Was ist dran am Mythos der Lohn‑Preis- Spirale? Kommentar

DIW Wochenbericht 28 / 2022, S. 396

Marcel Fratzscher

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Das Schreckgespenst der Lohn-Preis-Spirale ist in aller Munde: Überzogene Lohnforderungen der Beschäftigten – so die KritikerInnen – könnten Unternehmen auf Jahre hinaus zu hohen Preissteigerungen zwingen, was zu einer schädlich hohen Inflation und im Extremfall sogar zu einer anhaltenden Stagflation führe. Was ist dran an diesem Mythos?

Eine Lohn-Preis-Spirale kann unter zwei Voraussetzungen entstehen: Zum einen, wenn Beschäftigte und Gewerkschaften eine so große Macht in den Verhandlungen mit den ArbeitgeberInnen haben, dass sie Löhne und Arbeitsbedingungen praktisch diktieren können. Zum anderen, wenn Beschäftigte und Gewerkschaften sich bei ihren heutigen Lohnforderungen nicht an einer für die Zukunft realistischen Inflationsrate orientieren. Wenn beide Bedingungen zutreffen, dann können Lohnerhöhungen die Zahlungsfähigkeit oder -willigkeit der Unternehmen übersteigen, so dass diese die höheren Lohnkosten in Form gestiegener Preise an die KonsumentInnen weitergeben. Das wiederum könnte die Lohnerhöhungen weiter befeuern und zu einer exzessiven Inflation führen.

Nie jedoch waren die Voraussetzungen für eine Lohn-Preis-Spirale in Deutschland in den letzten 70 Jahren weniger gegeben als heute. Die realen Löhne und damit die Kaufkraft der Einkommen dürften mit durchschnittlichen nominalen Lohnerhöhungen von vier bis fünf Prozent und einer Inflation von über sieben Prozent in diesem Jahr deutlich sinken. Vieles spricht dafür, dass diese Lohnentwicklung eher zu schwach als zu stark ist. Denn einige große Unternehmen in Deutschland fahren hohe Gewinne ein und schütten Dividenden aus. Und das Wachstum der Produktivität ist weiterhin robust und der Anstieg der Lohnstückkosten eher moderat. Es scheint also, dass zumindest in manchen Branchen die Unternehmen das größte Stück des Kuchens für sich beanspruchen und ihre Beschäftigen zum Verzicht drängen.

Somit ist die Lohn-Preis-Spirale nicht mehr als ein Mythos, mit einem moralischen Unterton, der implizit Beschäftigten und Gewerkschaften die Verantwortung für die hohe Inflation gibt. Was heute existiert, ist vielmehr eine Preis-Preis-Spirale, bei der sich die über die Energiekosten importierte Inflation und von Unternehmen bestimmte Konsumentenpreise gegenseitig verstärken. Und wenn überhaupt, dann könnte in Zukunft eine Preis-Lohn-Spirale entstehen, wenn denn die Löhne reagieren und mal so stark steigen sollten, dass sie die Inflation der Konsumentenpreise übertreffen.

Lohnerhöhungen können aus einer gesamtwirtschaftlichen Sicht zu stark, aber auch zu schwach sein. Denn je stärker die Kaufkraft schrumpft, desto höher ist auch der Schaden für die Wirtschaft. Umgekehrt können zu starke Lohnerhöhungen zu Beschäftigungsverlusten und Arbeitslosigkeit führen. Dies zeigt, dass langfristig die Interessen der ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen nicht gegeneinander stehen können. Der zentrale, häufig jedoch vergessene Punkt ist ein anderer: Hohe Löhne und unternehmerischer Erfolg bedingen einander. Die erfolgreichsten deutschen Unternehmen sind solche, die mit die höchsten Löhne und besten Arbeitsbedingungen in Deutschland und weltweit anbieten. Die hohe Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen in der globalen Wirtschaft ist in den allermeisten Fällen nicht durch geringe Löhne und niedrige Preise erklärt, sondern durch hohe Produktivität und exzellente Qualität von Produkten „Made in Germany“. Dies ist nur deshalb möglich, weil die Beschäftigten der deutschen Unternehmen hoch produktiv und motiviert sind.

Der soziale und wirtschaftliche Ausgleich war und ist die große Stärke der Sozialen Marktwirtschaft. Die Bundesregierung sollte sich aus den Lohnverhandlungen heraushalten und stattdessen ein Paket von Zukunftsinvestitionen als ihren Beitrag zur konzertierten Aktion beschließen, um das Wirtschaftspotenzial in den kommenden Jahren zu erhöhen, den Druck auf die Inflation zu reduzieren und mehr Wachstum und Einkommen zu generieren.

Dieser Kommentar ist in einer längeren Version am 12. Juli 2022 in der taz erschienen.

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