DIW Wochenbericht 18 / 2022, S. 272
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„Ein guter Tag für Europa“ war der Tenor nach dem Wahlsieg Emmanuel Macrons in Frankreich am vergangenen Sonntag. Aber kann man davon wirklich sprechen, wenn fast 42 Prozent der Wählerinnen und Wähler ihre Stimme der rechtsradikalen Kandidatin Marine Le Pen gegeben haben und sich damit für Rassismus und Ausgrenzung und gegen Europa und Integration ausgesprochen haben?
Die Wahlen in Frankreich sollten auch in Deutschland als Weckruf wahrgenommen werden und als Aufforderung, dass die westlichen Demokratien sich grundlegend wandeln müssen. Denn ein zentraler Grund für die Unzufriedenheit vieler Wählerinnen und Wähler, nicht nur in Frankreich, sondern auch in anderen europäischen Staaten, ist die große Unzufriedenheit über die zunehmende soziale Polarisierung, die durch die Corona-Pandemie und den Krieg in der Ukraine nochmals deutlich verschärft wird. Politik und Gesellschaft müssen daher eine ehrliche Bestandsaufnahme wagen und verstehen, wo die zunehmende Ablehnung moderater und demokratischer Kräfte auch im Westen ihren Ursprung hat. Auch in Frankreich haben die Wahlen verdeutlicht, dass die soziale Polarisierung, die gefühlte Hoffnungslosigkeit und Frustration mit der wirtschaftlichen und politischen Lage immer mehr Menschen in die Arme von Populisten treibt. Dies könnte sich angesichts der hohen Preissteigerungen bei Energie und Lebensmitteln in den nächsten beiden Jahren nochmals verschärfen.
Die Erwartung an Bundeskanzler Scholz und die Bundesregierung ist, dass sie anders als ihre Vorgänger nicht Emmanuel Macron und Frankreich die kalte Schulter zeigen, sondern die ausgestreckte Hand ergreifen, um die Europäische Union gemeinsam grundlegend zu reformieren. Dazu gehört vor allem, die zunehmende soziale Polarisierung innerhalb Europas zu adressieren. Dafür muss ein sozialeres Europa in den Mittelpunkt der Agenda der EU rücken. Dies erfordert gemeinsame Standards in den Sozialsystemen, welche sicherstellen, dass überall in Europa die verletzlichsten Mitglieder der Gesellschaft einen ausreichenden Schutz und eine wirkliche Chance auf soziale Teilhabe haben.
Zum zweiten verdeutlicht der Krieg gegen die Ukraine, wie dringend Europa eine gemeinsame Sicherheitspolitik und allen voran eine gemeinsame Armee benötigt. Deutschland gibt nicht viel weniger Geld für Verteidigung aus als Russland, hat aber eine dysfunktionale und kaum einsatzfähige Bundeswehr. Eine gemeinsame Armee mit einer paneuropäischen Beschaffung würde die Sicherheit Europas deutlich stärken, ohne dass sehr viel mehr Geld in Verteidigung fließen müsste. Die Schaffung eines Sondervermögens von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr ist dann ein Fehler, wenn dieses Geld in einem rein nationalen Kontext mit rein nationaler Beschaffung wohl nicht grundlegend etwas an der mangelnden Verteidigungsfähigkeit Deutschlands ändern würde.
Eine dritte Priorität für Scholz und Macron sind die Reformen der Wirtschaftspolitik und des Klimaschutzes. Wir sollten in Deutschland mit dem Krieg gegen die Ukraine endlich verstehen, dass wir unsere Abhängigkeit von Russland und China reduzieren müssen und dass die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft von der Frage abhängt, wie gut und attraktiv die Standortbedingungen nicht nur in Deutschland, sondern in Europa sind. Zudem braucht es, damit sich alle europäischen Länder wirtschaftlich erholen können, eine Neuauflage oder zumindest deutliche Stärkung des Wiederaufbaufonds und auch grundlegende Reformen der Maastricht-Kriterien und Schuldenregeln. Nur so kann sichergestellt werden, dass einerseits die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen gesichert ist und andererseits wichtige Zukunftsinvestitionen in die soziale, ökologische und digitale Transformation fließen können.
Deutschland braucht Frankreich und Europa heute mehr denn je. Jetzt ist der Zeitpunkt für die Bundesregierung, mutig voranzugehen und die deutsch-französische Partnerschaft wieder zum Motor der Modernisierung Europas zu machen.
Dieser Kommentar ist in einer längeren Version am 27. April 2022 bei t-online.de erschienen.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Klimapolitik, Europa
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-18-3
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/259565