Blog Marcel Fratzscher vom 7. April 2022
Liberale Demokratien befinden sich weltweit auf dem Rückzug, immer mehr verwandeln sich in illiberale Demokratien, Das zeigen die Analysen der britischen Denkfabrik Chatham House. Viele sehen daher auch den Krieg des autokratischen Russlands gegen die Ukraine als eine weitere Bedrohung der Demokratien.
Der Krieg könnte jedoch ein Wendepunkt im globalen Systemwettbewerb sein, der die wirtschaftlichen Stärken von Marktwirtschaften und Demokratien unterstreicht. Voraussetzung dafür ist, dass die westlichen Demokratien die richtigen Lehren ziehen, die wirtschaftliche Globalisierung reformieren und die regelbasierte globale Ordnung stärken.
Dieser Beitrag erschien erstmals am 7. April 2022 als Gastbeitrag im Handelsblatt.
Vor 30 Jahren sorgte der US-amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama mit seiner These vom „Ende der Geschichte“, wonach sich liberale Demokratien langfristig als dominante politische Ordnung durchsetzen, für eine kontroverse Diskussion.
Seine These sehen heute einige als widerlegt an, zumal Länder wie China mit autokratischen Systemen enormen wirtschaftlichen Erfolg haben und westliche Demokratien – von Ungarn über Polen bis Brasilien – immer häufiger fundamentale Freiheiten einschränken.
In der Tat haben westliche Demokratien, allen voran die USA und solche in Westeuropa, in den vergangenen drei Jahrzehnten zwei große Fehler gemacht. Der eine ist die Annahme, liberale Demokratien würden sich in einer immer globaleren Welt von selbst durchsetzen, weil sie und ihre Marktwirtschaften den größeren wirtschaftlichen Wohlstand schaffen und damit Freiheiten ermöglichen.
Der vermeintliche Erfolg Chinas ist jedoch kein Beleg für ein Scheitern liberaler Demokratien in offenen Marktwirtschaften. Die relevante Unterscheidung ist vielmehr jene zwischen guter und schlechter Regierung, in Demokratien wie in Autokratien. Zahlreiche westliche Demokratien haben sich wichtigen Reformen verweigert – das Scheitern beim Klimaschutz und das Scheitern bei der sozialen Transformation sind dafür nur zwei Beispiele.
Der zweite Fehler war der Glaube, die durch die Globalisierung stark zunehmende gegenseitige Abhängigkeit würde Kriege, wie wir ihn nun in der Ukraine erleben, unmöglich machen. Viele sehen daher die Globalisierung als gescheitert an und sprechen von einer kommenden Deglobalisierung, bei der Nationalstaaten ihre wirtschaftliche Aktivität wieder stärker nach Hause verlagern, sich abschotten und auf ein möglichst großes Maß an Autonomie hinarbeiten.
Eine solche Reaktion wäre jedoch ein großer Fehler, denn die Globalisierung hat weltweit enormen Wohlstand geschaffen und die Armut in vielen Ländern, nicht nur in China, stark verringert.
Und die Globalisierung erweist sich nun bei den Sanktionen des Westens gegen Russland als das schärfste Schwert: Die Isolation Russlands vom Handel und vom westlichen Finanzsystem wird das Land in die tiefste wirtschaftliche Krise seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion treiben – und könnte der Anfang vom Ende des Putin-Regimes sein.
Die richtige wirtschaftspolitische Antwort auf den Krieg sollte daher nicht der Rückzug ins Nationale und in den Protektionismus sein, sondern die Umgestaltung der Globalisierung. Sie muss sozialer und gleichzeitig klüger ausgestaltet werden. Der türkische Ökonom Dani Rodrik kritisiert, was er die „Hyper-Globalisierung“ nennt – den Missbrauch der wirtschaftlichen Integration, bei dem viele gesellschaftliche Gruppen zu Verlierern geworden sind.
So hat die soziale und politische Polarisierung beispielsweise eine wichtige Rolle für den Brexit oder die Wahl Donald Trumps gespielt. Die Globalisierung muss in Zukunft so ausgestaltet werden, dass der Nutzen auf möglichst viele Schultern verteilt wird, gesellschaftliche Gruppen nicht gegeneinander ausgespielt werden und nicht einige wenige die Regeln – sei es beim Steuerrecht, in der Arbeitsmarktpolitik oder in der Wettbewerbspolitik – verletzen.
Und die Globalisierung muss klüger gestaltet werden. Die größte Stärke der liberalen Demokratien ist die regelbasierte internationale Ordnung, die sie in den zurückliegenden 70 Jahren geschaffen haben. Diese hat ein hohes Maß an Transparenz gebracht und fordert Rechenschaft von Regierungen und Machthabern ein. Gemeinsame Regeln waren und sind die Grundlage für den wirtschaftlichen Erfolg der Globalisierung.
Diese Regeln werden jedoch entweder zunehmend umgangen oder von autokratischen Regimen untergraben. Gerade Deutschland hat in den vergangenen 30 Jahren eine regelbasierte, werteorientierte Außenwirtschaftspolitik zu häufig den kurzfristigen wirtschaftlichen Interessen geopfert. Zu verlockend war es beispielsweise, in China neue Absatzmärkte zu erschließen, statt sich auf gemeinsame Regeln zu einigen oder Werte hochzuhalten.
Viele Autokraten – allen voran Russlands Wladimir Putin – sind in der Coronapandemie und im militärischen Konflikt vor allem durch die wirtschaftlichen Schwächen und das Versagen des eigenen Systems zunehmend unter Druck geraten. Vor allem Chinas Kommunistischer Partei und seinen Machthabern gelang es in den vergangenen Jahrzehnten, ihre Macht auszudehnen, weil sie wirtschaftlichen Erfolg mit stark steigenden Einkommen und Arbeitsplätzen vorweisen konnten.
Ist dieser wirtschaftliche Erfolg gefährdet, bröckelt auch die Macht der Diktatoren. Wirtschaftliche Sanktionen sind für Russland und China nicht nur wegen ihrer sozialen Konsequenzen so bedrohlich, sondern auch, weil sie die vermeintliche Legitimierung der politischen Systeme in ohnehin sehr schwierigen Zeiten weiter untergraben.
Der Krieg gegen die Ukraine hat zu einer erstaunlichen Einigkeit und Entschiedenheit der westlichen Demokratien geführt. Deutschland und Europa sollten daran anknüpfen und auf grundlegende Reformen der Globalisierung und der regelbasierten internationalen Ordnung drängen.
Es reicht nicht, dass wir uns mit Blick auf Datenschutz, Menschenrechte, Sicherheit, soziale Normen oder Ethik selbst hohe Maßstäbe geben. Ziel muss es vielmehr sein, dass sich die globale Gemeinschaft auf gemeinsame Regeln im Umgang miteinander und in der globalen Wirtschaft einigt. Dazu sollte sich Deutschland zu einer viel stärker werteorientierten Außenwirtschaftspolitik bekennen und diese gemeinsam mit unseren Partnern in der Europäischen Union umsetzen.
Eine solche Reform erfordert auch eine engere Partnerschaft zwischen den USA und der Europäischen Union, um gemeinsam die globalen Standards des Miteinanders für uns, aber auch für Autokratien und illiberale Demokratien zu setzen. Dann gäbe es berechtigte Hoffnung, dass der globale Trend der „demokratischen Rezession“, von der der britische Thinktank Freedom House spricht, gestoppt und – mit Russlands Krieg gegen die Ukraine als Auslöser – sogar umgekehrt werden kann.
Themen: Europa