DIW Wochenbericht 7 / 2022, S. 89-96
Sandra Bohmann, Matteo Targa
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„Unsere Studie zeigt, dass das Diskriminierungsbewusstsein unter den potenziell Betroffenen zugenommen hat. Die Befragungen des Eurobarometer deuten allerdings darauf hin, dass die allgemeine Bevölkerung eher davon ausgeht, dass Diskriminierung zurückgeht. Daher ist es wichtig, die Wahrnehmung der Betroffenen darzustellen.“ Matteo Targa
Seit langem versuchen Politik und Zivilgesellschaft auf allen Ebenen Diskriminierung zu bekämpfen. Die ergriffenen Maßnahmen können aber nur dann erfolgreich sein, wenn Menschen sensibel für die Benachteiligung von Gruppen oder Einzelpersonen sind. Deshalb ist es wichtig zu messen, inwieweit die Bevölkerung für Diskriminierung sensibilisiert ist. In diesem Wochenbericht wird für 17 europäische Länder für die Jahre 2008 bis 2018 untersucht, wie viele Menschen sich als Angehörige einer diskriminierten Gruppe empfinden und warum. Insgesamt fühlt sich nicht einmal jeder und jede zehnte Befragte einer diskriminierten Gruppe zugehörig. Allerdings ist der Anteil derer, die die eigene Gruppe von Diskriminierung bedroht sehen, in den untersuchten zehn Jahren um ein Viertel gestiegen. Vor allem Frauen sind sensibler für Diskriminierung geworden. Außerdem fühlen sich immer mehr Menschen aus verschiedenen Gründen gleichzeitig von Diskriminierung bedroht. Andere Datenquellen zeigen, dass Diskriminierung in der breiten Bevölkerung eher als rückläufig wahrgenommen wird. Gerade deshalb ist die Perspektive der Betroffenen wichtig.
Die Europäische Kommission verabschiedete im Sommer 2008 mehrere Maßnahmen, um in der Union Chancengleichheit zu fördern und Diskriminierung zu bekämpfen. Unter anderem sollte der Grundsatz des gleichen Entgelts für Männer und Frauen in den Mitgliedstaaten einheitlicher angewendet werden.Europäische Kommission (2007): Bekämpfung des geschlechtsspezifischen Lohngefälles. KOM(2007) 424 endgültig; Brüssel, 18.7.2007 (online verfügbar, abgerufen am 26. Januar 2022. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt); Europäisches Parlament (2008): Anwendung des Grundsatzes des gleichen Entgelts für Frauen und Männer (2008/2012(INI)), Straßburg, 18.11.2008 (online verfügbar). Des Weiteren legte die Kommission eine Richtlinie vor, die Diskriminierung aufgrund von Alter, Behinderung, sexueller Ausrichtung, Religion oder Weltanschauung außerhalb des Arbeitslebens verbot.Europäische Kommission (2008): Nichtdiskriminierung und Chancengleichheit: Erneuertes Engagement. KOM(2008) 420 endgültig Brüssel, 2.7.2008 (online verfügbar). Die Akzeptanz von solchen Maßnahmen hängt entscheidend davon ab, wie sensibel Menschen für Diskriminierung sind. Diskriminierung kann nur adressiert werden, wenn sie auch wahrgenommen wird. Deshalb ist es wichtig zu messen, inwieweit die breite Bevölkerung für Diskriminierung sensibilisiert ist. Konkrete rechtliche Schritte können allerdings in der Regel nur von den Betroffenen selbst eingeleitet werden. Deshalb ist die Sensibilisierung von potenziell Betroffenen besonders wichtig.
Dieser Wochenbericht ergänzt die von der Europäischen Kommission, auf Basis von Sonderbefragungen im Eurobarometer (Spezial-EurobarometerBeim Eurobarometer handelt es sich um eine wiederholte Querschnittsbefragung. Dabei werden mindestens 1000 Personen pro EU-Land befragt. Weitere Informationen zum Eurobarometer sind online verfügbar.) vorgelegten BerichteEuropäische Kommission (2008): Diskriminierung in der Europäischen Union: Wahrnehmungen, Erfahrungen und Haltungen. Bericht. Eurobarometer Spezial 296 (online verfügbar);Europäische Kommission (2009): Diskriminierung in der EU im Jahr 2009: Bericht. Eurobarometer Spezial 317 (online verfügbar); Europäische Kommission (2012): Discrimination in the EU in 2012: Report. Special Eurobarometer 393 (online verfügbar); Deutsche Kurzfassung (online verfügbar);Europäische Kommission (2015): Discrimination in the EU in 2015: Report. Special Eurobarometer 437 (online verfügbar); Europäische Kommission (2019): Discrimination in the European Union: Report. Special Eurobarometer 493 (online verfügbar); Deutsche Kurzfassung (online verfügbar). zur Diskriminierung in der EU durch eine Auswertung der Befragungsdaten des European Social Survey (ESS) von 2008 bis 2018 (Kasten 1).Aktuellere Befragungsdaten stehen derzeit noch nicht zur Verfügung. Jüngere Daten der Wellen 1 bis 3 aus den Jahren 2002 bis 2006 wurden hier nicht verwendet, da einige Indikatoren für diesen Zeitraum nicht verfügbar sind. Die Fragen im ESS zielen darauf ab, ob sich die Befragten selbst als Angehörige einer diskriminierten Gruppe fühlen. Mit dieser Fokussierung auf die subjektive Betroffenheit stellt der ESS inhaltlich eine wichtige Ergänzung zu den Eurobarometer-Befragungen dar. Letztere zielen eher auf die Wahrnehmung von Diskriminierung im Allgemeinen ab. In diesem Bericht wird vor allem untersucht, wie sich das subjektive Diskriminierungsempfinden verändert hat und was die Gründe dafür sind. Es wird also gemessen, ob die politischen und zivilgesellschaftlichen Bemühungen um größere Sensibilität gegenüber Diskriminierung bei den potenziell Betroffenen ankommen.
Im European Social Survey (ESS) werden in den europäischen Ländern alle zwei Jahre Befragungen mit einer repräsentativen Stichprobe der Bevölkerung über 15 Jahren durchgeführt. Es handelt sich um eine wiederholte Querschnittsbefragung. Ein Teil des Fragenkatalogs bleibt immer gleich. Auch wenn die Gruppe der Teilnehmenden bei jeder Befragung wechselt, können Durchschnittswerte für die Länder über die Zeit hinweg verglichen und so allgemeine Trends aufgedeckt werden.Die Datenstruktur des ESS ist der des Eurobarometer relativ ähnlich. Allerdings sind nicht alle Länder sind an jeder Befragungswelle beteiligt. Daher beziehen sich die Analysen in diesem Bericht auf die Informationen von 193715 Befragten aus den 17 Ländern, die von 2008 bis 2018 durchgehend Teil der Befragung waren: Deutschland, Frankreich, Spanien, Portugal, Vereinigtes Königreich, Irland, Belgien, die Niederlande, Norwegen, Schweden, Finnland, Polen, Tschechien, Ungarn, Estland, Slowenien und die Schweiz.
Im ESS werden auch einige wenige Fragen zur Diskriminierung gestellt. Die Auswertung dieser Fragen ist sinnvoll, um die Ergebnisse des Eurobarometers zu ergänzen und zu validieren. Ein Vorteil des ESS gegenüber dem Eurobarometer liegt in der größeren Anzahl der Befragten pro Land. Das ist wichtig, weil der Anteil der Befragten, die bestimmten diskriminierten Gruppen angehören, relativ gering ist. Die Messung der subjektiv empfundenen Diskriminierung wird also genauer, umso mehr Menschen in einem Land befragt werden.
Im ESS werden die Teilnehmenden alle zwei Jahre gefragt, ob sie sich als Angehörige einer Gruppe sehen, die in ihrem Land diskriminiert wird.Die konkrete Frage lautete: „Würden Sie sich selbst als Angehörige(r) einer Bevölkerungsgruppe bezeichnen, die in [LAND] diskriminiert wird?“ Die Befragten konnten mit „Ja“, „Nein“ oder „Weiß nicht“ antworten. Insgesamt fühlt sich nur ein kleiner Teil der Befragten einer oder mehrerer diskriminierten Gruppen zugehörig: Zwischen 2008 und 2018 bejahte weniger als jeder zehnte Europäer und jede zehnte Europäerin diese Frage.Vergleichend dazu fühlten sich in den Eurobarometer-Befragungen der Jahre 2009–2019 etwa zwölf Prozent der Befragten als Teil einer Minderheit. Über die Zeit hinweg ist der Anteil allerdings gestiegen (Abbildung 1): Im Jahr 2008 fühlten sich 6,6 Prozent der Gesamtbevölkerung einer oder mehreren diskriminierten Gruppen zugehörig, 2018 waren es bereits 8,1 Prozent.Der Unterschied ist statistisch signifikant. Dies entspricht einem Anstieg um 24 Prozent. Mögliche Erklärungen für diesen Anstieg werden später näher beleuchtet.
Innerhalb Europas gibt es ebenfalls einige Unterschiede im subjektiven Diskriminierungsempfinden: Im Norden und im Westen ist die Wahrnehmung höher als im Südosten (Abbildung 2). 2018 fühlten sich in Island (16 Prozent), dem Vereinigen Königreich (16 Prozent), Montenegro (15 Prozent) und Frankreich (14 Prozent) besonders viele Menschen als Teil einer diskriminierten Gruppe. In Litauen (drei Prozent), Ungarn, Polen, Tschechien und Italien (jeweils vier Prozent) hingegen nur sehr wenige.
Befragte, die sich zu einer diskriminierten Gruppe zählten, wurden gefragt, warum ihre Gruppe benachteiligt wird. Dabei konnten mehrere Gründe gleichzeitig angegeben werden. Für die folgenden Analysen wurden die Antwortmöglichkeiten Hautfarbe, Nationalität, Religion, Sprache, Volksgruppe oder ethnischen Gruppe zur Dimension „Herkunft, Sprache und Ethnie“ zusammengefasst. Ebenso bilden „Geschlecht und sexuelle Orientierung“ eine Dimension sowie „Alter und Behinderungen“.
Getrennt nach diesen Begründungen zeigt sich: Dass sich immer mehr Menschen einer benachteiligten Gruppe zugehörig fühlen, liegt vor allem daran, dass Geschlecht und sexuelle Orientierung häufiger als Diskriminierungsgrundlage genannt wurden. Zwischen 2008 und 2018 hat sich der Anteil derer, die sich auf Basis ihres Geschlechts oder ihrer sexuellen Orientierung zu einer diskriminierten Gruppe zählen, fast verdoppelt (Abbildung 3). Allerdings ist der Anteil dieser Gruppe an der Gesamtbevölkerung relativ gering. 2008 fühlten sich gerade einmal 1,1 Prozent der Bevölkerung aufgrund ihres Geschlechts und sexuellen Orientierung als Teil einer diskriminierten Gruppe; 2018 waren es immerhin 2,1 Prozent. In der Dimension Herkunft, Sprache und Ethnie betrug der Anstieg 24 Prozentpunkte (von 3,5 Prozent in 2008 auf 4,3 Prozent in 2018). Der geringste Anstieg (15 Prozent) war bei der Diskriminierung aufgrund von Alter und Behinderung zu verzeichnen.
Dass das subjektive Diskriminierungsempfinden dennoch im Mittel nur 24 Prozent angestiegen ist, ist auf die Zusammensetzung der Gruppe der subjektiv Betroffenen zurückzuführen (Abbildung 4). Im gesamten Beobachtungszeitraum stellt Herkunft, Sprache und Ethnie die wichtigste Diskriminierungsdimension dar. Zwischen 43 und 49 Prozent der Betroffenen gaben einen Grund aus dieser Dimension an. Die Begründungen Geschlecht und sexuelle Orientierung wurden hingegen nur von 15 bis 20 Prozent der Betroffenen angegeben. Etwas weniger als ein Fünftel der Betroffenen sah die eigene Gruppe aufgrund von Alter oder Behinderung diskriminiert.
Der Anstieg in der Gruppe Geschlecht und sexuelle Orientierung ist insbesondre auf ein verändertes Antwortverhalten bei den Frauen zurückzuführen (Abbildung 5). Sowohl bei migrantischenDie hier verwendete Definition schließt Migranten und Migrantinnen der zweiten Generation mit ein. Das heißt Personen, die selbst im Ausland geboren wurden oder deren Eltern (beziehungsweise ein Elternteil) im Ausland geboren wurden, werden hier als Personen mit Migrationshintergrund bezeichnet. als auch bei nicht-migrantischen Frauen ist das Diskriminierungsempfinden zwischen 2008 und 2018 angestiegen. Dabei fühlten sich Frauen mit Migrationshintergrund etwa dreimal so häufig als Angehörige einer diskriminierten Gruppe wie Frauen ohne Migrationshintergrund. Bei den Männern blieb der Anteil derer, die sich als Teil einer diskriminierten Gruppe sehen, unabhängig vom Migrationshintergrund im Zeitverlauf relativ stabil.
Diese Erkenntnisse wurden mithilfe eines multivariaten Modells überprüft. Dabei wurde für jedes Beobachtungsjahr getrennt untersucht, inwiefern bestimmte persönliche Merkmale die Wahrscheinlichkeit erhöht, dass sich eine Person als Teil einer diskriminierten Gruppe sieht, wenn sämtliche andere persönliche Merkmale gleich sind.Konkret wurde ein multinomiales Probit-Modell geschätzt. Als abhängige Variable diente die Angabe, ob sich die Person als Teil einer diskriminierten Gruppe sieht Die unabhängigen Variablen waren das Geschlecht der Befragten, ihr Migrationshintergrund und ihr Alter. Im Modell wurde für den Bildungshintergrund der Person, das Haushaltseinkommen, den Familienstatus (verheiratet, Kinder im Haushalt) und frühere Arbeitslosigkeitserfahrungen kontrolliert. Zudem wurde mithilfe von Länder-dummies dafür kontrolliert, dass die Beobachtungen von Personen aus einem Land nicht als unabhängig voneinander betrachtet werden können. Dadurch können genauere Aussagen über den Einfluss einzelner persönlicher Merkmale getroffen werden. Die Ergebnisse bestätigen, dass Frauen im Gegensatz zu Männern sensibler für Diskriminierung wurden: 2008 gab es noch keinen statistisch signifikanten Unterschied zwischen Männern und Frauen. Zehn Jahre später weisen Frauen jedoch eine 1,3 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit als Männer auf, sich zu einer diskriminierten Gruppe zu zählen (Abbildung 6). Menschen mit Migrationshintergrund dagegen haben im gesamten Zeitraum eine höhere Wahrscheinlichkeit, sich selbst als Angehörige einer diskriminierten Gruppe zu empfinden. Allerdings stieg auch hier die Sensibilität gegenüber Diskriminierung der eigenen Gruppe an. Beim Alter zeigen sich unterschiedliche Effekte: Während die Wahrscheinlichkeit, sich selbst zu einer diskriminierten Gruppe zu zählen, unter jüngeren Befragten (20 bis 30 Jahre) im Vergleich zu Befragten mittleren Alters (40 bis 50 Jahre) eher anstieg, blieb sie unter älteren Befragten gering. Außerdem zeigen die Analysen, dass sich Menschen mit niedrigen Einkommen und Menschen, die schon einmal arbeitslos waren, häufiger zu einer diskriminierten Gruppe zählen als Menschen mit mittleren Einkommen und Menschen, die noch nie arbeitslos waren. Diskriminierung wird also oft dort wahrgenommen, wo verschiedene Formen der Benachteiligung gleichzeitig auftreten.
Zwischen 2008 und 2018 hat sich auch der Anteil derer, die sich mehreren diskriminierten Gruppen zugehörig fühlen, von 0,6 Prozent auf 1,2 Prozent der Befragten verdoppelt (orange Anteile in Abbildung 2). Mehrdimensionale DiskriminierungMehrdimensionale Diskriminierung wird hier als Überbegriff für verschiedene Subtypen verwendet. Aufbauend auf eine Konzeptualisierung des Rechtswissenschaftlers Timo Makkonnen werden häufig drei Arten unterschieden: Multiple Diskriminierung , bei der verschiedene Diskriminierungsgründe gleichzeitig vorhanden sind, aber nicht gleichzeitig auftreten, sondern getrennt voneinander; verstärkende Diskriminierung, bei der verschiedene Diskriminierungsgründe gleichzeitig wirksam sind; und intersektionale Diskriminierung, bei der spezifische Diskriminierungsformen durch das Zusammenwirken verschiedener Diskriminierungsgründe entstehen, die sonst nicht existieren. Siehe Makkonen, Timo. (2002): Multiple, Compound and Intersectional Discrimination: Bringing the Experiences of the Most Marginalized to the Fore (online verfügbar). wird seit längerem theoretisch und politisch diskutiert. Es scheint, als würde dies auch zunehmend in der Wahrnehmung der europäischen Bevölkerung ankommen. Dieser Diskurs – auch als IntersektionalitätsdiskursDer Begriff der Intersektionalität wurde von Kimberlé Crenshaw im Hinblick auf die Diskriminierung schwarzer Frauen in Amerika entwickelt. In Deutschland wird er oft weiter gefasst und verwendet, um das Zusammenwirken mehrerer Ungleichheitsdimensionen zu beschreiben. bekannt – verweist auf die Defizite einer Diskriminierungspolitik, die allein auf separate Diskriminierungsdimensionen abzielt, ohne das Zusammenspiel der einzelnen Dimensionen zu berücksichtigen. Dadurch, so lautet das Argument, würden diejenigen benachteiligt, die spezifische Formen von Diskriminierung erleben, die erst im Zusammenspiel der verschiedenen Dimensionen entstehen. So könnte es etwa sein, dass transgender Personen mit Migrationshintergrund andere Diskriminierungsformen erleben, als transgender Personen ohne Migrationshintergrund. Wenn also verschiedene Diskriminierungsdimensionen nur einzeln betrachtet werden, entsteht die Gefahr, gerade solche Formen der Diskriminierung zu übersehen. Um alle Formen von Diskriminierung zu bekämpfen, müssen politische Akteure auch komplexe Formen von Diskriminierung beachten, die durch das Zusammenspiel verschiedener Dimensionen zustande kommen.
Die bisherigen Analysen haben die Bedeutung der Dimensionen Herkunft, Sprache und Ethnie sowie Geschlecht und sexuelle Orientierung für das Diskriminierungsempfinden in Europa verdeutlicht. Deshalb fokussieren die folgenden Analysen auf das Zusammenwirken dieser beiden Dimensionen. Die multivariate Betrachtung hat gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, sich als Teil einer diskriminierten Gruppe zu erfahren, auch mit persönlichen Merkmalen wie Einkommen oder (früherer) Arbeitslosigkeit zusammenhängen. Es könnte also sein, dass die Gruppenunterschiede im subjektiven Diskriminierungsempfinden zwischen Männern und Frauen und zwischen Menschen mit und ohne Migrationshintergrund daran liegen, dass sich diese Gruppen im Hinblick auf solche andere Merkmale unterscheiden. Um besser zu verstehen, wie Geschlecht und Herkunft im subjektiven Diskriminierungsempfinden zusammenwirken, wurde eine Oaxaca-Blinder-Dekompositionsanalyse durchgeführt (Kasten 2). Damit können Gruppenunterschiede in den Anteilen derer, die sich selbst als Angehörige einer diskriminierten Gruppe sehen, auf zwei Komponenten zurückgeführt werden: auf Unterschiede, die dadurch entstehen, dass sich die Gruppen in Bezug auf andere Merkmale, die ebenfalls mit Diskriminierungsempfinden im Zusammenhang stehen, unterschieden (Kompositionseffekt), und auf Unterschiede, die dadurch entstehen, dass die Personen in den verschiedenen Gruppen in Bezug auf die Einschätzung, selbst zu einer diskriminierten Gruppe zu gehören, unterschiedlich auf ihre jeweiligen Merkmale reagieren (Koeffizienteneffekt). Beispielsweise könnte es sein, dass Unterschiede im Diskriminierungsempfinden zwischen Frauen mit und ohne Migrationshintergrund darauf zurückzuführen sind, dass sich die beiden Frauengruppen im Hinblick auf andere Merkmale wie etwa Alter, Bildung und/oder Haushaltseinkommen unterscheiden. Es könnte aber auch sein, dass Frauen mit Migrationshintergrund sensibler für Diskriminierung sind als Frauen ohne Migrationshintergrund, weil sie auf Basis des Migrationshintergrunds diskriminiert werden (das wäre der Effekt des Migrationshintergrunds). Oder es könnte sein, dass andere Merkmale, wie die Erfahrung mit Arbeitslosigkeit, sich auf das Diskriminierungsempfinden von Frauen mit und ohne Migrationshintergrund unterschiedlich auswirken (das wäre der Koeffizienteneffekt).
Die Oaxaca-Blinder-Dekomposition ist eine Standardmethode, die auf der linearen Regressionsmethode, der Methode der kleinsten Quadrate (OLS), basiert. Mit ihr kann untersucht werden, welcher Anteil einer beobachteten Differenz in einer abhängigen Variable zwischen zwei Gruppen auf unterschiedlichen Verteilungen verschiedener Merkmale in den beiden Gruppen basiert (Kompositionseffekt), und welcher Anteil der Differenz auf unterschiedliche Einflüsse dieser Merkmale auf die abhängige Variable in den Gruppen basiert (Koeffizienteneffekt). Ökonometrisch werden diese beiden Effekte wie folgt identifiziert:
Angenommen die Beziehung zwischen einer abhängigen Variable () und einer Reihe erklärender (unabhängiger) Variablen kann für zwei sich gegenseitig ausschließenden Gruppen (G = 1,2) mithilfe einer linearen Regression geschätzt werden, sodass:
Dann bezeichnet den Erwartungswert der abhängigen Variable in Gruppe G. Durch Ausnutzung der Eigenschaften linearer Regressionen lässt sich herleiten, dass die erwartete Differenz zwischen den beiden Gruppen beträgt, wobei:
Bei der Oaxaca-Blinder-Dekomposition wird diese Gleichung so umgeformt, dass man Kompositons- und Koeffizienteneffekte unterscheiden kann. Dies wird durch die Einführung einer hypothetischen Vergleichsgruppe erreicht: Welcher Erwartungswert würde resultieren, wenn die Koeffizienten der Gruppe 2 () auf Gruppe 1 (mit ihrer individuellen Merkmalskonstellation) zutreffen würden? Formal wird dies dadurch erreicht, dass der Term auf der rechten Seite von Gleichung (3) addiert und subtrahiert wird. Nach einer Umformung kann dann geschlossen werden, welcher Teil der Differenz im Erwartungswert zwischen den Gruppen auf die Unterschiede in der Merkmalskonstellation zwischen den Gruppen zurückzuführen ist (Kompositionseffekt) und welcher Anteil der Differenz zwischen den Gruppen auf unterschiedliche Reaktionen auf diese Merkmale zurückzuführen ist (Koeffizienteneffekt).
In den Analysen für diesen Bericht wird eine Dekompositionsmethode verwendet, die für Wahrscheinlichkeitsmodelle mit binären (Ja/Nein) abhängigen Variablen geeignet ist.Fairlie, Robert W. (2005): An extension of the Blinder-Oaxaca decomposition technique to logit and probit models. Journal of Economic and Social Measurement 30: 305–316. Die abhängige Variable in den Analysen ist jeweils der Anteil der Männer beziehungsweise Frauen mit beziehungsweise ohne Migrationshintergrund, die sich zu einer diskriminierten Gruppe zugehörig fühlen. Konkret wurden zwei verschiedene Differenzen untersucht: Unterschiede im Diskriminierungsempfinden nach Geschlecht, jeweils für Menschen mit und ohne Migrationshintergrund (Abbildung 7 oben) und Unterschiede im Diskriminationsempfinden nach Herkunft, für Männer und Frauen (Abbildung 7 unten). Positive Werte in den Geschlechterunterschieden bedeuten, dass Frauen eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, sich als Angehörige einer diskriminierten Gruppe zu empfinden als Männer. Bei den Herkunftsunterschieden bedeuten positive Werte, dass Menschen mit Migrationshintergrund eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, sich diskriminiert zu fühlen als Menschen ohne Migrationshintergrund.
Die Ergebnisse der Dekompositionsanalyse zeigen: Der zwischen Männern und Frauen beobachtete Unterschied, sich selbst zu einer diskriminierten Gruppe zu zählen, ist größtenteils auf Koeffizientenffekte zurückzuführen und weniger darauf, wie andere Merkmale wie Bildung und Einkommen zwischen Frauen und Männern verteilt sind (Abbildung 7).
Das heißt, Frauen reagieren in ihrem Diskriminierungsempfinden anders als Männer. Man könnte auch sagen, dass Frauen sensibler für Diskriminierung sind als Männer. Im Zeitverlauf hat die Sensibilität der Frauen sogar zugenommen. Bei den Befragten mit Migrationshintergrund ist der Anstieg im Geschlechterunterschied sogar noch deutlicher als bei Befragten ohne Migrationshintergrund. Während Frauen ohne Migrationshintergrund schon 2008 eine leicht höhere Wahrscheinlichkeit hatten, sich zu einer diskriminierten Gruppe zu zählen, als Männer ohne Migrationshintergrund, hatten Frauen mit Migrationshintergrund zu diesem Zeitpunkt noch eine geringere Wahrscheinlichkeit als Männer mit Migrationshintergrund. Inzwischen fühlen sich jedoch auch hier Frauen häufiger von Diskriminierung betroffen als Männer. 2018 war der Geschlechterunterschied im subjektiven Diskriminierungsempfinden bei beiden Herkunftsgruppen gleich groß. Insgesamt scheinen also Frauen, und insbesondere Frauen mit Migrationshintergrund, in den Jahren seit 2008 sensibler geworden zu sein, was die Diskriminierung der eigenen Gruppe betrifft.
Auch Unterschiede im Diskriminierungsempfinden nach der Herkunft einer Person spiegeln eher unterschiedliche Sensibilität für Diskriminierung als Unterschiede in der Zusammensetzung der Gruppen wider. Auch hier ist ein Geschlechterunterschied zu beobachten: Während der Unterschied im Diskriminierungsempfinden zwischen Männern mit und ohne Migrationshintergrund im Zeitverlauf relativ stabil ist, ist bei den Frauen ein leichter Anstieg zu verzeichnen. Dieser Anstieg ist sowohl auf Kompositions- als auch Koeffizienteneffekte zurückzuführen. Zusammengenommen könnten diese Ergebnisse darauf hindeuten, dass Frauen mit Migrationshintergrund spezifische Diskriminierungsformen erfahren, und diese in den letzten zehn Jahren immer deutlicher wahrgenommen haben.
Insgesamt fühlt sich nur ein relativ kleiner Anteil der Europäer und Europäerinnen von Diskriminierung gefährdet. Nicht einmal jeder und jede zehnte zählt sich selbst zu einer Gruppe, die im eigenen Land diskriminiert wird. Die meisten Menschen darunter gaben an, auf Basis ihrer Herkunft, Sprache, Ethnie oder Religion diskriminiert zu werden. Seit 2008 ist der Anteil derer, die sich selbst als Teil einer diskriminierten Gruppe ansehen, um knapp ein Viertel gestiegen. Dieser Anstieg ist stark durch eine erhöhte Sensibilität für Diskriminierung bei Frauen getrieben. Bei Frauen mit Migrationshintergrund war dieser besonders hoch. Dies könnte einerseits auf einen realen Anstieg in der Diskriminierung zurückzuführen sein, oder aber darauf hindeuten, dass Diskriminierung häufiger wahrgenommen wird. Vieles spricht für letzteres. Schließlich deuten die Entwicklungen verschiedener Indikatoren für Diskriminierung, wie etwa der Gender-Pay Gap, eher auf einen langsamen Rückgang der tatsächlichen Diskriminierung hin.
Dass potenziell Betroffene Diskriminierung verstärkt wahrnehmen, weist zunächst darauf hin, dass das Problem weiterbesteht. Diese Erkenntnisse kann genutzt werden, um Antidiskriminierungspolitik effizient und effektiv zu gestalten. Zu wissen, welche Bevölkerungsteile die eigene Gruppe besonders stark von Diskriminierung bedroht sehen, gibt Aufschluss darüber, wo politisch nachgesteuert werden muss. Dadurch können präzisere und effektivere Maßnahmen gegen Diskriminierung entwickelt werden. Dabei ist es wichtig, Diskriminierung als komplexes Phänomen zu verstehen und das Zusammenzuwirken verschiedener Dimensionen der Diskriminierung zu beachten.
Die hier vorgelegten Analysen nehmen die Wahrnehmung der potenziell Betroffenen in den Fokus. Um diskriminierungspolitische Maßnahmen erfolgreich umzusetzen, ist es jedoch entscheidend, in allen Teilen der Bevölkerung das Bewusstsein für verschiedene Formen der Diskriminierung zu schärfen. Die letzten beiden Erhebungen des Eurobarometer11 weisen darauf hin, dass Diskriminierung in verschiedenen Bereichen eher als rückläufig wahrgenommen wird. Gerade vor diesem Hintergrund ist es wichtig, im öffentlichen und politischen Diskurs immer wieder auf verbleibende Diskriminierung in all ihren komplexen Formen hinzuweisen.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Gender, Europa
JEL-Classification: J71
Keywords: perceived discrimination, multidimensional discrimination, Europe
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-7-2
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/251408