DIW Wochenbericht 33/34 / 2022, S. 427-434
Mattis Beckmannshagen, Carsten Schröder
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„Dass sich die Veränderungen in der Arbeitszeit nicht mit den Präferenzen der Beschäftigten decken, ist sozialpolitisch problematisch. Beispielsweise bei Müttern zeigt sich, dass sie oft weniger Stunden erwerbstätig sind als sie eigentlich möchten. Die Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf reichen offensichtlich nach wie vor nicht aus.“ Carsten Schröder, Studienautor
Die Ungleichheit der monatlichen Bruttoerwerbseinkommen der Beschäftigten in Deutschland ist laut Sozio-oekonomischem Panel (SOEP) zwischen 1993 und 2003 signifikant gestiegen und stagniert seit 2008 auf relativ hohem Niveau. Wie dieser Bericht zeigt, liegt der Anstieg weniger an einer höheren Ungleichheit der Stundenlöhne, sondern daran, dass diese zunehmend mit der Arbeitszeit korrelieren: Beschäftigte mit hohen Stundenlöhnen arbeiten im Vergleich zu Beschäftigten mit geringen Stundenlöhnen heute mehr als früher. Dies gilt vor allem für zwei Gruppen, deren Anteil an der Arbeitsbevölkerung in den letzten Jahren deutlich zugenommen hat: erwerbstätige Frauen und Beschäftigte im Dienstleistungssektor. Hätten die Beschäftigten nicht die tatsächliche, sondern ihre individuell gewünschte Arbeitszeit realisieren können, wäre der Anstieg der Ungleichheit moderater ausgefallen. Eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und mehr Möglichkeiten, im Niedriglohnsektor die Arbeitszeit auszuweiten, könnten diesem Trend entgegenwirken.
Für das Gros der Bevölkerung sind Erwerbseinkommen die zentrale materielle Ressource während des aktiven Berufslebens. Sie bestimmen nicht nur maßgeblich die gegenwärtigen finanziellen Möglichkeiten der Beschäftigten, sondern beispielsweise auch deren künftige Rentenansprüche. Das Erwerbseinkommen hängt in erster Linie von zwei Größen ab: Stundenlohn und Arbeitszeit.Die Bruttoerwerbseinkommen, die diesem Bericht zugrunde liegen, beinhalten keine Boni oder Lohnbestandteile wie eine betriebliche Altersvorsorge. Beide Größen sind Verhandlungssache zwischen ArbeitgeberInnen und Beschäftigten beziehungsweise zwischen den Tarifparteien, sodass sie nicht immer mit den Präferenzen der Beschäftigten übereinstimmen müssen. Beispielsweise können eine begrenzte Zahl an Stellen und Vertragsausgestaltungen, Verdienstgrenzen bei bestimmten Beschäftigungsverhältnissen wie Minijobs, hohe Verhandlungsmacht auf Seiten der ArbeitgeberInnen oder Suchkosten auf Seiten der Beschäftigten dazu führen, dass ArbeitnehmerInnen die von ihnen gewünschte Arbeitszeit nicht realisieren können.Siehe unter anderem Joseph G. Altonji und Christina H. Paxson (1992): Labor Supply, Hours Constraints, and Job Mobility. Journal of Human Resources, 27(2); Hans G. Bloemen (2008): Job search, hours restrictions, and desired hours of work. Journal of Labor Economics, 26(1), 137–179; Raj Chetty et al. (2011): Adjustment costs, firm responses, and micro vs. macro labor supply elasticities: Evidence from Danish tax records. The Quarterly Journal of Economics, 126(2), 749–804. Dies kann zu systematischen Unterschieden zwischen gewünschter und tatsächlich realisierter Arbeitszeit führen.
Eine wichtige Determinante für die Ungleichheit der Erwerbseinkommen ist der Stundenlohn. Relative UngleichheitsindizesRelative Indizes reagieren nicht, wenn die Verteilung mit einem konstanten streng positiven Faktor multipliziert wird. So ändert sich die Ungleichheit nicht, wenn man die Stundenlöhne der Beschäftigten mit einer für alle gleichen Arbeitszeit multipliziert. Bei diesen Maßen ist die Ungleichheit, die sich bei Verwendung des Monatseinkommens ergibt, genauso hoch wie bei einer Hochrechnung dieses Monatseinkommens auf das Quartal mit dem Faktor drei. wie der Gini-Koeffizient oder die mittlere logarithmische Abweichung würden ein identisches Ausmaß an Ungleichheit für die Stundenlöhne und Erwerbseinkommen anzeigen, wenn alle Beschäftigten gleich viele Stunden arbeiten würden. Arbeiten hingegen Beschäftigte mit niedrigen Stundenlöhnen weniger Stunden als Beschäftigte mit hohen Stundenlöhnen, sind die monatlichen Erwerbseinkommen ungleicher verteilt als die Stundenlöhne.
Die Erwerbseinkommensungleichheit hängt also ab von
Wie oben beschrieben muss die realisierte Arbeitszeit nicht mit der von den Beschäftigten eigentlich gewünschten Arbeitszeit übereinstimmen. So ist es beispielsweise möglich, dass Beschäftigte mit einem Minijob bei gegebenem Stundenlohn gerne mehr arbeiten würden als es die Verdienstgrenze von 450 Euro zulässt. Ebenso könnten Beschäftigte die Arbeitszeit gerne reduzieren wollen. Manche kümmern sich zum Beispiel um Kinder oder Eltern, andere wiederum wünschen sich grundsätzlich eine bessere Work-Life-Balance.Siehe Travis J. Smith und Tommy Nichols (2015): Understanding the Millennial Generation. Journal of Business Diversity, 15(1). Aus Sicht der Unternehmen können solche Arbeitszeitreduktionen aufwendig oder aus betriebsorganisatorischen Gründen nicht im gewünschten Umfang möglich sein.
Welche Rolle Abweichungen zwischen gewünschter und realisierter Arbeitszeit für die Einkommensverteilung spielen, lässt sich feststellen, indem man die tatsächliche Verteilung der Erwerbseinkommen mit einer kontrafaktischen Verteilung vergleicht. Die kontrafaktische Verteilung ergibt sich, wenn man die gegebenen Stundenlöhne der Beschäftigten mit der von ihnen gewünschten (statt der tatsächlich realisierten) Arbeitszeit multipliziert.Beim Erstellen der kontrafaktischen Verteilung wird von gesamtwirtschaftlichen Effekten und Rückwirkungen der Arbeitszeitänderungen abstrahiert. Somit wird implizit die Annahme getroffen, dass eine Veränderung der Arbeitszeiten keinen Effekt auf die Stundenlöhne hätte, sondern diese konstant blieben.
In den Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) liegen alle Größen vor, um die tatsächliche und kontrafaktische Verteilung der Erwerbseinkommen zu bestimmen und nach den oben beschriebenen Determinanten zu zerlegen. Dies wird in der Studie von Beckmannshagen und SchröderDieser Wochenbericht basiert auf Mattis Beckmannshagen und Carsten Schröder (2022): Earnings Inequality and Working Hours Mismatch. Labour Economics, 102184., die diesem Wochenbericht zugrunde liegt, getan. Konkret wird im Folgenden erstens die langfristige Entwicklung der Erwerbseinkommensungleichheit in Deutschland zwischen 1993 und 2018 beschrieben. Zweitens wird gezeigt, welche Rolle Veränderungen in der Verteilung von Arbeitszeiten und Stundenlöhnen sowie in der Korrelation beider Größen für diese Entwicklung spielen. Drittens wird gezeigt, inwiefern sich über die Zeit Verschiebungen in der relativen Größe von vier Beschäftigtengruppen auswirken: erwerbstätige Frauen und Männer, jeweils im Dienstleistungs- und außerhalb des Dienstleistungssektors. Viertens wird die tatsächliche mit der kontrafaktischen Erwerbseinkommensverteilung verglichen.
Anhand der mittleren logarithmischen Abweichung (MLA) lässt sich die Ungleichheit der Erwerbseinkommen additiv in drei Teile zerlegen. Der erste Teil beschreibt die Ungleichheit der Stundenlöhne, der zweite die Ungleichheit der Arbeitszeiten und der Dritte den statistischen Zusammengang zwischen Stundenlöhnen und Arbeitszeiten. Zudem lässt sich bestimmen, welche Rolle verschiedene Gruppen von Beschäftigten für die Ungleichheit spielen (Kasten 1).Der geläufigere Gini-Koeffizient lässt eine solche Zerlegung nicht zu. Allerdings zeigen sich für den Gini-Koeffizient ähnliche Trends wie für die mittlere logarithmische Abweichung. So ist der Gini-Koeffizient der Erwerbseinkommen von 0,31 im Jahr 1993 auf 0,37 im Jahr 2018 gestiegen. Vgl. Beckmannshagen und Schröder (2022), a.a.O., Abbildung 11.
Die mittlere logarithmische Abweichung (MLA) ist ein Ungleichheitsmaß aus der Familie der generalisierten Entropiemaße. Die MLA ist definiert als
,
wobei das Einkommen einer Person i, das durchschnittliche Einkommen und N die Anzahl aller beobachteten Personen beschreibt. Wenn alle Personen das gleiche Einkommen haben, nämlich das Durchschnittseinkommen, ist der Wert der MLA gleich null. Mit zunehmender Ungleichheit steigt der Wert der MLA an.
Die MLA der Monatseinkommen lässt sich in drei additiv verknüpfte Teile zerlegen, die Aufschluss darüber geben, zu welchen Teilen die Ungleichheit der Monatseinkommen durch die Ungleichheit in der Verteilung der Stundenlöhne () beziehungsweise der Arbeitsstunden () sowie durch einen Kovarianzterm (), der unter anderem die Korrelation zwischen beiden Größen erfasst, getrieben wirdDaniele Checchi, Cecilia García-Peñalosa und Lara Vivian (2016): Are changes in the dispersion of hours worked a cause of increased earnings inequality?. IZA Journal of European Labor Studies, 5(1), 1–34.:
.
In der diesem Wochenbericht zugrundeliegenden StudieBeckmannshagen und Schröder (2022), a.a.O. wird diese Zerlegung generalisiert, sodass nun auch Unterschiede zwischen verschiedenen Subgruppen analysiert werden können (Zerlegung nach Subgruppen).
In den Jahren 1993 bis 2018 ist die Ungleichheit der Erwerbseinkommen laut MLA von rund 0,19 auf 0,29 gestiegen (Abbildung 1, linker Teil). Der Großteil dieses Anstiegs fand vor 2003 statt, seit 2008 stagniert die Ungleichheit auf hohem Niveau. Etwa 15 Prozent des Anstiegs sind auf die zunehmende Ungleichheit der Stundenlöhne zurückzuführen, etwa 40 Prozent auf die zunehmende Ungleichheit der Arbeitszeiten und fast die Hälfte auf die wachsende Korrelation von Stundenlöhnen und Arbeitszeiten: Im Vergleich zu 1993 waren im Jahr 2018 niedrige Stundenlöhne mit weniger und höhere Löhne mit mehr Arbeitsstunden verbunden. Tatsächlich war die Korrelation zwischen Stundenlöhnen und Arbeitsstunden bis zur Jahrtausendwende negativ – das bedeutet, dass die vergleichsweise hohe Zahl an Arbeitsstunden von Beschäftigten mit geringen Stundenlöhnen im Hinblick auf die Verteilung der Erwerbseinkommen eine egalisierende Wirkung hatte. Seit Beginn der 2000er Jahre ist die Korrelation aber positiv und steigt kontinuierlich: Beschäftigte mit hohen Stundenlöhnen sind zunehmend auch die mit den längsten Arbeitszeiten, was die Ungleichheit der Erwerbseinkommen vergrößert.Die zunehmende Stärke des statistischen Zusammenhangs zwischen Stundenlöhnen und Arbeitszeiten ist auch für die Mindestlohnforschung wichtig. So ist in administrativen Daten häufig keine Information zu Arbeitsstunden vorhanden, was dazu führt, dass ForscherInnen Annahmen hinsichtlich des Zusammenhangs von Arbeitszeiten und Stundenlöhnen treffen müssen. Die Ergebnisse der diesem Wochenbericht zugrundeliegenden Studie zeigen, dass es wichtig ist, Veränderungen dieses Zusammenhangs zu berücksichtigen.
In der kontrafaktischen Verteilung auf Basis der gewünschten Arbeitszeiten der Beschäftigten ist der Anstieg der Ungleichheit nur halb so groß (Abbildung 1, rechter Teil): Hier lag die MLA im Jahr 1993 bei 0,20 (tatsächliche Erwerbseinkommensverteilung: 0,19) und im Jahr 2018 bei 0,25 (tatsächliche Erwerbseinkommensverteilung: 0,29).
Da sich die Stundenlöhne in der Verteilung der tatsächlichen und der kontrafaktischen Verdienste per Annahme nicht unterscheiden, muss der schwächere Anstieg auf unterschiedliche Trends bei den tatsächlichen und gewünschten Arbeitszeiten zurückzuführen sein. Dieses Ergebnis ist für die normative Bewertung der Ungleichheit der Erwerbseinkommen und ihres Anstiegs im Zeitverlauf wichtig: Wäre der Anstieg der Ungleichheit auf veränderte beziehungsweise zunehmend unterschiedliche Arbeitszeitpräferenzen der Beschäftigten zurückzuführen, wäre dieser Anstieg aus wohlfahrtstheoretischer Perspektive eher unproblematisch. Denn der Anstieg würde lediglich die veränderten Arbeits- und Freizeitpräferenzen der Beschäftigten widerspiegeln. Dies ist aber nicht der Fall: Neben der zunehmenden Ungleichheit steigen auch die Unterschiede zwischen gewünschter und realisierter Arbeitszeit.
Die oben beschriebenen Trends gehen Hand in Hand mit erheblichen Veränderungen in der Zusammensetzung der Erwerbsbevölkerung. Vor allem steigt der Anteil der erwerbstätigen Frauen und der Beschäftigten im DienstleistungssektorDer Dienstleistungssektor ist hier weit gefasst und umfasst alle Branchen außer Landwirtschaft, Bergbau, verarbeitendes Gewerbe, Versorgungsbetriebe und den Bausektor. (Abbildung 2): Im Jahr 1993 arbeiteten 58 Prozent der Beschäftigten im Dienstleistungssektor. Davon entfielen 31 Prozentpunkte auf Frauen und 27 Prozentpunkte auf Männer. Der Anteil der Beschäftigten außerhalb des Dienstleistungssektors betrug 42 Prozent. 25 Jahre später hatte sich das Bild deutlich verschoben: Im Dienstleistungssektor arbeiteten nun 73 Prozent der Beschäftigten (davon entfielen 40 Prozentpunkte auf Frauen und 33 Prozentpunkte auf Männer) und außerhalb des Dienstleistungssektors nur 27 Prozent.
Durch eine statistische Umgewichtung der Gruppen (Kasten 2) lässt sich abschätzen, wie sich die Ungleichheit entwickelt hätte, wenn sich die Zusammensetzung der Beschäftigten über die Zeit nicht verändert hätte. So lässt sich zeigen,Beckmannshagen und Schröder (2022), a.a.O. wie sich die Ungleichheit der Erwerbseinkommen entwickelt hätte, wenn die Anteile von erwerbstätigen Frauen, von Beschäftigten im Dienstleistungssektor und von männlichen beziehungsweise weiblichen Beschäftigten im und außerhalb des Dienstleistungssektors nach 1993 unverändert geblieben wären.
Die Methode von DiNardo et al. aus dem Jahr 1996John DiNardo, Nicole M. Fortin und Thomas Lemieux (1996): Labor Market Institutions and the Distribution of Wages, 1973–1992: A Semiparametric Approach. Econometrica, 64(5), 1001–1044. erlaubt es zu bestimmen, zu welchem Anteil die intertemporale Veränderung einer Größe auf strukturelle Veränderungen in der Zusammensetzung der beobachteten Stichprobe über die Zeit zurückzuführen ist. Einzelne Charakteristika werden auf dem Niveau des Ausgangsjahres „eingefroren“ und darauf aufbauend kontrafaktische Szenarien berechnet. In der Anwendung in der diesem Wochenbericht zugrundeliegenden Studie wird untersucht, wie sich die Ungleichheit der Erwerbseinkommen entwickelt hätte, wenn der Anteil von erwerbstätigen Frauen sowie Beschäftigten im Dienstleistungssektor nicht angestiegen, sondern konstant auf dem Niveau von 1993 geblieben wäre.
Das Einfrieren des Anteils der erwerbstätigen Frauen auf dem Niveau von 1993 verringert den intertemporalen Anstieg der MLA der Erwerbseinkommen um lediglich 0,01 MLA-Punkte (Differenz zwischen 0,29 und 0,28). Hält man den Anteil der Beschäftigten im Dienstleistungssektor konstant, reduziert sich der Anstieg in der Ungleichheit der Erwerbseinkommen um 0,02 MLA-Punkte. Beim Einfrieren der Anteile aller vier Gruppen sind es ebenfalls 0,02 MLA-Punkte (Tabelle 1, obere Hälfte). Auch für die kontrafaktische Verteilung – also unter der Annahme, dass bei gleichbleibenden Stundenlöhnen die gewünschte Arbeitszeit realisiert werden kann – ist nur ein sehr kleiner Teil des Anstiegs der Ungleichheit auf die sich ändernden Anteile der vier Gruppen zurückführen (Tabelle 1, untere Hälfte).
Mittlere logarithmische Abweichung (MLA)1
MLA ingesamt | MLA Stundenlohn | MLA Arbeitszeit | Kovarianzterm2 | ||||||||||
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
95-Prozent-KI3, untere Grenze | Punktschätzer | 95-Prozent-KI, obere Grenze | 95-Prozent-KI, untere Grenze | Punktschätzer | 95-Prozent-KI, obere Grenze | 95-Prozent-KI, untere Grenze | Punktschätzer | 95-Prozent-KI, obere Grenze | 95-Prozent-KI, untere Grenze | Punktschätzer | 95-Prozent-KI, obere Grenze | ||
Ungleichheit bei tatsächlicher Arbeitszeit | 1993 | 0,178 | 0,186 | 0,195 | 0,136 | 0,143 | 0,150 | 0,053 | 0,058 | 0,063 | −0,021 | −0,015 | 0,009 |
2018 | 0,274 | 0,285 | 0,296 | 0,152 | 0,158 | 0,164 | 0,090 | 0,096 | 0,101 | 0,026 | 0,031 | 0,037 | |
2018, Anteil erwerbstätiger Frauen wie 1993 | 0,269 | 0,280 | 0,291 | 0,153 | 0,159 | 0,166 | 0,086 | 0,091 | 0,096 | 0,025 | 0,030 | 0,035 | |
2018, Anteil Beschäftigter im Dienstleistungssektor wie 1993 | 0,255 | 0,265 | 0,276 | 0,149 | 0,155 | 0,160 | 0,080 | 0,085 | 0,090 | 0,021 | 0,026 | 0,031 | |
2018, Anteil erwerbstätiger Frauen und Beschäftigter im Dienstleistungssektor wie 1993 | 0,254 | 0,265 | 0,275 | 0,149 | 0,155 | 0,161 | 0,079 | 0,084 | 0,089 | 0,020 | 0,026 | 0,031 | |
Ungleichheit bei gewünschter Arbeitszeit | 1993 | 0,189 | 0,199 | 0,208 | 0,136 | 0,143 | 0,150 | 0,049 | 0,053 | 0,058 | −0,003 | 0,002 | 0,008 |
2018 | 0,238 | 0,248 | 0,257 | 0,152 | 0,158 | 0,164 | 0,066 | 0,071 | 0,075 | 0,014 | 0,019 | 0,024 | |
2018, Anteil erwerbstätiger Frauen wie 1993 | 0,237 | 0,246 | 0,255 | 0,153 | 0,159 | 0,166 | 0,064 | 0,068 | 0,072 | 0,014 | 0,018 | 0,023 | |
2018, Anteil Beschäftigter im Dienstleistungssektor wie 1993 | 0,226 | 0,235 | 0,244 | 0,149 | 0,155 | 0,160 | 0,060 | 0,064 | 0,068 | 0,012 | 0,016 | 0,021 | |
2018, Anteil erwerbstätiger Frauen und Beschäftigter im Dienstleistungssektor wie 1993 | 0,226 | 0,235 | 0,244 | 0,149 | 0,155 | 0,161 | 0,059 | 0,064 | 0,068 | 0,012 | 0,016 | 0,021 |
1 Die mittlere logarithmische Abweichung (MLA) ist ein Ungleichheitsmaß, das es erlaubt, die Ungleichheit der Erwerbseinkommen in drei Teile zu zerlegen. Je größer die Zahl, desto höher die Ungleichheit.
2 Der Kovarianzterm beschreibt das Zusammenspiel von Stundenlohn und Arbeitszeit und dessen Einfluss auf die Ungleichheit. So hat bei der tatsächlichen Ungleichheit der Erwerbseinkommen die Tatsache, dass im Jahr 1993 Beschäftigte mit geringen Stundenlöhnen mehr gearbeitet haben als Menschen mit hohen Stundenlöhnen, die Ungleichheit der Erwerbseinkommen gedämpft. Im Vergleich zu 1993 waren im Jahr 2018 niedrige Stundenlöhne mit weniger und höhere Löhne mit mehr Arbeitsstunden verbunden, was die Ungleichheit der Erwerbseinkommen vergrößert.
3 Das 95-Prozent-Konfidenzintervall gibt den Bereich an, in dem der wahre Wert mit einer 95-prozentigen Wahrscheinlichkeit liegt.
Quelle: Eigene Berechnungen basierend auf Sozio-oekonomisches Panel (SOEP), v35.
Zusammenfassend legen diese Befunde also nahe, dass Veränderungen in der Zusammensetzung der Beschäftigten, also der gestiegene Anteil von Frauen und Beschäftigten im Dienstleistungssektor, nicht der Hauptgrund für die wachsende Differenz zwischen der Ungleichheit der tatsächlichen und der kontrafaktischen Erwerbseinkommen sind.
Wovon hängen die tatsächlich realisierte und die gewünschte Arbeitszeit sowie die Differenz zwischen beiden eigentlich ab? Welche Rolle spielen Merkmale der Beschäftigten wie der Stundenlohn, das Geschlecht oder die familiäre Situation und wie ändern sich diese Zusammenhänge über die Zeit?
Betrachtet man alle Beschäftigten, lagen die gewünschten Arbeitsstunden im Durchschnitt sowohl 1993 als auch 2018 etwa zwei Stunden unter den tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden (Tabelle 2). Im untersten Lohnquintil, also bei den 20 Prozent der Personen mit den geringsten Stundenlöhnen, waren die gewünschten Arbeitsstunden 1993 im Durchschnitt sogar um vier Stunden geringer als die tatsächlichen (38 zu 42 Stunden). 2018 hat sich diese Differenz gedreht und die gewünschten Arbeitsstunden lagen leicht über den tatsächlichen (33 zu 32 Stunden).Die starke Reduktion der durchschnittlichen tatsächlichen Arbeitsstunden im unteren Lohnquintil von 42 Stunden im Jahr 1993 auf 32 Stunden im Jahr 2018 geht mit einer Ausweitung von Minijobs einher, die insbesondere im Zuge der Hartz-Reformen weiter liberalisiert wurden. Im oberen Lohnquintil lagen die im Durchschnitt gewünschten Arbeitszeiten im Jahr 1993 etwa eine Stunde unter den tatsächlichen (36 zu 37 Stunden). Diese Differenz ist leicht gewachsen und lag 2018 bei etwa drei Stunden (35 zu 38 Stunden). Dieses Bild wird vervollständigt, wenn man die Anteile von Unter- und ÜberbeschäftigtenAls unterbeschäftigt definiert werden Beschäftigte, bei denen die tatsächlichen Arbeitsstunden mindestens vier Stunden niedriger sind als die gewünschten Arbeitsstunden. Überbeschäftigung liegt vor, wenn die tatsächlichen Arbeitsstunden vier Stunden höher sind als die gewünschten. innerhalb der Lohnquintile 1993 und 2018 betrachtet: Im untersten Lohnquintil waren 1993 acht Prozent der Beschäftigten unterbeschäftigt und 44 Prozent überbeschäftigt (Abbildung 3). 2018 war der Anteil der Unterbeschäftigten deutlich höher (23 Prozent), während die Überbeschäftigung auf 26 Prozent zurückging. Im oberen Lohnquintil gab es solche Verschiebungen hin zu mehr Unterbeschäftigung dagegen nicht. Stattdessen wuchs der Anteil der Überbeschäftigten von 44 Prozent im Jahr 1993 auf 51 Prozent im Jahr 2018.
In Stunden
Gewünschte Arbeitszeit | Tatsächliche Arbeitszeit | Diskrepanz | ||
---|---|---|---|---|
Bedingte1 Durchschnitte | Gesamt, 1993 | 37,85 | 40,01 | −2,16 |
Gesamt, 2018 | 35,99 | 37,99 | −2,00 | |
1. Lohnquintil2, 1993 | 38,27 | 42,41 | −4,14 | |
1. Lohnquintil, 2018 | 32,92 | 32,30 | 0,62 | |
5. Lohnquintil3, 1993 | 35,77 | 37,21 | −1,45 | |
5. Lohnquintil, 2018 | 35,15 | 37,65 | −2,51 | |
Zusätzliche durchschnittliche Veränderung | Mütter | −4,74 | −6,94 | 2,19 |
Neu- und WiedereinsteigerInnen in Beruf4 | −4,23 | −7,70 | 3,74 |
1 Andere Faktoren, die die Arbeitszeit beeinflussen, beispielsweise das Bildungsniveau, wurden hier bereits berücksichtigt.
2 Das erste Lohnquintil umfasst die 20 Prozent der Beschäftigten mit den niedrigsten Löhnen.
3 Das fünfte Lohnquintil umfasst die 20 Prozent der Beschäftigten mit den höchsten Löhnen.
4 Dabei handelt es sich um Personen, die im Jahr zuvor nicht beschäftigt waren.
Anmerkung: Für die vollständigen Regressionsergebnisse siehe Beckmannshagen und Schröder (2022), a.a.O., Gleichung 11, Abbildung 5 und Tabelle 2.
Quelle: Eigene Berechnungen basierend auf Sozio-oekonomisches Panel (SOEP), v35.
Besonders große Differenzen zwischen gewünschter und tatsächlicher Arbeitszeit zeigen sich außerdem für zwei Beschäftigtengruppen: BerufseinsteigerInnenAls BerufseinsteigerInnen gelten hier alle Beschäftigten, die im Jahr zuvor nicht beschäftigt waren, dann aber einer Beschäftigung nachgehen., die erstmals oder erneut beschäftigt sind, und Mütter leisten deutlich weniger Arbeitsstunden als sie eigentlich möchten. Zwar liegen auch ihre gewünschten Arbeitsstunden niedriger als bei anderen Beschäftigten (fünf Stunden weniger bei Müttern, vier Stunden weniger bei EinsteigerInnen), die tatsächlichen Arbeitszeiten sind aber noch niedriger (sieben Stunden weniger bei Müttern, acht Stunden weniger bei EinsteigerInnen).
Mögliche Erklärungen dafür, weshalb GeringverdienerInnen, Neu- und WiedereinsteigerInnen und Mütter weniger arbeiten als gewünscht, könnten die abnehmende Gewerkschaftsbindung sowie die Hartz-Reformen sein, die die Verhandlungsposition von Beschäftigten im Niedriglohnsektor geschwächt haben.Siehe hierzu unter anderem Carlos Carrillo-Tudela, Andrey Launov und Jean-Marc Robin (2021): The fall in German unemployment: A flow analysis. European Economic Review, 132, 103658; Christian Dustmann, Johannes Ludsteck und Uta Schönberg (2009): Revisiting the German wage structure. The Quarterly Journal of Economics, 124(2), 843–881. Dass Mütter häufig von Unterbeschäftigung betroffen sind, deutet darauf hin, dass die nicht hinreichende Vereinbarkeit von Familie und Beruf nach wie vor die beruflichen Perspektiven und Karrierewege von Müttern einschränkt.
Dem Anstieg der Ungleichheit der Erwerbseinkommen zwischen 1993 und 2018 liegt ein Anstieg der Ungleichheit der geleisteten Arbeitszeit sowie der Korrelation zwischen Arbeitszeit und Stundenlöhnen zugrunde. Während die Ungleichheit der Stundenlöhne in den letzten Jahren leicht gesunken ist – unter anderem durch die Einführung des MindestlohnsSiehe dazu Mario Bossler und Thorsten Schank (2022): Wage inequality in Germany after the minimum wage introduction. Journal of Labor Economics, online first. – schlägt sich dies aufgrund von ArbeitszeitreduktionenSiehe dazu Marco Caliendo et al. (2022): The short-term distributional effects of the German minimum wage reform. Empirical Economics, forthcoming; Patrick Burauel et al. (2020): The impact of the minimum wage on working hours. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 240 (2–3), 233–267. nicht eins zu eins in der Verteilung der Bruttoerwerbseinkommen nieder.
Wären die Beschäftigten in der Lage gewesen, die von ihnen gewünschte Arbeitszeit zu realisieren, wäre die Ungleichheit der Erwerbseinkommen niedriger und deren Anstieg über die Zeit schwächer ausgefallen. Dies liegt daran, dass Beschäftigte im oberen Lohnsegment über die Zeit hinweg zunehmend geringere Arbeitsumfänge wünschen, Beschäftigte im unteren Lohnsegment dagegen höhere. Die systematischen Differenzen zwischen gewünschter und tatsächlicher Arbeitszeit zeigen, dass es den Unternehmen schwerfällt, im täglichen Geschäft die Vorstellungen ihrer Beschäftigten hinsichtlich der Arbeitszeiten umzusetzen. Ein möglicher Grund hierfür ist, dass mit flexibleren und parallel laufenden Arbeitszeitmodellen der Koordinations- und Verwaltungsaufwand in den Unternehmen steigt und sich andere Anforderungen an die Ausstattung des Arbeitsplatzes und der Arbeitsprozesse ergeben. Die Unternehmen sollten diese eventuellen Zusatzkosten aber abwägen gegen den Vorteil, dass die Beschäftigten zufriedener und (damit) motivierter sind.
Die Bundesregierung hätte Hebel zur Verfügung, um Unterbeschäftigung zu bekämpfen und so die Ungleichheit der Erwerbseinkommen zu reduzieren. Erstens gelingt es gerade Beschäftigten am unteren Ende der Stundenlohnverteilung nicht, Arbeitsstunden im von ihnen gewünschten (höheren) Umfang zu realisieren. Verdienstgrenzen etwa bei Mini- und Midijobs bei gleichzeitig steigenden Löhnen – zum Beispiel durch die Anhebung des Mindestlohns auf zwölf Euro – dürften dieses Problem verstärken. Die angedachten Anpassungen der Verdienstgrenzen verschieben das Problem nur. Reformvorschläge reichen daher von einer Beschränkung von Minijobs auf SchülerInnen und Studierende bis hin zu einer kompletten Abschaffung der Minijob-Regelung.Alexandra Fedorets et al. (2021): Der Makel der Minijobs. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 22. November 2021.
Dass zweitens erwerbstätige Frauen, und hier wiederum insbesondere Mütter, gerne mehr arbeiten würden als sie es tatsächlich tun, legt nahe, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch immer nur unzureichend gelingt. Hier könnten flächendeckende und an den Bedarfen der Beschäftigten ausgerichtete Kinderbetreuungsangebote sowie eine ausgeglichenere Verteilung der Arbeit im Haushalt Abhilfe schaffen, um Müttern eine Erwerbstätigkeit im gewünschten Umfang zu ermöglichen.
Die Problematik von Unter- und Überbeschäftigung scheint in der Politik angekommen zu sein: Seit 2019 gilt in Deutschland das Gesetz zur Brückenteilzeit, das es Beschäftigten größerer Unternehmen ermöglicht, temporär die Arbeitszeit zu reduzieren und im Anschluss wieder zu ihrer vorherigen Vollzeitstelle zurückzukehren. Diese Regelung gibt vielen Beschäftigten mehr Flexibilität und könnte zu einer geringeren Überbeschäftigung führen.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Arbeit und Beschäftigung
JEL-Classification: D63;J22;J31
Keywords: Earnings inequality, Working hours, Hours mismatch, Part-time work, Decomposition analysis
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-33-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/264911