Statement vom 21. Juli 2022
Die Ergebnisse der heutigen Sitzung des Rates der Europäischen Zentralbank (EZB) kommentiert Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin), wie folgt:
Die EZB hat eine historische Entscheidung und eine der wegweisendsten der vergangenen 20 Jahre getroffen. Der Zinsschritt ist größer als erwartet, zudem hat die EZB ihre Kommunikationsstrategie grundlegend verändert. Die wichtigste Aufgabe der EZB ist jetzt, ein Anker der Stabilität im Euroraum zu sein und somit eine noch tiefere Krise zu verhindern. Die EZB hat mit ihrer Entscheidung einen richtigen Mittelweg zwischen Forderungen nach einer restriktiveren Geldpolitik und einer stärkeren Unterstützung der verletzlichsten Mitgliedsländer gewählt. Das neue geldpolitische Instrument TPI ist das notwendige Gegengewicht zum nun schnelleren Zinsanstieg in den kommenden Monaten.
Das neue Instrument TPI, das eine symmetrische Transmission der Geldpolitik gewährleisten soll, ist einerseits klug, andererseits aber auch riskant: Denn es ist unklar, wie dieses Instrument genutzt werden wird. Die Konditionalität des Instruments ist so gering, dass es de facto der EZB kaum Begrenzungen geben dürfte. Ich befürchte fortan eine Zeit erhöhter Volatilität und eines zunehmenden politischen Drucks auf die EZB. Ich erwarte, dass sich die EZB-Kritikerinnen und -Kritiker in Deutschland umgehend an das Bundesverfassungsgericht wenden werden. Letztlich könnte der bevorstehende politische Konflikt der Glaubwürdigkeit der EZB empfindlichen Schaden zufügen.
Die EZB muss mit Blick auf ihr Mandat der Preisstabilität einen schwierigen Spagat bewerkstelligen. Sie kann mit keiner noch so großen Zinserhöhung die Inflation in den kommenden 18 Monaten merklich reduzieren. Einerseits muss sie jetzt die Zinsen merklich erhöhen, um die Inflationserwartungen gut zu verankern und ihre Glaubwürdigkeit zu schützen. Wenn ihr dies nicht gelingt, dann wird es länger dauern und wirtschaftlich schmerzvoller sein, bis sie wieder ihr Mandat der Preisstabilität erfüllen kann. Andererseits besteht die Gefahr, dass eine zu starke Zinserhöhung die Wirtschaft im Euroraum noch weiter schwächt und in die Rezession treibt. Auch dies würde die Gefahr bergen, dass die EZB länger braucht, bis sie nach der Krise wieder ihr Mandat der Preisstabilität erfüllen kann.
Die wirtschaftliche Situation in Deutschland und im Euroraum ist äußerst kritisch – die Risiken werden derzeit unterschätzt. Ich erwarte, dass die Inflation weiter – bis auf rund zehn Prozent – steigt und dass sich die Wirtschaft weiter abschwächt. Die Politik darf nicht allein der EZB die Verantwortung zuschieben, sich gegen diese wirtschaftliche Krise zu stemmen. Wir benötigen jetzt eine expansive Finanzpolitik, die einerseits gezielt Menschen mit geringen Einkommen entlastet und die Nachfrage stabilisiert, und andererseits starke öffentliche Zukunftsinvestitionen anschiebt, um das Vertrauen der wirtschaftlichen Akteure zu sichern und um sich gegen eine mögliche Rezession stemmen zu können.
Themen: Geldpolitik