

Die drei Forschungsberichte in dieser Wochenberichtsausgabe zeigen: In allen drei Bereichen – Gleichbehandlung, Chancengerechtigkeit, Verteilungsgerechtigkeit – werden Defizite in der sozialen Gerechtigkeit in Europa wahrgenommen. Die von der UN ausgerufene Notwendigkeit, soziale Ungerechtigkeit zu bekämpfen, wird also auch vom Souverän identifiziert. Die Studienergebnisse deuten darauf hin, dass dort, wo Ungerechtigkeit deutlicher wahrgenommen wird, auch politische Maßnahmen zu deren Beseitigung mehr Unterstützung erfahren. Gleichzeitig wird klar, dass die Bürgerinnen und Bürger dort, wo sie das Versprechen sozialer Gerechtigkeit in höherem Maße erfüllt sehen, auch zufriedener mit der Demokratie sind.

Sandra Bohmann

Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Infrastruktureinrichtung Sozio-oekonomisches Panel

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