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Folgen der Inflation treffen untere Mittelschicht besonders: staatliche Hilfspakete wirken nur begrenzt

DIW Wochenbericht 28 / 2022, S. 387-394

Maximilian Priem, Alexander S. Kritikos, Octavio Morales, Johanna Schulze Düding

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  • Konsumentenpreise sind im ersten Halbjahr 2022 stark angestiegen, insbesondere für Energie und Güter des Grundbedarfs
  • Studie untersucht auf Basis von Einkommens- und Verbrauchsstichprobe und SOEP die Belastung deutscher Haushalte über den gesamten Warenkorb entlang der Einkommensverteilung
  • Preisanstieg belastet Haushalte umso mehr, je niedriger ihre Einkünfte sind
  • Hilfspakete entlasten vor allem das unterste Einkommensdezil, untere Mittelschicht ist aber weiterhin signifikant von Preissteigerungen betroffen
  • Sollte Inflation in der zweiten Jahreshälfte weiter zunehmen, sind insbesondere einkommensschwache Haushalte stärker von Armut gefährdet

„Die staatlichen Maßnahmen kompensieren die inflationsbedingten Mehrausgaben ab dem zweiten Einkommensdezil nicht mehr so deutlich wie bei den untersten Einkommen. Gerade die untere Mittelschicht benötigt mehr Entlastung, da deren finanzielle Spielräume für Einsparungen im Alltag nur sehr gering sind.“ Maximilian Priem

Steigende Preise für Lebensmittel und Energie treffen die Menschen in Deutschland merklich. Haushalte mit geringen Nettoeinkommen spüren den Preisanstieg besonders, da ihr Konsumanteil an den von der Inflation besonders betroffenen Gütern des Grundbedarfs sehr hoch ist. Bei der aktuell prognostizierten Inflation für 2022 belastet die Teuerung das unterste Einkommensdezil mit 5,3 Prozent ihres Nettohaushaltseinkommens, das oberste mit lediglich 1,1 Prozent. Steigt die Inflation stärker als erwartet, drohen weitere Mehrbelastungen. Die von der Bundesregierung beschlossenen Maßnahmenpakete entlasten zwar vor allem Haushalte im niedrigsten Einkommensdezil. Dennoch gleichen sie die Mehrbelastung nicht vollständig aus. Zudem lässt sich beobachten, dass Haushalte bereits ab dem zweitniedrigsten Einkommensdezil signifikant belastet bleiben. Vor allem wegen geringer Sparguthaben und wenigen Anpassungsmöglichkeiten ist die untere Mittelschicht besonders von Preissteigerungen betroffen. Weitere Hilfspakete sollten gezielt einkommensschwache Haushalte entlasten. So könnten beispielsweise die Grundsicherung vorzeitig angepasst und die Energiepreispauschale vor allem für die unteren Einkommen erhöht werden.

Als Folge der Covid-19-Pandemie sind Lieferketten weltweit von Engpässen betroffen. Durch den Angriffskrieg gegen die Ukraine hat sich die außergewöhnliche Angebotsknappheit in der ersten Jahreshälfte 2022 weiter zugespitzt. Dies lässt in vielen Bereichen, vor allem im Energie- und Lebensmittelbereich, die Preise steigen, was nicht nur die Unternehmen spüren, sondern auch private Haushalte. Der Verbraucherpreisindex des Statistischen Bundesamtes, der die Preisentwicklung von Waren und Dienstleistungen misst, die von privaten Haushalten zu Konsumzwecken erworben werden, verzeichnete in den vergangenen Monaten die höchsten Wachstumsraten im wiedervereinigten Deutschland (Abbildung 1). Im Mai 2022 erreichte die Inflation mit 7,9 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat einen neuen Höchstwert. Im Vergleich dazu lag die durchschnittliche Inflation der Jahre 2000 bis 2020 bei lediglich 1,4 Prozent.

Bereits im vergangenen Jahr zogen die Verbraucherpreise spürbar an: Die Jahresinflation stieg auf 3,1 Prozent.infoStatistisches Bundesamt (2022): Verbraucherpreisindizes für Deutschland. Monatsbericht Mai 2022. Fachserie 17, Reihe 7 (online verfügbar, abgerufen am 22. Juni 2022. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Für dieses Jahr gehen aktuelle Prognosen der Bundesbank von einer Gesamtinflation von 7,1 Prozent aus.infoDeutsche Bundesbank (2022): Perspektiven der deutschen Wirtschaft für die Jahre 2022 bis 2024. Monatsbericht, Juni 2022, 15–47 (online verfügbar). Damit würde die Inflation gegenüber dem Mittel der letzten zwei Dekaden sprunghaft um knapp sechs Prozentpunkte steigen. Einen solchen Preisanstieg hat die Bundesrepublik zuletzt vor rund 70 Jahren erlebt. Da die Unternehmen viele Preissteigerungen erst verzögert an die VerbraucherInnen weitergeben, ist es nicht ausgeschlossen, dass die Inflation in der zweiten Jahreshälfte weiter anzieht.

Naturgemäß trifft eine solche Preisexplosion nicht alle Haushalte gleichermaßen. Vielmehr hängen die zusätzlichen Belastungen der Haushalte davon ab, wie hoch ihr Konsumanteil an denjenigen Gütern ist, deren Preise besonders stark steigen. Vor diesem Hintergrund gibt der Bericht zunächst einen Überblick über die Teuerungsraten in einzelnen Konsumbereichen. Im Anschluss daran untersucht der Bericht, wie sich die Konsumquoten entlang der Einkommensverteilung in den jeweiligen Haushalten zusammensetzen, bevor die zusätzlichen Belastungen aus den Preissteigerungen für die verschiedenen Einkommensgruppen analysiert werden. Im Anschluss daran wird die Wirkung der zwei Entlastungspakete – wiederum differenziert nach Einkommensdezilen – überprüft.infoDie vorliegenden Berechnungen wurden im Rahmen eines Gutachtens von DIW Econ für die Diakonie Deutschland e.V. erstellt (online verfügbar). Die Untersuchung basiert auf den aktuellen Datensätzen der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) und des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP; Kasten).

Die zugrundeliegenden Berechnungen basieren auf einem statischen Modell ohne Verhaltensanpassung. Dafür werden auf Ebene der Einkommensquintile, Haushaltstypen und Regionen (Ost/West)infoEinkommensquintile gemäß der Verteilung äquivalenzgewichteter Nettohaushaltseinkommen. Haushaltstypen: Einpersonenhaushalte, Paare ohne Kinder, Alleinerziehende, Paare mit Kindern jünger als 17 Jahre, Paare mit Kindern mindestens 17 Jahre, Paare mit mindestens zwei Kindern, sowohl jünger als auch mindestens 17 Jahre, sonstige. Berlin vollständig als Region Ost. aggregierte Konsummuster aus der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS)infoDie Daten finden sich auf der Website des Forschungsdatenzentrums der Statistischen Ämter des Bundes und der Länder (online verfügbar). von 2018 und Daten auf Haushaltsebene des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP)infoJan Goebel et al. (2018): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Journal of Economics and Statistics, 345–260 (online verfügbar). aus dem Jahr 2020 (v37) miteinander verknüpft. Ausgehend von den gruppenspezifischen Konsumquoten und dem bis zum Jahr 2021 fortgeschriebenen Haushaltskonsumbudget werden jeweils die absoluten Ausgaben je Haushalt und Gütergruppe berechnet.infoHaushaltskonsumbudget und Haushaltsnettoeinkommen werden anhand der dezilspezifischen Wachstumsrate der letzten zehn Jahre fortgeschrieben. Haushaltskonsumbudget = Nettohaushaltseinkommen – Sparen. Die absolute Inflationsbelastung resultiert aus dem güterspezifischen Preisanstieg bei gleichbleibender Konsummenge.

In der EVS wird die genaue Zusammensetzung der Kraftstoffausgaben für eigene Verkehrsmittel nicht erfasst. Daher werden die Gesamtausgaben für Kraftstoffe aus der EVS nach dem Verhältnis von Ausgaben für Benzin und Diesel im SOEP aus dem Jahr 2020 aufgeteilt. Diese Relation berücksichtigt ebenfalls Unterschiede nach Einkommensquintilen, Haushaltstypen und Regionen. Auf die Berücksichtigung von Autogas und Autostrom wird aufgrund der geringen Bedeutung verzichtet.

Als Inflationsszenario wird die Bundesbank-Prognose vom Juni 2022 in Höhe von 7,1 Prozent für das Gesamtjahr 2022 zugrunde gelegt. Die güterspezifischen Preissteigerungen werden so angepasst, dass das Verhältnis der Preissteigerung von Januar bis Mai beibehalten wird.

Inflationsdynamik treibt insbesondere Preise von Gütern des Grundbedarfs

Eine differenzierte Betrachtung der Teuerungsraten nach Konsumbereichen zeigt, welche Waren und Dienstleistungen die Treiber der hohen Inflationsraten sind. Zu deren Untersuchung werden die Inflationsraten nach den zwölf Konsumbereichen herangezogen (Abbildung 2), wie sie die internationale Klassifikation der Verwendungszwecke des Individualverbrauchs vorsieht.infoUnited Nations (2018): Classification of Individual Consumption According to Purpose (COICOP) 2018. Statistical Papers, Series M, No. 99 (online verfügbar). Zusätzlich werden die Energiepreise nochmals separat herausgearbeitet, da diese in Folge des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine besonders große Dynamiken aufweisen.

Diese Energiepreise finden sich in den Komponenten Wohnen und Mobilität, die zusammen rund 45 Prozent des Warenkorbs ausmachen.infoStatistisches Bundesamt (2019): Preise/Verbraucherpreisindex für Deutschland/Wägungsschema für das Basisjahr 2015 (online verfügbar). Die Ausgaben für die Unterkunft werden unterteilt in Ausgaben für Wohnen inklusive Nebenkosten ohne Energie und in Ausgaben für die Haushaltsenergie wie Strom, Gas und andere Brennstoffe. Die Ausgaben für Mobilität werden ebenso differenziert nach Ausgaben für Fahrzeuge beziehungsweise Waren und Dienstleistungen für Fahrzeuge sowie Personen- und Güterbeförderung, die als Verkehr zusammengefasst werden, und nach Ausgaben für Kraft- und Schmierstoffe für Fahrzeuge, die als Mobilitätsenergie aufgeführt werden. Beide Energieuntergruppen, Haushaltsenergie und Mobilitätsenergie, machen zusammen rund zehn Prozent des deutschen Warenkorbs aus.

Bei Betrachtung der Inflationsraten der einzelnen Konsumbereiche stechen besonders die Energiepreise hervor. Die Preise für Mobilitätsenergie sind im Mai 2022 um 40,7 Prozent gegenüber Mai 2021 gestiegen und weisen damit die höchste hier betrachtete Teuerungsrate auf. Danach folgen die Preise für Haushaltsenergie, die um 36,8 Prozent stiegen. Die Preise für diese beiden Kategorien verzeichneten bereits seit Februar beziehungsweise März 2021 eine steigende Tendenz, jedoch hat sich diese seit März 2022 deutlich verstärkt.infoStatistisches Bundesamt (2022), a.a.O.

Neben den stark gestiegenen Energiepreisen zogen auch die Preise für Nahrungsmittel deutlich an. Nahmen sie bereits in den Jahren 2020 und 2021 durchschnittlich um 2,7 Prozent zu, verstärkte sich der Trend 2022 nochmals mit Preissteigerungen von 8,0 Prozent im April und von 10,7 Prozent im Mai.

Andere Bereiche wie beispielsweise Preise für Waren und Dienstleistungen der Post und Telekommunikation (0,0 Prozent), der Gesundheit (1,1 Prozent) oder des Bildungswesens (1,5 Prozent) weisen deutlich geringere Teuerungsraten auf. Mithin sind insbesondere Waren und Dienstleistungen des Grundbedarfs und Energiepreise von hohen Teuerungsraten betroffen.infoZur Einordnung von Waren und Dienstleistungen in Bedarfskategorien siehe beispielsweise Bernhard Christoph (2016): Materielle Lebensbedingungen im Grundsicherungsbezug. WSI Mitteilungen 5, 344–352 (online verfügbar). Für gewöhnlich zählt zum Grundbedarf Nahrung, Unterkunft und Kleidung. Auf letztere wird in der weiteren Analyse nicht eingegangen, da die Preissteigerung in diesem Bereich vergleichsweise gering ausfiel.

Einkommensschwache Haushalte konsumieren anteilig mehr inflationsbelastete Güter

Wenn die Inflationstrends nach Konsumbereichen so unterschiedlich ausfallen, ist zu erwarten, dass auch die Haushalte entlang der Einkommensverteilung unterschiedlich betroffen sind, da die Konsumquoten maßgeblich von der Einkommenshöhe und der Zusammensetzung der Haushalte abhängen.infoCarsten Schröder et al. (2020): Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns auf Haushaltseinkommen, Konsum- und Sparverhalten. Endbericht für die Mindestlohnkommission (online verfügbar). Um die tatsächliche Auswirkung der Inflation entlang der Einkommensverteilung zu betrachten, muss neben den nach Konsumbereichen differenzierten Inflationsraten auch der entsprechende Waren- und Dienstleistungskonsum der Haushalte herangezogen werden. Wer anteilig mehr Ausgaben für Waren und Dienstleistungen mit hohen Teuerungsraten aufwendet, ist auch relativ stärker von deren Preiserhöhungen betroffen.

Bei Betrachtung der Konsummuster fällt auf, dass die einkommensschwächeren Haushalte den Großteil ihres Konsums für Waren und Dienstleistungen des Grundbedarfs ausgeben (Abbildung 3). Im untersten Einkommensquintil, also den 20 Prozent der Haushalte mit dem niedrigsten äquivalenzgewichteten NettoeinkommeninfoUm die Einkommenssituation von Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung vergleichbar zu machen, wird für die Haushaltsmitglieder ein bedarfsgewichtetes Pro-Kopf-Nettoeinkommen (Äquivalenzeinkommen) nach der international üblichen Bedarfsskala (neue OECD-Skala) ermittelt, vgl. den Begriff „Äquivalenzeinkommen“ im DIW Glossar (online verfügbar). Anschließend wird die Bevölkerung nach der Höhe dieses Einkommens in zehn oder fünf gleich große Gruppen geordnet (Dezile beziehungsweise Quintile)., stellt der Konsum für Nahrungsmittel und Wohnen (inklusive Haushaltsenergie) zusammengenommen nahezu zwei Drittel des Gesamtkonsums (62,1 Prozent) dar. Bei den einkommensstärksten 20 Prozent der Haushalte, dem obersten Quintil, machen die Waren und Dienstleistungen des Grundbedarfs hingegen nur 44,1 Prozent des Gesamtkonsums aus. Einkommensschwächere Haushalte geben somit anteilig rund 18 Prozentpunkte mehr zur Deckung ihres Grundbedarfs aus.

Stark ins Gewicht fallen dabei die Ausgaben für Nahrungsmittel und alkoholfreie Getränke. Haushalte des unteren Quintils geben anteilig über 60 Prozent mehr ihrer Konsumausgaben für Nahrungsmittel aus als die einkommensstärkeren Haushalte des oberen Quintils (16,8 Prozent versus 10,3 Prozent). Auch der Anteil der Konsumausgaben für die Unterkunft ist bei einkommensschwächeren Gruppen deutlich höher. Für Wohnen inklusive Nebenkosten gibt das einkommensschwächere unterste Quintil anteilig ein Viertel mehr aus als das obere Quintil (36,5 Prozent versus 29,1 Prozent). Bei den Konsumausgaben für die Haushaltsenergie ist der Unterschied am stärksten ausgeprägt: Das untere Quintil wendet anteilig 85 Prozent mehr seiner Konsumausgaben für Strom, Gas und andere Brennstoffe auf als das obere Quintil (8,8 Prozent versus 4,8 Prozent).

Für die Konsumbereiche der Mobilität, die ebenfalls von starken Preissteigerungen betroffen sind, zeigt sich ein anderes Bild, das vor dem Hintergrund der Diskussion um den Tankrabatt besonders relevant ist. Die anteiligen Ausgaben für Verkehr sind bei dem einkommensstärksten Quintil mit 8,9 Prozent nahezu doppelt so hoch wie bei dem untersten Quintil (4,5 Prozent). Dies ist unter anderem darin begründet, dass der Kauf von Fahrzeugen in die Kategorie Verkehr fällt, wobei das unterste Quintil nur sehr selten Fahrzeuge kauft. Im untersten Quintil besitzt nur rund die Hälfte der Haushalte ein Auto. Im obersten Quintil liegt der Anteil dagegen bei über 90 Prozent.infoEigene Berechnungen auf der Grundlage des SOEP (v37) für das Jahr 2020. Dementsprechend sind auch Ausgaben für Mobilitätsenergie weniger relevant für das unterste Einkommensquintil (2,3 Prozent) als für das oberste Quintil (3,8 Prozent).

Preissteigerungen treffen am stärksten einkommensschwache Haushalte

Die Betrachtung der differenzierten Inflationsraten und spezifischen Konsummuster ermöglicht es, die Inflationsbelastung für die verschiedenen Einkommensgruppen zu untersuchen. Bereits bei den Konsummustern fällt auf, dass insbesondere Haushalte mit geringerem Einkommen vergleichsweise große Anteile ihrer Konsumausgaben für Waren und Dienstleistungen aufwenden, die in jüngster Zeit von hohen Preissteigerungen betroffen sind. Diese Beobachtung wird in der errechneten Belastung der Haushalte unterteilt nach Einkommensdezilen auf Grundlage der SOEP-Daten bestätigt (Kasten).

Bei einer von der Bundesbank prognostizierten Inflation von 7,1 ProzentinfoAuf der Grundlage der aktuellen Inflationsentwicklung vom Mai (7,9 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat) geht das Szenario also davon aus, dass sich die Preisdynamik in der zweiten Jahreshälfte etwas beruhigen wird. Vgl. Deutsche Bundesbank (2022), a.a.O. werden die Haushalte des untersten Dezils 2022 eine Mehrbelastung von 5,3 Prozent erfahren (Abbildung 4).infoBelastungen sind hier definiert als höhere Ausgaben gegenüber dem Jahr 2021 in Prozent des Nettohaushalteinkommens bei unverändertem Konsumverhalten. Dynamische und inflationsbedingte Änderungen im Konsumverhalten wurden für Betrachtungen im vorliegenden Bericht aus Gründen der Komplexität vernachlässigt. Dies bedeutet, dass die zehn Prozent der Haushalte mit dem niedrigsten Einkommen 5,3 Prozent ihres Nettoeinkommens mehr aufwenden müssten, um den gleichen Konsum wie im Vorjahr zu realisieren. Mit steigendem Einkommen nimmt die relative Mehrbelastung tendenziell ab: Für das oberste Dezil liegt die Mehrbelastung lediglich bei 1,1 Prozent.

Der Preisbelastung bei den einkommensschwächeren Haushalten von 5,3 Prozent setzt sich insbesondere aus Haushaltsenergie (2,2 Prozentpunkte) und Nahrungsmitteln (1,5 Prozentpunkte) zusammen. An dritter Stelle steht mit 0,7 Prozentpunkten die Belastung durch die Mobilitätsenergie. Damit machen diese drei Konsumbereiche bereits mehr als 80 Prozent der gesamten Mehrbelastung des untersten Dezils aus.

Auch für das oberste Dezil stellen diese Konsumbereiche die größte Belastung dar, allerdings in einem geringeren Ausmaß. Die Belastung durch Preisanstiege der Haushaltsenergie liegt bei 1,0 Prozentpunkten und die der Nahrungsmittel bei 0,4 Prozentpunkten.infoDie Belastung der drei genannten Bereiche ist summiert höher als die Gesamtbelastung, was darauf zurückzuführen ist, dass das prognostizierte Einkommenswachstum der oberen Dezile teilweise über den Inflationsraten einzelner Konsumbereiche liegt, wodurch die Inflationsbelastung teilweise ausgeglichen wird. Eine höhere Belastung gegenüber den einkommensschwächeren Haushalten ist bei der Mobilitätsenergie zu erkennen: Einkommensstarke Haushalte sind von Preisanstiegen bei Kraft- und Schmierstoffen mit 0,9 Prozentpunkten ihres Nettoeinkommens anteilig stärker betroffen als einkommensschwächere Haushalte. Grund dafür dürfte der bereits angesprochene höhere Anteil an FahrzeughalterInnen in einkommensstarken Gruppen sein.

Bei der Interpretation der Haushaltsbelastungen ist zu beachten, dass keine Anpassungseffekte berücksichtigt wurden. Tatsächlich werden die Haushalte als Reaktion auf gestiegene Preise ihren Konsum teilweise einschränken. Da die höchsten Belastungen jedoch von Waren und Dienstleistungen des Grundbedarfs ausgehen, die durch geringe Preiselastizitäten gekennzeichnet sind, dürften sich die Einsparmöglichkeiten in Grenzen halten. Das bedeutet, dass die Nachfrage nach solchen Gütern nur in geringem Ausmaß auf Preisänderungen reagiert.infoIn der Literatur findet sich für die Energienachfrage privater Haushalte zwar eine etwas höhere Elastizität als für die Industrienachfrage. Mit Werten um etwa −0,2 sind sie in der kurzen Frist dennoch vergleichsweise rigide. Siehe dazu beispielsweise Karsten Neuhoff (2022): Defining Gas Price Limits and Gas Saving Targets for a Large-scale Gas Supply Interruption. DIW Politikberatung kompakt 180 (online verfügbar). Außerdem ist es für die anschließende Berechnung der Wirkung von Politikmaßnahmen wichtig, von einer konstanten Nachfrage auszugehen.

Darüber hinaus darf nicht vergessen werden, dass Haushalte insbesondere auf Preisanstiege bei Strom und Gas in der Regel nur zeitlich verzögert reagieren und ihr Verhalten anpassen.infoFür nähere Informationen zu Elastizitäten und Verhaltensanpassungen siehe Hannah Förster et al. (2021): Auswirkungen des Klimawandels im Bereich Ernährung – Verteilungswirkungen am Beispiel von Nahrungsmittelgruppen. Forschungsbericht 583 des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales in Zusammenarbeit mit dem Öko-Institut e.V. Freiburg i. Breisgau (online verfügbar) oder Katja Rietzler (2022): Vorübergehende Energiesteuersenkung klima- und verteilungspolitisch fragwürdig. IMK Policy Brief Nr. 122 (online verfügbar). Hinzu kommt, dass ein Verzicht an quantitativen Konsum, der durch höhere Preise ausgelöst wird, die Lebensqualität einschränkt, was für die Haushalte ebenso eine zusätzliche Belastung darstellt wie Mehrausgaben. Dies wird vermehrt bei einkommensschwächeren Haushalten der Fall sein, die teilweise bereits zu Jahresbeginn eine Konsumquote von 100 Prozent oder mehr aufwiesen.

Alternativszenario weiter steigender Inflation: Belastung nimmt zu

Die Inflationsprognosen der Bundesbank und anderer wissenschaftlicher Einrichtungen gehen von einer Beruhigung insbesondere der Energiekosten aus. Da Prognosen mit großer Unsicherheit behaftet sind und unklar ist, wie sich die Lieferketten und der Ukraine-Krieg weiterentwickeln, ist nicht auszuschließen, dass die Teuerung im Gesamtjahr 2022 über die bisher prognostizierten 7,1 Prozent steigt. Im Durchschnitt haben sich die Preise in den Monaten Januar bis Mai um 1,1 Prozent je Monat gegenüber dem jeweiligen Vormonat erhöht. Schreibt man diese Teuerungsrate fort, erhält man als Alternativszenario eine Jahresinflation von 9,3 Prozent.

Unter diesen Umständen müssten die einkommensschwächeren Haushalte des untersten Dezils 7,3 Prozent ihres Nettoeinkommens mehr für ihren Konsumbedarf ausgeben als im Jahr 2021, also ein gutes Drittel mehr als bei einer Inflation von 7,1 Prozent. Die Durchschnittsbelastung über alle Dezile hinweg läge dann bei nahezu sechs Prozent. Das oberste Dezil wäre mit 2,7 Prozent statt 1,1 Prozent belastet.

Entlastungspakete wirken begrenzt

Angesichts der hohen Inflation hat die Bundesregierung bereits erste Maßnahmen zur Entlastung der BürgerInnen verabschiedet. In zwei Entlastungspaketen umfassen diese unter anderem eine einmalige Energiepreispauschale, Einmalzahlungen für EmpfängerInnen von Sozialleistungen, einmalige Heizkostenzuschüsse, die vorgezogene Abschaffung der EEG-Umlage und die Senkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe (Tankrabatt).infoErgebnis des Koalitionsausschusses vom 23. Februar 2022: Zehn Entlastungsschritte für unser Land (online verfügbar); Ergebnis des Koalitionsausschusses vom 23. März 2022: Maßnahmenpaket des Bundes zum Umgang mit den hohen Energiekosten (online verfügbar). Die hier genannten Entlastungsmaßnahmen sind jene mit dem größten Effekt. Das Neun-Euro-Ticket für den ÖPNV wird in der Modellierung nicht berücksichtigt. Da andere Analysen zeigen, dass die Auswirkungen dieser Maßnahme vergleichsweise gering sind, ist davon auszugehen, dass sie auch hier nur geringe Auswirkungen auf die Ergebnisse hätte. Zur Analyse von Entlastungspaketen siehe auch Stefan Bach und Jakob Knautz (2022): Hohe Energiepreise: Ärmere Haushalte werden trotz Entlastungspaketen stärker belastet als reichere Haushalte. DIW Wochenbericht Nr. 17, 243–252 (online verfügbar). Zudem wird berücksichtigt, dass steigende Heizkosten bei GrundsicherungsempfängerInnen mit der Kostenübernahme für die Unterkunft abgefangen werden. Diese Maßnahmen entlasten die Haushalte bei einer Gesamtinflation von 7,1 Prozent für 2022 je nach Dezil zwischen 0,7 und 3,7 Prozent (Abbildung 5). Entlastung ist hier – analog zur Belastung – als zusätzlich zur Verfügung stehender Anteil des Nettoeinkommens 2022 gegenüber 2021 durch Entlastungsmaßnahmen zu interpretieren.

Die Entlastungen wirken aufgrund der Steuerprogression des Entlastungsbetrags bei den einkommensschwächeren Haushalten stärker als in den anderen Dezilen. Im untersten Dezil sinkt die Nettobelastung durch die Hilfsmaßnahmen auf 1,6 Prozent. Schon im zweiten Dezil ist die relative Nettobelastung aber deutlich höher (2,3 Prozent). Hier gibt es einige Haushalte, die durch das Raster der Transferzahlungen und Einkommenssteuervorteile fallen. Beispielsweise nehmen viele ärmere Rentnerhaushalte ihren Anspruch auf Grundsicherung nicht wahr und werden mit Transfererhöhungen nicht erreicht. Auch Einkommenssteuervorteile oder Zahlungen, die über Arbeitgeber ausgezahlt werden, sowie eine Kindergelderhöhung erreichen sie nicht.infoFür nähere Informationen zur verdeckten Altersarmut siehe beispielsweise Hermann Buslei et al. (2019): Starke Nichtinanspruchnahme von Grundsicherung deutet auf hohe verdeckte Altersarmut. DIW Wochenbericht Nr. 49, 909–918 (online verfügbar).

Insgesamt ist die Nettobelastung, gemessen als Differenz zwischen Be- und Entlastung, über alle Dezile positiv. Die beschlossenen Entlastungspakete reichen somit in keinem der Einkommensdezile aus, um die entstehende Belastung zu kompensieren. Die höchste Nettobelastung erfährt das sechste Einkommensdezil mit 2,8 Prozent des Nettoeinkommens. Im einkommensstärksten obersten Dezil ist die Belastung auch netto mit 0,4 Prozent geringer als im einkommensschwächsten Dezil.

Fazit: Zielgerichtetere Hilfen für untere Einkommen

Die Inflationsentwicklung in der ersten Jahreshälfte 2022 hat die Haushalte in Deutschland stark belastet. Dabei sind die Haushalte umso stärker betroffen, je weiter unten sie in der Einkommensverteilung liegen. Der Grund dafür ist, dass insbesondere die Preise für Energie und Güter des Grundbedarfs gestiegen sind und diese in den unteren Einkommensdezilen einen größeren Anteil am Haushaltskonsum ausmachen. Fast 70 Prozent ihres Nettoeinkommens geben die 20 Prozent der Haushalte mit den niedrigsten Einkommen für die durch die Inflation besonders belasteten Bereiche Nahrungsmittel, Wohnen (inklusive Haushaltsenergie) und Verkehr (inklusive Mobilitätsenergie) aus.

Die Ende Mai verabschiedeten Maßnahmen der Bundesregierung entlasten zwar alle Haushalte, allerdings in unterschiedlichem Maße. Unter der Annahme, dass sich die Jahresinflation 2022 im Rahmen der Erwartungen der Bundesbank entwickelt und sich zum Sommer hin die Preisniveaus stabilisieren, profitieren Haushalte im untersten (ersten) Dezil signifikant von den Entlastungspaketen, Haushalte ab dem zweiten Dezil bis in die mittleren Dezile bleiben auf weit mehr Zusatzkosten sitzen.

Während einkommensstärkere Dezile in der oberen Hälfte der Einkommensverteilung Preissteigerungen vermutlich eher durch eine Verringerung der Sparquote oder durch Rücklagen auffangen können, ist dies den unteren Einkommensdezilen in der Regel nicht möglich. Der hohe Anteil an Waren und Dienstleistungen des Grundbedarfs zeigt, dass die untersten Einkommensdezile kaum Anpassungs- oder Sparmöglichkeiten haben. Die für viele ohnehin schon prekäre Situation würde sich noch verschärfen, wenn die Inflationsdynamik in der zweiten Jahreshälfte unverändert anhält oder zunimmt. Zukünftige Entlastungen sollten sich daher stärker auf die bedürftigeren Haushalte am unteren Ende der Einkommensverteilung konzentrieren.

Eine weiterhin hohe Inflationsentwicklung würde einen zusätzlichen Wohlstandsverlust für die gesamte deutsche Volkswirtschaft bedeuten. Vor diesem Hintergrund sollte die Politik überlegen, wie sie Entlastungspakete bei einer weiter ansteigenden Inflation künftig effizient und zielgenau gestaltet. Denkbar wäre zum einen, die Grundsicherung vorzeitig an die Inflationsrate anzupassen. Zum anderen sollte die Energiepreispauschale erhöht und auf die unteren Einkommensdezile konzentriert werden. Dabei müssten auch diejenigen Rentnerhaushalte berücksichtigt werden, die bisher durch das Raster fallen. Dazu wäre es allerdings erforderlich, die Rentenversicherungsträger einzubeziehen, was kurzfristig administrativ schwierig umzusetzen sein dürfte.

Daher sollte zumindest mittelfristig auf Bundesebene der Aufbau einer großen Haushaltsdatenbank angedacht werden. Dort könnten alle verfügbaren Informationen der Steuer- und Sozialbehörden zur Haushaltszusammensetzung und zum Einkommen zusammengeführt und genutzt werden, um Hilfen auch nach sozioökonomischen Merkmalen differenziert, passgenau, schnell und unbürokratisch auszuzahlen. Eine solche Infrastruktur für Direktzahlungen an Haushalte in Deutschland wäre nicht nur im Krisenfall nützlich, sondern könnte auch für andere Maßnahmen genutzt werden.



JEL-Classification: D31;D10;D61
Keywords: inflation, distribution, transfers
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-28-1

Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/261415

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