DIW Wochenbericht 10 / 2022, S. 168
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Mit der Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 12 Euro pro Stunde löst Bundeskanzler Olaf Scholz eines seiner zentralen Wahlkampfversprechen ein. Von derzeit 9,82 Euro über den Zwischenschritt von 10,45 Euro im Sommer wird der Mindestlohn am 1. Oktober seine geplante Höhe von 12 Euro erreichen. Mit rund 22 Prozent ist dies der bislang stärkste Anstieg innerhalb eines Kalenderjahres seit Bestehen des Mindestlohns.
Bereits die Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015 war begleitet von der Befürchtung massiver Arbeitsplatzverluste, die sich aber empirisch nicht bestätigt haben. Dass signifikante negative Beschäftigungseffekte des Mindestlohns ausblieben, lässt sich aus Sicht der modernen Arbeitsmarktforschung gut erklären. Grundsätzlich gilt: Die Wirkung des Mindestlohns auf die Beschäftigungs- und Lohnstruktur ist ein Zusammenspiel von Marktstruktur, Preisüberwälzungs- und Substitutionsmöglichkeiten und unterscheidet sich nach Branche und Region.
Hinzu kommt, dass der Mindestlohn auch Produktivitätseffekte nach sich zieht. Mit der Einführung des Mindestlohns hat sich Beschäftigung weg von weniger produktiven Unternehmen hin zu solchen mit höherer Produktivität verlagert. Dies bedeutet, dass zwar einige Arbeitsplätze verschwunden, dafür aber neue, bessere Jobs entstanden sind.
Was ist aber die richtige Höhe des Mindestlohns? Da sich diese Frage kaum seriös beantworten lässt, war es richtig, den Mindestlohn sukzessive und unter fortlaufender wissenschaftlicher Bewertung anzuheben. Durch den Sprung auf 12 Euro wird die Erhöhung des Mindestlohns sogar eine noch größere Zahl an Beschäftigten betreffen als seine Einführung. Die Bundesregierung geht von rund 6,2 Millionen Beschäftigten aus. Somit verlässt man den bisher eingeschlagenen Pfad kleiner Erhöhungen und geht damit auch ein höheres Risiko ein. Zumal sie sich mit dieser politischen Entscheidung auch über die Mindestlohnkommission hinwegsetzt, der eigentlich die Empfehlung über die Höhe des Mindestlohns vorbehalten ist.
Negative Beschäftigungseffekte des Mindestlohns konnte man vor allem bei geringfügiger Beschäftigung beobachten. Doch auch hier ist dafür häufig zusätzliche sozialversicherungspflichtige Beschäftigung entstanden. Dass dieser Effekt nicht größer ausfiel, liegt auch an der problematischen Anreizstruktur von Minijobs. Um die Geringfügigkeitsgrenze von 450 Euro nicht zu überschreiten, wurde im Zuge der Mindestlohneinführung die Arbeitszeit vieler Minijobber verkürzt. Zwar mag dieser Effekt durch die geplante Erhöhung der Geringfügigkeitsgrenze auf 520 Euro im Monat gedämpft werden, doch eigentlich spräche vieles für eine Zurückdrängung von Minijobs, anstatt diese auszuweiten. Minijobs stehen in Konkurrenz zu sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung, sind, besonders für verheiratete Frauen, Teilzeitfalle und anfällig für Missbrauch.
Apropos Missbrauch: Entscheidend für den Erfolg oder Misserfolg des Mindestlohns ist nicht zuletzt seine Einhaltung. Schon jetzt erhalten viele Beschäftigte weniger als den Mindestlohn. Um wirksam zu sein, sollte seine Einhaltung stärker kontrolliert und die Arbeitszeit besser erfasst werden. Die Dokumentation der täglichen Arbeitszeit ist zwar für die in § 2a SchwarzArbG genannten Wirtschaftszweige verpflichtend, kann aber (mit Ausnahme der Fleischindustrie) bis zu einer Woche im Nachgang sowie in Papierform erfolgen. Auch im Falle von Kontrollen können Arbeitszeitnachweise binnen einer Woche nachgereicht werden. Hier bedarf es dringend digitaler und manipulationssicherer Lösungen.
Unternehmen, die den Mindestlohn umgehen, verschaffen sich unlautere Wettbewerbsvorteile, enthalten Beschäftigten die ihnen zustehenden Löhne und dem Staat und damit der Allgemeinheit beträchtliche Steuereinnahmen vor. Gerade eine Bundesregierung, die sich Digitalisierung auf die Fahnen geschrieben hat, sollte hier genügend Anreiz haben, in digitale Zeiterfassungslösungen zu investieren, und deren Nutzung für Unternehmen kostenfrei, aber verpflichtend machen.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Arbeit und Beschäftigung
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-10-3
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/251421