DIW Wochenbericht 31/32 / 2022, S. 421
Jürgen Schupp, Erich Wittenberg
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Herr Schupp, die Ampel-Koalition plant eine Reform des Grundsicherungssystems und will Hartz IV durch ein sogenanntes Bürgergeld ablösen. Was werden die wesentlichen Unterschiede sein? Es bleibt dabei, dass vor der künftigen Zahlung eines Bürgergeldes eine Bedürftigkeitsprüfung erfolgt. Jedoch soll die frühere Eingliederungsvereinbarung durch einen Kooperationsplan abgelöst werden, der die neue Grundlage für ein verbessertes Vertrauensverhältnis zwischen Arbeitssuchenden und Jobcentern legen soll. Zudem soll der Vermittlungsvorrang abgeschafft werden, um künftig Weiterbildung und Qualifizierung mehr Bedeutung beizumessen als der schnellstmöglichen Vermittlung ohne Entwicklungsperspektive für die Betroffenen.
Sie haben Langzeitarbeitslose aus acht Jobcentern in Nordrhein-Westfalen befragt, wie sie die Reformvorhaben beurteilen. Welche Reformpunkte wurden von den Befragten positiv beurteilt? Wir haben zu nahezu sämtlichen Elementen des geplanten Gesetzes hohe Zustimmungswerte von fast zwei Dritteln der Langzeitarbeitslosen ermittelt. Zudem hat eine deutliche Mehrheit mit ihrem jeweiligen Jobcenter eher positive Erfahrungen gemacht.
Wie sieht es bei dem kritischen Punkt der Sanktionen für Fehlverhalten aus? Da ist das Meinungsbild tatsächlich deutlich gespaltener. Ein grundsätzlicher Verzicht auf Sanktionen, wie im derzeit befristeten Sanktionsmoratorium, wird nur von etwas mehr als der Hälfte der Langzeitarbeitslosen befürwortet. Mehr als jeder Fünfte spricht sich gegen einen grundsätzlichen Verzicht auf Sanktionen aus und weitere 22 Prozent sind bei diesem Thema eher unentschieden.
Wie nehmen diese Menschen ihre aktuelle Situation wahr und wofür nutzen sie ihre Zeit? 62 Prozent der Langzeitarbeitslosen gaben an, sich mindestens an einem Werktag in der Woche mit Weiterbildung, Lernen oder Internetrecherchen zur Jobsuche zu beschäftigen. Rund zwei Drittel gaben an, mindesten einmal pro Woche aktiv nach einem Job zu suchen, und 41 Prozent der Langzeitarbeitslosen gehen mindestens einmal pro Woche einer ehrenamtlichen Tätigkeit nach oder helfen anderen Menschen.
Gibt es Ergebnisse Ihrer Studie, die Sie überrascht haben? Ja, auf jeden Fall. So zeigen die Befunde, dass ein hoher Anteil von 42 Prozent der Hartz-IV-Beziehenden sich für diesen Leistungsbezug schämt. Mehr als die Hälfte hat das Gefühl, dass man als Hartz-IV-Beziehender nicht richtig zur Gesellschaft gehöre. Dieses offensichtlich stigmatisierende Image gilt es mit dem neuen Bürgergeld-Gesetz zu überwinden.
Seit Mai dieses Jahres werden Sanktionen für Pflichtverletzungen von Langzeitarbeitslosen beschränkt. Hat sich dadurch das Verhalten der Leistungsbeziehenden verändert? Die Wirkungen des Sanktionsmoratoriums müssen noch umfassend wissenschaftlich evaluiert werden. Hierzu wäre es wünschenswert, dass die Politik einer Stichprobe von Langzeitarbeitslosen an Jobcentern die Gelegenheit einräumt, das Sanktionsmoratorium auf eine Dauer von insgesamt drei Jahren auszudehnen, um anschließend seine Wirkung evidenzbasiert belegen zu können.
Welche politischen Handlungsempfehlungen ergeben sich aus den Ergebnissen Ihrer Studie? Wir sehen, dass die dringlichste Reform aus Sicht der Betroffenen eine Erhöhung des Hartz-IV-Satzes darstellt. 89 Prozent der Langzeitarbeitslosen fänden eine Erhöhung „eher gut“ bis „sehr gut“. Hubertus Heil hat angekündigt, hierzu im Herbst einen Vorschlag zu unterbreiten, damit die Regelsätze angemessen steigen. Es bleibt zu hoffen, dass dieser Punkt geschlossen von der Ampel-Koalition als prioritär angesehen wird.
Das Gespräch führte Erich Wittenberg.
Themen: Verteilung, Ungleichheit
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-31-2
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/263230