Statement vom 5. Mai 2022
Als Reaktion auf die hohe Inflation hat die US-Notenbank Fed die Leitzinsen erhöht. Diesen Schritt und ob das auch für die Europäische Zentralbank (EZB) der richtige Weg wäre, kommentiert Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), wie folgt:
Dass die US-amerikanische Notenbank den Leitzins erhöht, ist richtig und überfällig. Für die EZB wäre eine Zinserhöhung zu diesem Zeitpunkt jedoch ein Fehler. Die amerikanische und die europäische Wirtschaft befinden sich in völlig unterschiedlichen Situationen. Auch dank einer stark expansiven Finanzpolitik haben sich die USA deutlich schneller als Deutschland und Europa von der Pandemie erholt. Zudem trifft der Krieg gegen die Ukraine die europäische Wirtschaft um ein Vielfaches stärker als die amerikanische. Mit jeder Woche, die der Krieg andauert, wächst der wirtschaftliche Schaden für Europa. Ein Lieferstopp oder ein Embargo werden immer wahrscheinlicher. Solche Beschränkungen würden die europäische Wirtschaft in den kommenden beiden Jahren in eine Rezession treiben. In dieser Situation dürfte die EZB gezwungen sein, ihren Kurs der expansiven Geldpolitik nicht nur fortzusetzen, sondern nochmals zu verstärken.
Ein starker Zinsanstieg der EZB in den kommenden Monaten würde wirtschaftlich mehr schaden als nutzen. Eine Zinserhöhung dürfte wenig an der hohen Inflation ändern, da diese in Europa anders als in den USA vor allem durch höhere Energiepreise und Nahrungsmittelpreise getrieben wird. Ein starker Zinsanstieg würde dagegen die Wirtschaft bremsen und Unternehmen, die ohnehin schon wegen höherer Kosten zu kämpfen haben, nochmals schwächen. Auch für Beschäftigte würde ein zu starker Zinsanstieg Probleme verursachen, etwa wenn Unternehmen Arbeitskräfte entlassen oder keine neuen einstellen können. Die Sparerinnen und Sparer dürften sich zwar über geringfügig höhere Zinsen auf dem Sparbuch freuen, sie könnten aber gleichzeitig durch niedrigere Arbeitseinkommen leiden.
Geringe Zinserhöhungen der EZB im zweiten Halbjahr 2022 und ein Ende des Anleihenkaufprogramms halte ich hingegen für wünschenswert und richtig. Wir dürfen jedoch das Risiko einer Eskalation des Kriegs und eines Explodierens der wirtschaftlichen Kosten nicht weiter unterschätzen. In einem solchen Fall müsste die EZB dann wohl wieder einen Kurswechsel vollziehen, um noch größeren wirtschaftlichen Schaden zu verhindern.
Themen: Geldpolitik