DIW Wochenbericht 17 / 2022, S. 243-251
Stefan Bach, Jakob Knautz
get_appDownload (PDF 197 KB)
get_appGesamtausgabe/ Whole Issue (PDF 2.74 MB)
„Die Entlastungspakete fangen mittelfristig nur einen Teil der Kosten auf. Es gibt also weiteren Handlungsbedarf für die Politik, wenn die hohen Energiepreise wie zu erwarten anhalten werden. Künftige Entlastungspakete sollten stärker auf die Geringverdienenden konzentriert werden, insbesondere über höhere Sozialleistungen.“ Stefan Bach
Durch den russischen Angriff auf die Ukraine sind die Energiepreise sprunghaft gestiegen. Bereits zuvor wurden Strom, Gas und Kraftstoffe sukzessive teurer. Die privaten Haushalte in Deutschland werden dadurch erheblich belastet. Zwei Entlastungspakete hat die Regierungskoalition dazu geschnürt. Dennoch drohen den privaten Haushalten mittelfristig reale Einkommensverluste von durchschnittlich 2,1 Prozent, wie hier vorgelegte Simulationsrechnungen auf Basis des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zeigen. Bei GeringverdienerInnen machen die Energiepreissteigerungen trotz der Entlastungspakete sogar rund drei Prozent des Nettoeinkommens aus. In vielen Fällen ist es noch deutlich mehr. Einkommensschwache Haushalte geben einen höheren Anteil ihres monatlichen Nettoeinkommens für Energie aus und sind somit von den Preissteigerungen relativ stärker betroffen als reichere Haushalte. Da die hohen Energiepreise aller Voraussicht nach noch bis weit in das nächste Jahr hinein Bestand haben werden, sollte die Politik nachbessern, weitere Entlastungen aber auf die Haushalte mit niedrigem Einkommen konzentrieren. Die Hilfen sollten zudem nicht die Anreize zum Energiesparen reduzieren. Insofern ist die Energiesteuersenkung bei den Kraftstoffen fragwürdig, auch bei der Förderung des öffentlichen Personennahverkehrs sollten die Mitnahmeeffekte reduziert werden.
Die Energiepreise sind auf historische Höchststände geklettert, seit Russland die Ukraine überfallen hat. In Deutschland und Europa ist die Abhängigkeit von russischen Importen hoch, vor allem sind die leitungsgebundenen Erdgaslieferungen nicht schnell oder nur zu hohen Kosten zu ersetzen.Vgl. Franziska Holz, Robin Sogalla, Christian von Hirschhausen und Claudia Kemfert (2022): Energieversorgung in Deutschland auch ohne Erdgas aus Russland gesichert. DIW aktuell Nr. 83 (online verfügbar; abgerufen am 19. April 2022. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Daher gibt es große Vorbehalte gegen ein Energieembargo, möglich ist aber auch ein Lieferstopp durch Russland. Dann dürften die Energiepreise noch weiter steigen und für Erdgas Notfallpläne in Kraft treten, die eine Bewirtschaftung durch die Bundesnetzagentur vorsehen.
Die Preisanstiege bei Energieprodukten sind bereits jetzt beträchtlich (Tabelle 1) und treiben maßgeblich die derzeit hohen Inflationsraten. Bezogen auf die Durchschnittspreise des Jahres 2019 – die ungefähr dem Durchschnittsniveau der vergangenen Jahre entsprachen – ist an den Tankstellen der Liter Super E10 derzeit (Mitte April 2022) um 51 Cent teurer geworden, das bedeutet einen Anstieg von 36 Prozent. Beim Diesel, den FernpendlerInnen häufig nutzen, sind es sogar 71 Cent oder 55 Prozent. Beim Heizöl, das im Vergleich zu den Kraftstoffen einen deutlich geringeren Steueranteil im Endverbrauchspreis hat, schlagen die Preiserhöhungen mit 100 Prozent besonders stark zu Buche. Beim Gas sind die Preise für BestandskundInnen bisher vergleichsweise verhalten gestiegen, soweit die VerbraucherInnen beziehungsweise deren Versorger noch von günstigeren Preisbindungen profitieren. Diese laufen allerdings sukzessive aus oder die Versorger können sie gegebenenfalls außerordentlich anpassen. Die Preise für NeukundInnen, die sich an den aktuellen Großhandelspreisen orientieren, haben sich hingegen ebenfalls verdoppelt. Diese höheren Preise dürften sich auf Dauer auch bei den BestandskundInnen durchsetzen. Infolge der höheren Kosten für fossile Brennstoffe steigen zudem die Strompreise. Darüber hinaus drohen weitere Realeinkommensverluste: Die höheren Energiekosten der Unternehmen heizen die Inflation an und der zu erwartende Konjunktureinbruch führt zu Beschäftigungs- und Einkommensverlusten.Vgl. Sebastian Dullien und Silke Tober (2022): IMK Inflationsmonitor – Hohe Unterschiede bei haushaltsspezifischen Inflationsraten: Energie- und Nahrungsmittelpreisschocks belasten Haushalte mit geringem Einkommen besonders stark. IMK Policy Brief Nr. 121, April 2022 (online verfügbar); Projektgruppe Gemeinschaftsdiagnose (2022): Von der Pandemie zur Energiekrise – Wirtschaft und Politik im Dauerstress. Frühjahr 2022 (online verfügbar).
Einheit | Endverbrauchspreise | Veränderung gegenüber 2019 | ||||
---|---|---|---|---|---|---|
Durchschnitt 2015–2021 | Durchschnitt 2019 | Mitte April 2022 | in Euro | in Prozent | ||
Super E10 | Euro/Liter | 1,41 | 1,44 | 1,95 | 0,51 | 36 |
Diesel | Euro/Liter | 1,23 | 1,29 | 2,00 | 0,71 | 55 |
Heizöl leicht | Euro/Liter | 0,61 | 0,68 | 1,35 | 0,67 | 100 |
Erdgas (NeukundInnen) | Euro/Kilowattstunde | 0,068 | 0,068 | 0,135 | 0,067 | 99 |
Strom (NeukundInnen) | Euro/Kilowattstunde | 0,306 | 0,312 | 0,400 | 0,088 | 28 |
Quellen: Statistisches Bundesamt, Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz, Verbraucherportale im Internet.
Diese Hochpreisphase wird wohl noch bis weit in das nächste Jahr hinein anhalten. Ein Abklingen des unmittelbaren militärischen Konflikts in der Ukraine ist derzeit nicht abzusehen. Und auch danach dürften die politischen Konsequenzen und Veränderungen der energiepolitischen Rahmenbedingungen die Preise für fossile Energieträger in Deutschland und Europa hochhalten.
Um die mittelfristigen Belastungswirkungen bei den privaten Haushalten zu ermitteln, werden die erwähnten Energiepreissteigerungen zugrunde gelegt (Tabelle 1). Diese sind bei den Kraftstoffen bereits eingetreten. Bei den Heizstoffen dürften sie in der angegebenen Höhe erst im Laufe dieses oder des nächsten Jahres wirksam werden, wenn beim Heizöl sukzessive nachgetankt wird und beim Erdgas auch die bisher günstigeren Tarife der BestandskundInnen angehoben werden.
In dieser StudieDie Analysen im Rahmen dieses Wochenberichts wurden durch das Fördernetzwerk Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (FIS) finanziell unterstützt. werden die Verteilungswirkungen der höheren Energiepreise sowie der beschlossenen Entlastungspakete gegenübergestellt und auf Grundlage von Einzeldaten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP)Die Simulationen zu den Wirkungen der Energiepreiserhöhungen und der Energiesteuersenkung basieren auf der SOEP-Erhebungswelle des Jahres 2015, in der detaillierte Informationen zum Energieverbrauch erhoben wurden. Die Simulationen zu Einkommensteuer und Sozialleistungen wurden mit dem Mikrosimulationsmodell STSM durchgeführt, gestützt auf neuere Erhebungswellen des SOEP. Die Einkommen wurden in das Jahr 2022 fortgeschrieben, für die Einkommensteuer und Sozialleistungen ist der aktuelle Rechtsstand des Jahres 2022 zugrunde gelegt. Vgl. dazu auch Stefan Bach et al. (2019): CO2-Bepreisung im Wärme- und Verkehrssektor: Diskussionen von Wirkungen und alternativen Entlastungsoptionen. DIW Politikberatung kompakt 140, 73 ff. (online verfügbar). simuliert (Abbildung 1). Die Be- und Entlastungen werden in Prozent des Haushaltsnettoeinkommens angegeben. Es handelt sich also um die relativen Einkommenseffekte bezogen auf das verfügbare Einkommen nach Abzug von Einkommensteuer und Sozialbeiträgen. Simuliert werden die Wirkungen bezogen auf das Jahreseinkommen 2022, gegliedert nach Dezilen des äquivalenzgewichteten Haushaltsnettoeinkommens.Um die Einkommenssituation von Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung vergleichbar zu machen, wurde für die Haushaltmitglieder ein bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Nettoeinkommen (Äquivalenzeinkommen) nach der international üblichen Bedarfsskala („neue OECD-Skala“) ermittelt (vgl. den Begriff „Äquivalenzeinkommen“ im DIW Glossar, online verfügbar). Anschließend wurde die Bevölkerung nach der Höhe dieses Einkommens geordnet und in zehn gleich große Gruppen (Dezile) eingeteilt.
Im Durchschnitt über alle Haushalte und bezogen auf das Jahreseinkommen 2022 bedeuten die hohen Energiepreise mittelfristig – also im Verlaufe der nächsten zwölf bis 18 Monate – Realeinkommensverluste von 3,4 Prozent (Abbildung 1). Diese sind reichlich ungleich über die Einkommensdezile verteilt und wirken „regressiv“: Die armen Haushalte werden in Relation zum Nettoeinkommen also deutlich stärker belastet als die reichen Haushalte.Absolut in Euro geben einkommensstarke Haushalte auch für Heizkosten deutlich mehr Geld aus als einkommensschwache Haushalte, bei den Kraftstoffen und vor allem beim Diesel ein Vielfaches. Da jedoch die Nettoeinkommen über die Dezile stark steigen – die mittleren Einkommen sind durchschnittlich 2,5 Mal so hoch wie die Einkommen im untersten Dezil, die Einkommen im obersten Dezil sieben Mal so hoch – entsteht relativ zum Einkommen eine „regressive“ Belastungswirkung. Im untersten Dezil –also bei den ärmsten zehn Prozent der Einkommensverteilung – machen die Energiepreissteigerungen knapp sieben Prozent des Nettoeinkommens aus und bei den mittleren Einkommen rund vier Prozent. Die reichsten zehn Prozent, also die Personen im obersten Einkommensdezil, müssen im Durchschnitt hingegen nur knapp zwei Prozent ihres Haushaltsnettoeinkommens mehr für Energie aufwenden und werden somit relativ am wenigsten belastet. Die regressive Belastungswirkung ist bei den Heizstoffen und beim Strom sehr ausgeprägt, denn diese Energieträger gehören zum Grundbedarf, für den arme Haushalte einen hohen Anteil ihres Haushaltsbudgets ausgeben. Dagegen sind die Belastungen durch die Preissteigerungen bei den Kraftstoffen bei den unteren und mittleren Einkommen nahezu proportional, beim Diesel sogar leicht progressiv – sie werden erst in den oberen beiden Einkommensdezilen spürbar regressiv. Haushalte mit höheren Einkommen haben mehr Kraftfahrzeuge und fahren längere Strecken, gerade auch bei den Arbeitswegen.Vgl. eine Auswertung des Statistischen Bundesamtes zu den durchschnittlichen Arbeitswegen bei Steuerpflichtigen mit Angaben zu den Arbeitswegen in der Einkommensteuer 2017 auf Twitter, 31. März 2022 (online verfügbar). Daher bleibt der Ausgabenanteil für Kraftstoffe über die Einkommensgruppen weitgehend gleich.
Verbrauchseinsparungen, um den hohen Energiepreisen zu begegnen, werden hier vernachlässigt. Diese sind auch kurzfristig möglich, vor allem durch ein Absenken der Raumtemperaturen oder durch weniger und veränderte Mobilität. In vielen Fällen geht das aber mit einer geringeren Lebensqualität beziehungsweise längeren Fahrzeiten zur Arbeit mit dem öffentlichen Verkehr einher. Einsparungen durch mehr Energieeffizienz sind erst längerfristig möglich, beispielsweise durch neue Fahrzeuge und Investitionen in den Gebäudebestand. Ferner sind sie ebenfalls mit höheren Kosten verbunden.
Bei Haushalten mit niedrigen Einkommen sind die hohen Belastungen besonders gravierend, da sie zumeist nur geringe Möglichkeiten haben, ihr Konsumbudget durch weniger Sparen, Auflösung von Vermögen oder Verschuldung auszuweiten. Daher müssen sie wohl oder übel die Heizung herunterdrehen oder den Konsum an anderer Stelle einschränken. Staatliche Entlastungsprogramme sollten sich daher primär auf den unteren Bereich der Einkommensverteilung konzentrieren.
Die Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP hat zwei Entlastungspakete beschlossen, die derzeit zügig umgesetztwerden.Ergebnis des Koalitionsausschusses vom 23. Februar 2022: 10 Entlastungschritte für unser Land (online verfügbar); Ergebnis des Koalitionsausschusses vom 23. März 2022: Maßnahmenpaket des Bundes zum Umgang mit den hohen Energiekosten (online verfügbar). Sie umfassen ein Entlastungsvolumen von insgesamt knapp 29 Milliarden Euro oder 0,8 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Davon entfallen 23,6 Milliarden Euro auf die privaten Haushalte (Tabelle 2). Für die Analyse der Verteilungswirkungen (Abbildung 1) werden diese Maßnahmen auf das jährliche Haushaltsnettoeinkommen bezogen, also auch die Einmalzahlungen bei den Sozialleistungen sowie die Energiepreispauschale oder die dreimonatige Senkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe.
In Milliarden Euro | In Prozent des Bruttoinlandsprodukts | |
---|---|---|
Abschaffung der EEG-Umlage ab 1. Juli 2022 | 6,8 | 0,18 |
darunter: private Haushalte | 2,6 | 0,07 |
Erhöhung von Sozialleistungen | 1,9 | 0,05 |
Einmalzahlung von 200 Euro bei der Grundsicherung | 1,1 | 0,03 |
Sofortzuschlag von 20 Euro pro Monat für Kinder bei der Grundsicherung | 0,5 | 0,01 |
Heizkostenzuschuss für Wohngeldbeziehende, Studierende, Auszubildende | 0,4 | 0,01 |
Einmalbonus beim Kindergeld von 100 Euro je Kind | 1,5 | 0,04 |
Senkung der Einkommensteuer | 4,4 | 0,12 |
Erhöhung des Grundfreibetrags um 363 Euro | 3,0 | 0,08 |
Erhöhung des Arbeitnehmer-Pauschbetrags um 200 Euro | 1,1 | 0,03 |
Erhöhung der Fernpendlerpauschale auf 0,38 Euro je Kilometer | 0,3 | 0,01 |
Einkommensteuerpflichtige Energiepreispauschale von 300 Euro | 7,9 | 0,21 |
Senkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe auf die europäischen Mindeststeuersätze für drei Monate | 3,4 | 0,09 |
darunter: private Haushalte | 2,3 | 0,06 |
ÖPNV-Ticket für neun Euro pro Monat für drei Monate | 3,0 | 0,08 |
Insgesamt | 28,9 | 0,77 |
darunter: private Haushalte | 23,6 | 0,63 |
Quellen: Bundesfinanzministerium; eigene Berechnungen.
Die EEG-Umlage in Höhe von gut 3,72 Cent je Kilowattstunde (kWh) wird ab Juli 2022 abgeschafft. Auf Jahresbasis 2022 ergibt sich somit eine Entlastung von etwas mehr als 1,86 Cent je kWh. Soweit die Stromversorger diese Entlastung voll an die EndverbraucherInnen weitergeben, entlastet dies die privaten Haushalte einschließlich Mehrwertsteuer um 2,6 Milliarden Euro. Für Wirtschaft und Verwaltung sinken die Stromkosten durch diese Maßnahme um 4,2 Milliarden Euro. Die regressive Wirkung der Strompreissteigerungen – also dass ärmere Haushalte einen größeren Teil ihres Haushaltseinkommens für Strom ausgeben und somit von den Preissteigerungen stärker betroffen sind – wird somit etwas ausgeglichen.
Man könnte argumentieren, dass die EEG-Umlage bereits zum Jahresanfang gesenkt wurde, so dass die Entlastungswirkungen höher ausfallen als hier dargestellt. Gegenüber dem Niveau von 6,5 Cent je kWh des Jahres 2021 ergibt sich im Jahresdurchschnitt 2022 eine Entlastung von knapp 4,64 Cent je kWh. Dann erhöht sich die Entlastung bei der EEG-Umlage um das 2,5-fache des hier berücksichtigten Effekts und es ergeben sich stärkere Entlastungen bei den unteren und mittleren Einkommen, bei denen die Strompreise eine größere Rolle spielen. Am Gesamtbild der Verteilungswirkungen ändert dies aber nur wenig.
Erwachsene, die existenzsichernde Leistungen der Grundsicherung (für Arbeitsuchende und im Alter) beziehen, erhalten eine Einmalzahlung von 200 Euro. Für Kinder in Bedarfsgemeinschaften der Grundsicherung gibt es einen Sofortzuschlag von 20 Euro pro Monat, also 240 Euro im Jahr. Gezahlt wird ferner ein Heizkostenzuschuss für Wohngeldbeziehende in Höhe von 270 Euro für Alleinstehende, 350 Euro für Zwei-Personen-Haushalte und zusätzlich für weitere Mitbewohnende im Haushalt von jeweils 70 Euro. Studierende, SchülerInnen sowie Auszubildende erhalten einen Heizkostenzuschuss von 230 Euro. Diese Maßnahmen kosten schätzungsweise 1,4 Milliarden Euro. Die Verteilungsanalysen in diesem Wochenbericht berücksichtigen zusätzlich die Übernahme von Heizkosten im Rahmen der Kosten der Unterkunft bei den Beziehenden der Grundsicherung, die bei den Belastungen durch die Energiepreiserhöhungen berücksichtigt werden. Diese höheren Sozialleistungen entlasten die ärmeren Haushalte kräftig: Im untersten Dezil machen sie 2,6 Prozent des Nettoeinkommens aus. Haushalte mit höheren Einkommen beziehen keine existenzsichernden Transferleistungen.
Ein Einmalbonus beim Kindergeld in Höhe von 100 Euro je Kind kommt allen Familien zugute, einschließlich solchen, die Grundsicherungsleistungen beziehen. Dieser Einmalbonus wird bei besserverdienenden Familien im Zuge der Einkommensteuerveranlagung im kommenden Jahr mit der Entlastungswirkung des Kinderfreibetrags verrechnet – so wurde es auch beim Corona-Kinderbonus der Jahre 2020 und 2021 gehandhabt. Dadurch profitieren Familien ab dem achten Einkommensdezil letztlich kaum oder gar nicht von dieser Leistung, was in den Verteilungsanalysen berücksichtigt ist.
Bei der Einkommensteuer sollen rückwirkend zum 1. Januar 2022 der Grundfreibetrag um 363 Euro angehoben werden, der Arbeitnehmer-Pauschbetrag um 200 Euro steigen und die Fernpendlerpauschale ab dem 21. Entfernungskilometer der Arbeitswege von 0,35 auf 0,38 Euro je Kilometer erhöht werden. Diese Änderungen sollen auch beim laufenden Lohnsteuerabzug wirksam werden. Beim Einkommensteuertarif bleiben die Tarifgrenzen unverändert, ebenso die Grenzsteuersätze ab der zweiten Progressionszone. Dies vermeidet eine steigende Entlastungswirkung bei höheren Einkommen. Ab einem zu versteuernden Einkommen von 15000 Euro werden alle Steuerpflichtigen mit jährlich 69 Euro entlastet, ab einem zu versteuernden Einkommen von 62500 Euro steigt die Entlastung durch den Rest-Solidaritätszuschlag auf 77,21 Euro und sinkt nach dem Ende der „Gleitzone“ der Freigrenze ab einem zu versteuernden Einkommen von 97000 Euro auf 72,80 Euro (bei zusammen veranlagten Ehepaaren jeweils die doppelten Beträge). Die Erhöhungen des Arbeitnehmer-Pauschbetrags und der Fernpendlerpauschale wirken hingegen mit dem individuellen Grenzsteuersatz – davon profitieren Steuerpflichtige mit höheren Einkommen stärker als niedrige Einkommen. Durch das große Gewicht der Erhöhung des Grundfreibetrags mit ihren absolut gleichen Entlastungsbeträgen wirkt die Steuersenkung relativ stärker bei den Mittelschichten. Geringverdienende profitieren kaum davon, da sie nur wenig Einkommensteuer zahlen.
Erwerbstätige erhalten eine einmalige Energiepreispauschale von 300 Euro. Die Pauschale ist einkommensteuerpflichtig, dadurch wird sie mit dem individuellen Grenzsteuersatz abgeschmolzen. Bei ArbeitnehmerInnen soll die Leistung von den Arbeitgebern ausgezahlt sowie bei Anmeldung und Abführung der Lohnsteuer verrechnet werden. Im Einzelfall wird die Prämie also auch ausgezahlt, wenn die Lohnsteuerbelastung geringer ist („Negativsteuer“). Unklar ist noch, ob auch MinijobberInnen die Energiepreispauschale erhalten sollen. In den Simulationsrechnungen wird angenommen, dass sie die Leistung nicht bekommen. Selbständige erhalten einen Vorschuss über eine einmalige Senkung ihrer Einkommensteuer-Vorauszahlung. Hierbei muss noch geklärt werden, wie bei Selbständigen mit geringerer Vorauszahlung verfahren wird. RentnerInnen, PensionärInnen und BezieherInnen von Arbeitslosengeld bekommen keine Leistung. Die Energiepreispauschale entlastet vor allem die Mittelschichten relativ stark, da in diesen Gruppen die Erwerbstätigen ein deutlich höheres Gewicht haben als bei unteren Einkommen. Bei Besser- und Hochverdienenden wird die Energiepreispauschale mit dem Einkommensteuertarif abgeschmolzen und fällt zudem in Relation zu deren hohen Nettoeinkommen weniger ins Gewicht.
Die Energiesteuer auf Kraftstoffe soll für drei Monate auf die europäischen Mindeststeuersätze gesenkt werden. Einschließlich Mehrwertsteuer bedeutet das für Super-Benzin eine Entlastung an der Tankstelle von 35,2 Cent je Liter, bei Diesel von 16,7 Cent je Liter – sofern die Steuersenkung vollständig in Form niedrigerer Endverbrauchspreise weitergegeben wird. Dies entlastet die privaten Haushalte um 2,3 Milliarden Euro, Wirtschaft und Verwaltung um 0,9 Milliarden Euro. Die Senkung der Kraftstoffsteuer entlastet die Haushalte relativ gleichmäßig über die Einkommensverteilung, entsprechend den Belastungen durch die Kraftstoffausgaben. Auch Besser- und Hochverdienende, die im Durchschnitt deutlich mehr Kraftstoff verbrauchen als Geringverdienende, profitieren an der Tankstelle.
Ergänzend soll der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) für drei Monate mit einem Neun-Euro-Monatsticket gefördert werden. Die Verkehrsunternehmen werden dafür mit höheren Regionalisierungsmitteln des Bundes kompensiert. Das kostet die öffentlichen Haushalte schätzungsweise drei Milliarden Euro, da auch die BestandskundInnen von Zeitkarten von der Förderung profitieren sollen. Sehr unsicher ist aber die Inanspruchnahme der Vergünstigung durch NeukundInnen. Die Verteilungswirkungen dieser Förderung des Nahverkehrs können hier nicht dargestellt werden, da hierzu Informationen im SOEP fehlen. Sie dürfte aber eher die Haushalte mit geringeren und mittleren Einkommen sowie die Ballungsräume begünstigen, in denen der ÖPNV eine größere Rolle spielt als in ländlichen Räumen.Vgl. Stefan Bach, Michelle Harnisch und Niklas Isaak (2018): Verteilungswirkungen der Energiepolitik – Personelle Einkommensverteilung. Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie, 28 f. (online verfügbar).
Insgesamt machen die Entlastungspakete ohne die ÖPNV-Förderung bei den Privathaushalten auf das gesamte Jahr 2022 gerechnet rund 1,3 Prozent des Nettoeinkommens aus, also nur ein Drittel der Belastungen. Durch das hohe Gewicht der Sozialleistungen einschließlich des Heizkostenzuschusses wird das untere Dezil um 3,7 Prozent entlastet, was den sehr hohen Belastungen entgegenwirkt. Allerdings spielen diese Leistungsausweitungen ab dem vierten Dezil keine Rolle mehr. In den Mittelschichten bewegen sich die Entlastungen bei rund 1,5 Prozent des Nettoeinkommens, im zehnten Dezil sinken sie auf 0,7 Prozent.
Nimmt man die Belastungen durch die hohen Energiepreise und die Entlastungspakete zusammen, ergeben sich für das gesamte Jahr 2022 im Durchschnitt aller Haushalte per saldo Belastungen in Höhe von 2,1 Prozent. Diese sind deutlich regressiv verteilt: Die unteren Dezile werden im Durchschnitt mit rund drei Prozent belastet, während es in den oberen Einkommensgruppen deutlich unter zwei Prozent sind, im obersten Dezil nur 1,3 Prozent (Abbildung 1).
Die sogenannten „Box-Whisker-Plots“ geben die Streuung der gesamten saldierten Effekte aus Be- und Entlastungen innerhalb der Dezile sowie für die Haushalte insgesamt an. Ferner wird der Median angegeben, also der Gesamteffekt für die Haushalte genau in der Mitte der Verteilung innerhalb der jeweiligen Dezile. Dabei zeigt sich, dass der Median durchgängig unter dem Durchschnittswert liegt. Das heißt, dass die Streuung der Entlastungen und der moderaten Belastungen geringer ist als bei den hohen Belastungen. Auch in den unteren Einkommensgruppen gibt es viele Haushalte mit sehr hohen Belastungen: Zum Beispiel werden im untersten Einkommensdezil ein Viertel der Haushalte per saldo mit mehr als 5,5 Prozent belastet, auch vom zweiten bis zum sechsten Dezil wird ein Viertel der Haushalte mit mehr als drei bis vier Prozent belastet. Dies deutet darauf hin, dass es viele Härtefälle gibt, die gegebenenfalls besondere Hilfen brauchen.
PendlerInnen werden durch die hohen Kraftstoffpreise besonders belastet. Dies zeigt sich für Haushalte, in denen mindestens eine Erwerbstätige beziehungsweise ein Erwerbstätiger mit einer Entfernung zum Arbeitsplatz von mindestens 15 Kilometern lebt (Abbildung 2).Die Einordnung in die Einkommensdezile orientiert sich weiterhin an der gesamten Bevölkerung, dadurch sind die Wirkungen in den Einkommensdezilen vergleichbar. Zugleich werden diese Haushalte durch die Energiepreispauschale und die Einkommensteuersenkungen stärker entlastet als die Gesamtheit aller Haushalte. Die Mittelschicht-Haushalte mit PendlerInnen kommen also per saldo nicht schlechter weg als die Mittelschicht-Haushalte insgesamt. Bei den Besser- und Hochverdienenden sind die Belastungen der PendlerInnen per saldo etwas höher. Allerdings ist die Streuung der Belastungen bei den PendlerInnen sehr hoch, beim Median ergeben sich für mittlere und höhere Einkommen sogar niedrigere Belastungen als für die Haushalte insgesamt.
RentnerInnen-Haushalte – hier definiert als Haushalte, deren Bruttoeinkommen zu mindestens 50 Prozent aus Alterseinkünften besteht – werden durch die hohen Kraftstoffpreise weniger belastet als die Bevölkerung insgesamt (Abbildung 3). Dagegen werden sie bei den Heizkosten stärker belastet. Zugleich profitieren sie deutlich weniger von den Entlastungspaketen als Erwerbstätige, vor allem bei der Einkommensteuer und bei der Energiepreispauschale. Dadurch übersteigen die Belastungen für RentnerInnen mit geringen und mittleren Einkommen spürbar die Belastungen für die Haushalte insgesamt. Auch für die Median-Haushalte, also jeweils den Haushalt eines Dezils genau in der Mitte der Verteilung, sind die Belastungen deutlich größer – es gibt also mehr Haushalte mit höheren Belastungen. Hier ergibt sich gegebenenfalls ein zusätzlicher Entlastungsbedarf, wenn die hohen Energiepreise bis in das nächste Jahr hinein anhalten. Allerdings fällt die Rentenerhöhung Anfang Juli dieses Jahr recht hoch aus.
Durch die hohen Energiepreise kommen auf die ärmeren Haushalte mittelfristig erhebliche Belastungen zu – ganz zu schweigen von den Preiserhöhungen bei weiteren Produkten, die in den hier vorgelegten Simulationsrechnungen noch nicht berücksichtigt sind. Die Entlastungspakete der Ampel-Koalition bringen in den nächsten Monaten spürbare Erleichterungen vor allem durch die Einmalzahlungen bei den Sozialleistungen oder die Energiepreispauschale. Mittelfristig dürften sich aber die Heizkosten verdoppeln, wie es in den Simulationsrechnungen berücksichtigt ist. Dann drohen den Geringverdienenden Realeinkommensverluste von durchschnittlich drei Prozent, in vielen Fällen auch deutlich mehr. Diese müssen dann ihren Konsum anderweitig einschränken, da sie zumeist kaum Möglichkeiten haben, Ersparnisse zu verringern oder Schulden zu machen. Hier sollte die Politik bei den Sozialleistungen nachbessern, wenn die hohen Energiepreise aller Voraussicht nach noch bis weit in das nächste Jahr hinein anhalten.
Auch die Haushalte mit mittleren und höheren Einkommen werden von den hohen Energiepreisen spürbar getroffen, obwohl sie vor allem von den Entlastungen bei der Einkommensteuer sowie der einmaligen Energiepreispauschale profitieren. Noch höhere Entlastungen reißen neue Löcher in die öffentlichen Haushalte. Ferner heizen breite defizitfinanzierte Entlastungen die Inflation weiter an. Insgesamt wird die Volkswirtschaft durch die hohen Energiepreise ärmer, die Belastungen werden also durch die Entlastungsprogramme nur umverteilt und verschoben – und sei es in die Zukunft, indem die Staatsschulden ausgeweitet werden. Das spricht dafür, Besser- und Hochverdienende nicht zu entlasten und mittelfristig die Steuern auf höhere Einkommen und Vermögen zu erhöhen, um die fiskalische Nachhaltigkeit zu stärken – zumal angesichts der weiteren Herausforderungen für die öffentlichen Haushalte.
In jedem Fall sollten die Entlastungen die Anreize zum Energiesparen erhalten. Insofern ist die Steuerentlastung bei den Kraftstoffen fragwürdig. Diese Mittel sollten besser zur Entlastung besonders betroffener Gruppen eingesetzt werden, wie PendlerInnen oder Unternehmen in Logistik und Verkehr. Auch das Neun-Euro-Monatsticket für den ÖPNV ist insoweit kritisch zu sehen, da es vermutlich erhebliche Mitnahmeeffekte auslösen wird. Hier wäre es sinnvoller, die Betriebskostenerhöhungen im ÖPNV aufzufangen und darüber hinaus gegebenenfalls die Preise für alle Tickets temporär um zum Beispiel 20 Prozent zu senken oder PendlerInnen mit einem Neukundenprogramm gezielter zum Umstieg zu bewegen.
Die Abstimmung der verschiedenen Sozialleistungen sowie deren Kombination mit der Einkommensteuer bleiben eine dauernde Herausforderung. Auch bei der Energiepreispauschale gibt es noch viele offene Fragen, etwa zur Einbeziehung in die Lohnsteuer, zur Behandlung von MinijobberInnen oder von Selbständigen ohne Vorauszahlungen oder zur Versteuerung der Pauschale. Daher sollte für künftige Herausforderungen das im Koalitionsvertrag vereinbarte Klimageld zügig auf den Weg gebracht werden, wie es im zweiten Entlastungspaket der Regierungskoalition auch vereinbart wurde. Damit könnten Direktzahlungen an alle privaten Haushalte schnell und unbürokratisch abgewickelt werden. Wenn dabei alle verfügbaren Informationen der Steuer- und Sozialbehörden zur Haushaltszusammensetzung und zum Einkommen genutzt werden, können die Leistungen auch nach sozioökonomischen Merkmalen differenziert werden.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Ressourcenmärkte, Energiewirtschaft
JEL-Classification: Q21;D31;H23
Keywords: Energy prices, distribution, tax and transfer reform
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-17-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/254318