DIW Wochenbericht 31/32 / 2022, S. 424
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Deutsche Regierungsmitglieder, erst Bundeskanzler Olaf Scholz, dann Bundesfinanzminister Christian Lindner und jetzt Außenministerin Annalena Baerbock, haben sich in den vergangenen Wochen in Griechenland die Klinke in die Hand gegeben. So viel Aufmerksamkeit erhielt das Land noch nicht einmal in den finstersten Tagen der griechischen Wirtschaftskrise. Die Besuche verdeutlichen die neue strategische Bedeutung Griechenlands innerhalb der EU. Denn es wird ein immer wichtigerer Außenposten für den Schutz der EU-Außengrenze. Was bisher unter zivilen Schutzaspekten betrachtet wurde, gerät angesichts zunehmend aggressiver Töne der Türkei immer mehr zu einer Bedrohung. Ihr autokratisch regierender Präsidenten Erdogan provoziert permanent mit seiner Kriegsrhetorik, seinen Forderungen, etwa eine Wirtschaftszone mit Libyen einzurichten, die die dazwischen liegenden griechischen Inseln ignoriert. Ein Großteil der griechischen Bevölkerung empfindet Erdogan als regionales Pendant zu Putin. Die Sorge vor einem militärischen Angriff wächst.
Deutschland fungierte bis vor kurzem aufgrund seiner engen wirtschaftlichen Verbindungen zur Türkei eher als neutraler Mittler. Dass sich die Bundesregierung bislang nicht uneingeschränkt hinter Griechenland stellt, wenn dessen Grenzen bedroht sind, stößt in Athen auf großes Unverständnis. Eine solche Position bedarf angesichts der eingeleiteten neuen Doktrin der wertegeleiteten deutschen Außenpolitik der Überprüfung.
Deutschland ist der wichtigste Handelspartner und einer der wichtigsten ausländischen Investoren der Türkei und hat damit erhebliche Eigeninteressen. Angesichts der türkischen Aggression ist es eine berechtigte Frage, welche Haltung Deutschland gegenüber der Türkei auch im Vergleich zu Griechenland einnehmen möchte. Baerbock hat nun erstmalig klar Position bezogen und die militärischen Drohgebärden der Türkei klar verurteilt. Auch der deutsche Finanzminister hat bei seinem Besuch in Athen betont, Deutschland würde eine Infragestellung der nationalen Souveränität von EU-Partnerländern nicht akzeptieren. Ebenso wichtig war seine Aussage, wonach Griechenland ein neues Kapitel in seiner Entwicklung eröffnen solle. Dazu passt, dass die in den Krisenjahren erheblich zurückgegangenen Handelsbeziehungen zwischen Deutschland und Griechenland zuletzt wieder ausgeweitet wurden. Es gilt, sie nun zu einer strategischen Partnerschaft auszubauen. Erste Voraussetzungen dafür sind geschaffen: Zum einen hat die konservative Regierung Mitsotakis den seit langem anstehenden Reformprozess in Griechenland gestartet, in dessen Folge auch die deutschen Direktinvestitionen in Griechenland gestiegen sind, etwa in Erneuerbare Energien oder in den IT-Sektor. Zum anderen kann Griechenland zu einem neuen Hub für die Energieverteilung werden, insbesondere wenn es um die Strom- und Gasversorgung der Region geht und dort etwa demnächst Strom über ein Seekabel und LNG-Gas aus Ägypten und Israel anlangt.
Diese Schritte, ebenso wie die langfristige Absicherung der griechischen Staatsschulden zu sehr niedrigen Zinsen, haben sich auch in anderer Form ausgezahlt: So hat die EU kürzlich das „Programm zur verstärkten finanzpolitischen Überwachung Griechenlands“ in ein „normales Überwachungsprogramm“ überführt. Nach zwölf Jahren verlässt Griechenland somit den Modus als Krisenstaat. Auch die Sorge, dass die Staatsfinanzen angesichts steigender Zinsen wieder zu einer Hypothek werden, ist im Unterschied zu Italien unberechtigt.
Trotz aller Fortschritte sind die Reformen aber noch nicht dort angekommen, wo die griechische Regierung zu Beginn ihrer Amtszeit hinwollte. Das Innovationssystem, die Qualität der Regulierung und Bürokratieprozesse und vor allem das Justizsystem sind im EU-Vergleich immer noch unterdurchschnittlich gut entwickelt. So ermutigte der deutsche Finanzminister seine griechischen Partner, diesen Reformprozess trotz aller Widrigkeiten weiterzuführen und bot seine Unterstützung an. Es gibt also zwischen der deutschen und der griechischen Regierung viel zu besprechen. Und es ist gut, dass der in den letzten zehn Jahren immer wieder eingenommene schulmeisterliche Ton auf deutscher Seite der Vergangenheit angehört – eine weitere wichtige Voraussetzung für eine strategische Partnerschaft.
Themen: Europa
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-31-3
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/263229