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Stromversorgung auch ohne russische Energielieferungen und trotz Atomausstiegs sicher – Kohleausstieg 2030 bleibt machbar

DIW aktuell ; 84 : Sonderausgaben zum Krieg in der Ukraine, 9 S.

Christian Hauenstein, Karlo Hainsch, Philipp Herpich, Christian von Hirschhausen, Franziska Holz, Claudia Kemfert, Mario Kendziorski, Pao-Yu Oei, Catharina Rieve

2022

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20. April 2022 – Mit einem Kohle-Embargo erhöht die Europäische Union den Druck auf Russland. Nach einer Übergangsfrist soll im August keine russische Kohle mehr importiert werden. Jüngere Studien zeigen, dass Deutschland die Einfuhren aus Russland bis zum Sommer durch Importe aus anderen Ländern ersetzen kann. Da aber auch ein Aus für die russischen Erdgaslieferungen droht, müssen Pläne zur Versorgungssicherheit entwickelt werden. Das DIW Berlin hat in Szenariorechnungen analysiert, wie das deutsche Stromsystem auf einen Stopp russischer Energielieferungen (insbesondere Kohle und Erdgas) reagieren kann, ohne den beschleunigten Kohleausstieg beziehungsweise den Atomausstieg 2022 in Frage zu stellen. Es zeigt sich, dass im kommenden Jahr 2023 auch ohne russische Energielieferungen eine sichere Stromversorgung möglich ist; die Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke kann und sollte wie geplant im Dezember 2022 erfolgen. Kurzfristig müssen Kohlekraftwerke aus der Netzreserve genutzt und die Sicherheitsbereitschaft einiger Kraftwerke verlängert werden. Mittelfristig ist bei dem von der Bundesregierung im Osterpaket angestrebten beschleunigten Ausbau erneuerbarer Energien ein rückläufiger Bedarf an Erdgas- und Kohleverstromung bis 2030 zu beobachten. Somit bleibt das im Koalitionsvertrag angestrebte Ziel eines auf 2030 vorgezogenen Kohleausstiegs erreichbar.

Neben erheblichen Mengen an Erdgas importierte Deutschland bisher auch rund 60 Prozent seiner gesamten Kohleeinfuhren aus Russland (18 Millionen Tonnen im Jahr 2019, ohne Kokskohle). Diese Kohleimporte sollen bis August 2022 vollständig beendet werden. Darüber hinaus muss bei einem Ausfall russischer Erdgaslieferungen neben der Wärmeerzeugung auch die Stromproduktion auf Versorgungssicherheit geprüft werden. Parallel dazu hat die Bundesregierung bereits vor dem Ukraine-Krieg angekündigt, den Ausbau erneuerbarer Energien erheblich zu beschleunigen und dieses Vorhaben im sogenannten Osterpaket konkretisiert.infoVgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz (2022): Überblickspapier Osterpaket (online verfügbar). Bis 2030 soll der Anteil der Erneuerbaren an der Stromproduktion 80 Prozent betragen und bis 2035 auf 100 Prozent steigen. Zur Kompensation der Erdgasverstromung muss sowohl auf erneuerbare Energien sowie zeitweise auf zusätzliche Verstromung von Stein- und Braunkohle zurückgegriffen werden. Das vorliegende DIW aktuell analysiert zuerst die Auswirkungen des Kohle-Embargos gegen Russland auf die europäische Steinkohleversorgung und geht auf aktuelle Diskussionen bezüglich des Kohleausstiegs in Deutschland ein. Danach erfolgen sowohl eine Betrachtung der kurzfristigen Effekte eines möglichen Energielieferstopps aus Russland für den deutschen Strommarkt für das Jahr 2023 als auch eine Analyse der mittelfristigen Effekte bis Anfang der 2030er Jahre.

Kohleimporte aus Russland können ersetzt werden

Im Jahr 2019 stammten 51 Millionen Tonnen und damit fast 60 Prozent der in der Europäischen Union verwendeten Steinkohle (ohne Kokskohle) aus Russland (Zahlen laut Eurostat). Der Anteil russischer Steinkohle an den Importen in die EU hat sich in den vergangenen Jahren deutlich erhöht. 2015 lag dieser Anteil noch bei 30 Prozent (circa 41 Millionen Tonnen von insgesamt 132 Millionen Tonnen Importen in die EU im Jahr 2015). Hauptabnehmerland russischer Steinkohle in der EU ist Deutschland mit fast 18 Millionen Tonnen (2019), das in den letzten Jahren damit etwa 60 Prozent seiner Steinkohlenachfrage deckte. Neben russischer Kohle bezieht Europa aber auch Kohle aus dem weiteren internationalen Steinkohlemarkt, vor allem aus den USA und Kolumbien, in kleineren Mengen auch aus Südafrika, Kasachstan, Indonesien und Australien (Abbildung 1). Noch im Jahr 2015 lagen die Importe aus diesen sechs Ländern in die EU deutlich höher, bei insgesamt knapp 70 Millionen Tonnen. Aktuelle Untersuchungen des internationalen Steinkohlemarkts mit dem Modell COALMOD-World am DIW Berlin zeigen, dass es auch kurzfristig ausreichend angebotsseitige Kapazitäten für einen erhöhten Bedarf in der EU gibt, insbesondere durch eine drastisch sinkende Nachfrage nach Kohle in den USA.infoChristian Hauenstein und Franziska Holz (2020): The U.S. Coal Sector between Shale Gas and Renewables: Last Resort Coal Exports? DIW Berlin Discussion Paper 1880 (online verfügbar); Paola Yanguas Parra, Christian Hauenstein und Pao-Yu Oei (2021): The Death Valley of Coal – Modelling COVID-19 Recovery Scenarios for Steam Coal Markets. Applied Energy 288 (April): 116564 (online verfügbar). Trotz gestiegener Kohlepreise gibt es auf dem deutschen und dem europäischen Markt ein ausreichendes und flexibles Angebot von Steinkohle. Dies bestätigt auch der Verein der Kohleimporteure e.V. (VDKi) nach einer Umfrage unter seinen Mitgliedern.infoVDKi (08.04.2022): Pressemitteilung 3/2022 - Russische Kohle kann ersetzt werden (online verfügbar). Trotz des Kohle-Embargos gegen Russland ist deshalb nicht mit Engpässen bei der Versorgung mit Steinkohle zu rechnen.

Kohlekraftwerke im deutschen Stromsektor und geplanter Kohleausstiegspfad

Neben importierter Steinkohle trägt auch einheimische Braunkohle aus dem Rheinland, dem Leipziger Land sowie der Lausitz noch für einige Jahre zur Stromversorgung bei. Allerdings hat sich die Bundesregierung im Koalitionsvertrag darauf geeinigt, das im Kohleausstiegsgesetz vorgesehenen Ende der Kohleverstromung (2035-2038) nach Möglichkeit auf das Jahr 2030 vorzuziehen. Zu Beginn des Jahres 2022 befanden sich noch 17 Gigawatt Braunkohlekapazitäten in Betrieb, wovon im Laufe dieses Jahres 1,7 Gigawatt zur endgültigen Stilllegung vorgesehen sind.infoStilllegungen im Kohleverstromungsbeendigungsgesetz (KVBG) und im Öffentlich-rechtlichen Vertrag zur Reduzierung und Beendigung der Braunkohleverstromung in Deutschland geregelt. Des Weiteren befinden sich 1,9 Gigawatt Braunkohlekapazitäten in der Sicherheitsbereitschaft, wovon 1,1 Gigawatt zur endgültigen Stilllegung am 1. Oktober 2022 vorgesehen sind.infoGesetz über die Elektrizitäts- und Gasversorgung (Energiewirtschaftsgesetz - EnWG) § 13g Stilllegung von Braunkohlekraftwerken Darüber hinaus sind derzeit etwa 15 Gigawatt an Steinkohlekapazitäten in Betrieb, wovon zwei Gigawatt zur Stilllegung bis zum Ende dieses Jahres vorgesehen sind.infoBundesnetzagentur: Kohleausstieg (online verfügbar). Weitere vier Gigawatt Steinkohlekapazitäten befinden sich in der Netzreserve.infoBundesnetzagentur: Kraftwerksliste (online verfügbar) Durch die zunehmende Stromproduktion aus erneuerbaren Energien, steigende Kosten für CO2-Emissionszertifikate sowie relativ niedrige Erdgaspreise hat die Erzeugung und Auslastung von Kohlekraftwerken in den vergangenen Jahren kontinuierlich abgenommen. 2015 produzierten Kohlekraftwerke in Deutschland noch über 270 Terawattstunden Strom, in 2020 nur noch gut 130 Terawattstunden.infoAG Energiebilanzen: Auswertungstabellen (online verfügbar). Durch eine Ausweitung der jährlichen Laufzeiten sowie den möglichen Einsatz der Kapazitäten aus der Sicherheitsbereitschaft und Netzreserve können Kohlekraftwerke kurzfristig zum Ersatz von russischem Erdgas im Stromsektor beitragen. Im Folgenden wird die Sicherung der Stromversorgung für 2023, das heißt nach der Abschaltung der verbleibenden drei Kernkraftwerke, sowie für das Jahr 2031 dargelegt.

Abbildung 1: Importrouten für Steinkohle in die EU (2019)

In Millionen Tonnen (Mt)

Anmerkung: Steinkohle ohne Kokskohle. Quelle: Eurostat Daten, eigene Abbildung.
© DIW Berlin

Kurzfristige Betrachtung: Sicherung der Stromproduktion für 2023

Das DIW Berlin hat in einer aktuellen Studie Szenarien entwickelt, wie die Erdgasversorgung in Deutschland bei einem drohenden Lieferstopp aus Russland bei gleichzeitigem Atomausstieg kompensiert werden könnte.infoFranziska Holz et al. (2022): Energieversorgung in Deutschland auch ohne Erdgas aus Russland gesichert. DIW Aktuell 83 (online verfügbar). Neben Importen aus anderen Erdgaslieferungen wird dabei auf Einsparungen gesetzt. Insbesondere bei der Stromerzeugung wird von einem großen Einsparpotential von Erdgas durch eine erhöhte Stromerzeugung aus anderen Quellen ausgegangen. Im Szenario mit den stärksten kurzfristigen Einsparungen von Erdgas im Stromsektor ergeben sich etwa 43 Terawattstundenel (Milliarden Kilowattstunden), was etwa 45 Prozent der Stromerzeugung aus Erdgas entspricht (Vergleichsjahr 2020)infoDie Bruttostromerzeugung aus Erdgas erreicht mit 95 Terawattstunden im Jahr 2020 den höchsten Wert für den Zeitraum 2010-2021. Vergleiche AG Energiebilanzen: Auswertungstabellen (online verfügbar)., für die Ersatzkapazitäten gefunden werden müssten. Dies beinhaltet hauptsächlich den Ersatz der ungekoppelten Stromerzeugung (Kraftwerke ohne Kraft-Wärme-Kopplung) aus Erdgas der öffentlichen Versorgung sowie etwa 40 Prozent der ungekoppelten Stromerzeugung aus Industrieanlagen.infoBei mit Erdgas betriebenen KWK-Anlagen ist das Einsparpotential aufgrund des weiterhin bestehenden Bedarfs der Wärmebereitstellung geringer. Hier wird von einem Reduktionspotential der Erdgasbasierten Stromerzeugung von 10 Prozent in KWK-Anlagen der öffentlichen Versorger ausgegangen, sowie 40 Prozent bei Industrie-KWK-Anlagen.

Im Folgenden werden die Veränderungen des Strommixes dargestellt, die sich aus dem Wegfall der Erdgasverstromung ergeben können. Als Vergleichsjahr dient 2020.infoAG Energiebilanzen: Auswertungstabellen (online verfügbar). Im Jahr 2020 lag der Bruttostromverbrauch in Deutschland 2,5 Prozent beziehungsweise 3,5 Prozent unter dem Bruttostromverbrauch im Jahr 2021 beziehungsweise 2019. Aufgrund der momentanen und erwartbar anhaltend angespannten Situation in den Energiemärkten und dadurch hohen Preise für Strom sowie gedrosselter industrieller Produktion aufgrund der hohen Energiekosten wird davon ausgegangen, dass die Stromnachfrage auch in den Jahren 2022 und 2023 eher auf einem unterdurchschnittlichen Niveau liegen wird. Dem entgegen wirkt tendenziell die weitere Elektrifizierung des Verkehrs- und Wärmesektors, jedoch wird sich dies erst über die nächsten Jahre verstärkt auf die Stromnachfrage auswirken. Betrachtet wird das Jahr 2023, für das der größte Anteil an Ersatzerzeugung aus Kohle anzunehmen ist, da durch die Abschaltung der Kernkraftwerke 64 Terawattstunden Stromerzeugung im Vergleich zu 2020 wegfallen.infoDie Bundesregierung hat bestätigt, dass die Laufzeitverlängerung für die verbleibenden drei Kernkraftwerke (Neckarwestheim-2, Isar-2 und Emsland) weder wirtschaftlich noch organisatorisch darstellbar ist, vgl. Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz/Bundesumweltministerium (2022): Prüfung des Weiterbetriebs von Atomkraftwerken aufgrund des Ukraine-Kriegs. (online verfügbar). Vgl. für eine modellgestützte Analyse des Atomausstiegs Mario Kendziorski et al. (2021): Atomwende: Abschaltung von Kernkraftwerken eröffnet Perspektiven für die Endlagersuche. DIW Berlin Wochenbericht 88: 767–75 (online verfügbar). Davon entfällt etwa die Hälfte auf den Jahreswechsel von 2022/23. Zeitgleich wird von einem Zubau der Erneuerbaren von Photovoltaik auf 71,5 Gigawatt sowie Wind onshore auf 62,5 Gigawatt bis Ende Juni 2023 ausgegangen.infoBMWK (2022): Überblickspapier Osterpaket (online verfügbar). Da die Erzeugung aus diesen Stromquellen auch abhängig vom Wetterjahr ist, wurde die zu erwartende Stromerzeugung aus den erneuerbaren Energien auf Basis der historischen Wetterjahre 1980 bis 2019 analysiert (siehe Abbildung 2).infoStefan Pfenninger und Iain Staffell (2016): Long-term patterns of European PV output using 30 years of validated hourly reanalysis and satellite data. Energy 114, 1251-1265 (online verfügbar) sowie Iain Staffell und Stefan Pfenninger (2016): Using Bias-Corrected Reanalysis to Simulate Current and Future Wind Power Output. Energy 114, 1224-1239 (online verfügbar). Es ergibt sich, dass eine Erzeugung aus Photovoltaik-Anlagen und Wind onshore von ungefähr 184 Terawattstunden zu erwarten ist (153 Terawattstunden in 2020). Plausible Abweichungen liegen bei circa 15 Terawattstunden nach unten beziehungsweise 17 Terawattstunden nach oben. Die zu erwartende zusätzliche Erzeugung aus Kohlkraftwerken bei maximalen Einsparungen von Erdgas liegt im Jahr 2023 ungefähr zwischen 41 Terawattstunden und 73 Terawattstunden.infoVereinfachend wird hier von einem ausgeglichenen Exportsaldo ausgegangen. In Summe ergibt sich eine Gesamtstromerzeugung aus Kohle von etwa 175 bis 207 Terawattstunden im Jahr 2023. Sollte der Ausbau der erneuerbaren Energien langsamer erfolgen als erwartet oder der Verbrauch höher liegen als hier angenommen beziehungsweise für den Export von Strom in europäische Nachbarländer, ließe sich die Stromerzeugung aus Kohlekraftwerken in Betrieb, aus der Netzreserve und Sicherheitsbereitschaft auf bis zu etwa 220 Terawattstunden steigern (ohne Rückholung von 2021 stillgelegten Kraftwerken). Vergleiche BDEW (2022): Kurzfristige Substitutions- und Einsparpotenziale Erdgas in Deutschland (online verfügbar). Dies stellt die unter den angegebenen Bedingungen als plausibel betrachtete Spannweite der Stromerzeugung aus Kohle dar. Die tatsächliche Stromerzeugung im Jahr 2023 wird neben dem Ausbau und der Erzeugung aus erneuerbaren Energien und der Entwicklung der Stromnachfrage, auch durch die Entwicklung der Preise der Brennstoffe (inklusive des Preises für Erdgas) und für CO2-Zertifikate beeinflusst werden.infoDiese Analyse beschränkt sich auf den deutschen Stromsektor und bezieht mögliche Entwicklungen im Stromsektor europäischer Nachbarländer nicht mit ein; diese werden unter anderem in den folgenden Veröffentlichungen detailliert dargestellt: Karlo Hainsch et al. (2020): Make the European Green Deal Real – Combining Climate Neutrality and Economic Recovery. Politikberatung Kompakt 153. DIW Berlin (online verfügbar) sowie Mario Kendziorski et al. (2021): 100% erneuerbare Energie für Deutschland unter besonderer Berücksichtigung von Dezentralität und räumlicher Verbrauchsnähe - Potenziale, Szenarien und Auswirkungen auf Netzinfrastrukturen. Politikberatung Kompakt 167.  DIW Berlin (online verfügbar).

Abbildung 2: Zusätzliche Stromproduktion aus Erneuerbaren und Kohle für das Jahr 2023

in Terawattstunden

Quelle: Eigene Darstellung mit Daten der AG Energiebilanzen.
© DIW Berlin

Diese zusätzliche Stromerzeugung aus Kohle in Deutschland wird durch eine erhöhte Auslastung der in Betrieb befindlichen Braun- und Steinkohlekraftwerke sowie durch zusätzliche Erzeugung aus Steinkohlekraftwerken in der Netzreserve und Braunkohlekraftwerke in der Sicherheitsbereitschaft gewährleistet.infoDurch die Stilllegung der letzten Kernkraftwerke in Deutschland zum 31. Dezember 2022, die mit 7000-8000 Volllaststunden (VLh)/Jahr betrieben wurden, verschieben sich Braunkohlekraftwerke in der Merit Order nach links, und werden somit voraussichtlich eine hohe Auslastung aufweisen. Es wird angenommen, dass die in Betrieb befindlichen Braunkohlekraftwerke (15,3 Gigawatt im Jahr 2023) eine durchschnittliche Auslastung von bis zu 7000 VLh erreichen können. Ebenso ist für Steinkohlekraftwerke in Betrieb eine höhere Auslastung von bis zu 5000 VLh zu erwarten, da diese in der Merit Order vor ungekoppelte Gaskraftwerke rutschen. Es wird angenommen, dass Steinkohlekraftwerke in der Netzreserve (circa 6,4 Gigawatt im Jahr 2023 unter Hinzunahme der im Jahr 2022 zur Stilllegung vorgesehenen Kapazitäten) eine durchschnittliche Auslastung von bis zu 3500 VLh erreichen können. Für Braunkohlekraftwerke in der Sicherheitsbereitschaft (ca. 3,4 Gigawatt im Jahr 2023 unter Hinzunahme der im Jahr 2022 zur Stilllegung vorgesehenen Blöcke im Kraftwerk Neurath) wird eine maximale Auslastung von etwa 5500 VLh/Jahr angenommen. Vergleiche BDEW (2022): Kurzfristige Substitutions- und Einsparpotenziale Erdgas in Deutschland (online verfügbar). An den für 2022 geplanten Kohlekraftwerksabschaltungen kann festgehalten werden. Zur Absicherung der Stromversorgung im Jahr 2023 sollten jedoch die in diesem Jahr zur Stilllegung vorgesehenen Steinkohlekraftwerke vorübergehend als Reserve vorgehalten werden sowie die sich schon in der Reserve befindlichen Steinkohleblöcke in dieser verbleiben. Zudem sollten die in diesem Jahr zur Stilllegung vorgesehenen Blöcke des Braunkohlekraftwerks Neurath vorübergehende in die Sicherheitsbereitschaft aufgenommen werden. Außerdem sollten die schon in der Sicherheitsbereitschaft befindlichen Braunkohleblöcke für einen begrenzten Zeitraum etwa bis Ende des Winters 2023/24 zur weiteren Absicherung in der Sicherheitsbereitschaft verbleiben. Braunkohlekraftwerke aus der Sicherheitsbereitschaft können einen begrenzten Beitrag zur Stromproduktion voraussichtlich insbesondere im Winterhalbjahr leisten.

Auch ohne die ungekoppelten Erdgaskraftwerke und nach Abschaltung der letzten Kernkraftwerke liegen zu jeder Zeit ausreichende Kapazitäten vor, um die Nachfrage zu decken (Abbildung 3).infoFür das Jahr 2023 wird von einer ähnlichen Last wie in 2020 ausgegangen. Die hier dargestellte Bandbreite der Last stellt die Bandbreite vom Minimum zum Maximum der Last da. Die Randbereiche dieser Bandbreite werden jedoch nur selten erreicht und stellen Extremsituationen dar, welche nur über begrenzte Zeiträume erreicht werden. Daher ist bei den genannten Schritten für 2023 keine Beeinträchtigung der Versorgungssicherheit zu befürchten. Zusätzlich stehen auch weiterhin die Kapazitäten der ungekoppelten Erdgaskraftwerke (etwa 15 Gigawatt) zur Verfügung, wenn auch voraussichtlich zu sehr hohen Preisen. Sollten diese in Extremsituationen, beispielsweise zur Deckung außergewöhnlich hoher Lasten, oder beim Ausfall anderer Kraftwerkskapazitäten zum Einsatz kommen, so ist dennoch nicht mit einem hohen Gasverbrauch durch diese zeitlich stark begrenzten Einsätze zu rechnen.

Abbildung 3: Kraftwerksleistung im Jahr 2020 und im Jahr 2023 sowie die Last (gesamt, und nach Einspeisung von Wind und Photovoltaik) in Deutschland

in Gigawatt

© DIW Berlin

Mittelfristige Betrachtung: Kohleausstieg bis 2030 bleibt bei starkem Zubau von Erneuerbaren möglich

Mittelfristig ersetzen erneuerbare Energien einen Großteil der fossilen Stromerzeugung. Dies wird durch aktuelle Modellergebnisse plausibilisiert, die die deutsche Stromwirtschaft im Kontext von europaweiten Szenarien darstellt.infoAktualisierte Berechnungen mit dem GENeSYS-MOD Energiesystemmodell basierend auf Hans Auer et al. (2020): Quantitative Scenarios for Low Carbon Futures of the pan-European Energy System. Open Entrance Deliverable 3.1 (online verfügbar). Zwar erhöht sich die Stromerzeugung aus Kohle kurzfristig aufgrund der Kompensation von Erdgas- und Atomstrom in den Jahren 2022 und 2023 auf etwa 170 Terawattstunden beziehungsweise 190 Terawattstunden (bei mittlerer Erzeugung aus Erneuerbaren und maximalen Erdgaseinsparungen; siehe vorheriger Abschnitt). Aufgrund des zu erwartenden starken Zubaus an Erneuerbaren kann jedoch die Stein- und Braunkohleverstromung bereits ab dem Jahr 2024 wieder deutlich absinken. Abbildung 4 zeigt die Stromproduktion für das Jahr 2031 in Deutschland basierend auf 1,5°C-Szenariorechnungen aus dem Projekt OpenEntrance. Hier liegt der Anteil erneuerbarer Energien im Stromsektor sogar bei etwa 95 Prozent im Jahr 2030. Neben den Erneuerbaren verbleibt noch etwas (nicht russisches) Erdgas im Strommix, dagegen wird nach 2030 keine Kohle mehr verstromt. Der dafür benötigte rasche Ausbau der Erneuerbaren liegt dabei etwa im Rahmen der von der Bundesregierung aktuell angekündigten Ausbauziele, wobei das Modell im Vergleich zum Osterpaket stärker auf Wind onshore statt auf Photovoltaik setzt.

Bei Verzicht auf die russischen Energieträger würde es zu einer kurzfristig höheren Auslastung der Braunkohlekraftwerke in den drei Regionen (Rheinland, Leipziger Land, Lausitz) kommen. Jedoch ist gesichert, dass für die noch benötigte Braunkohleverstromung mehr als ausreichend Vorräte in den Braunkohletagebauen im Rahmen der aktuellen Revierpläne und Leitentscheidungen vorhanden sind. Die Abbaggerung weiterer Dörfer wegen darunterliegender Braunkohlevorräte ist für den Braunkohlestrombedarf jedoch nicht notwendig. Dies gilt auch für die Orte Lützerath im Rheinland und Mühlrose in der Lausitz. Nach aktuellem Stand erfolgt im Tagebau Jänschwalde (Lausitz) ein Förderstopp im Mai 2022.infoLEAG (2022): Gericht entscheidet: LEAG muss Tagebau Jänschwalde am 15. Mai 2022 anhalten. (online verfügbar). Trotz zwischenzeitlicher Erhöhung der jährlichen Braunkohleförderung im Tagebau Nochten (Lausitz) ist eine Inanspruchnahme des Sonderfeldes Mühlrose weiterhin nicht notwendig.

Abbildung 4: Stromerzeugung im Jahr 2031 in Deutschland

in Terawattstundenel

Anmerkung: Auch die ungekoppelten Gaskapazitäten stehen 2023 noch zur Verfügung, sind hier jedoch für 2023 nicht mit abgebildet, um die ausreichende Menge an gesicherter Leistung auch ohne diese Anlagen zu verdeutlichen. Die Stein- und Braunkohlekapazitäten für das Jahr 2023 beinhalten die entsprechenden Kapazitäten in der Netzreserve beziehungsweise Sicherheitsbereitschaft. Quelle: Eigene Berechnungen mit Daten der Bundesnetzagentur.
© DIW Berlin

Fazit: Stromversorgung kurz- und mittelfristig auch ohne russische Energielieferungen gesichert

Auch bei einem vollständigen Wegfall der russischen Erdgas- und Kohleexporte nach Deutschland bleibt die Stromversorgung sowohl im kommenden Jahr 2023 (nach dem Atomausstieg) als auch mittelfristig gesichert. Bedingung hierfür ist der im Osterpaket vorgesehene beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien sowie eine befristete Intensivierung von Stein- und Braunkohleverstromung. Die deutschen Kohleimporte aus Russland können relativ einfach durch den Bezug von internationalen Kohlemärkten ersetzt werden. Im Jahr 2023 gibt es ausreichend Kraftwerkskapazitäten auch bei einem starken Rückgang der Erdgasverstromung und der Abschaltung der letzten drei Kernkraftwerke. Ein schneller Ausbau der erneuerbaren Energien beschränkt die Erdgas- und Kohleverstromung: Der im Koalitionsvertrag angestrebte Kohleausstieg bis 2030 bleibt erreichbar. Für die mittelfristige Entwicklung bleibt die Integration zwischen dem deutschen und dem europäischen Strommarkt für die Versorgungssicherheit zentral.

Claudia Kemfert

Abteilungsleiterin in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt

Franziska Holz

Stellvertretende Abteilungsleiterin in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt


Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/253648

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