DIW Wochenbericht 33/34 / 2022, S. 435
Carsten Schröder, Erich Wittenberg
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Herr Schröder, wie hat sich die Ungleichheit der Erwerbseinkommen in Deutschland in den letzten 25 Jahren entwickelt? Die Ungleichheit der Erwerbseinkommen ist in den letzten 25 Jahren gestiegen. Im Vergleich zu 1993 lag sie im Jahr 2018 um rund 50 Prozent höher, gemessen am Ungleichheitsmaß der mittleren logarithmischen Abweichung. Dieser Anstieg hat insbesondere in den Jahren 1993 bis 2003 stattgefunden. Etwa seit 2008 stagniert die Ungleichheit auf ziemlich hohem Niveau.
Was sind die Ursachen dafür und welche Rolle spielen Stundenlöhne und Arbeitszeiten? Unsere Analysen zeigen, dass der Anstieg der Ungleichheit bei den Erwerbseinkommen fast gar nicht an den Stundenlöhnen liegt. Deren Verteilung ist über die Zeit kaum ungleicher geworden. Tatsächlich ist es so, dass Beschäftigte mit hohen Stundenlöhnen im Vergleich zu Beschäftigten mit niedrigeren Stundenlöhnen heute wesentlich mehr arbeiten als früher. Das erhöht die Ungleichheit der Erwerbseinkommen und war im Untersuchungszeitraum der wesentliche Treiber dieser Entwicklung. Die 20 Prozent der Beschäftigten mit den geringsten Stundenlöhnen arbeiten heute rund zehn Stunden weniger pro Woche als 1993, nämlich rund 32 Stunden im Vergleich zu etwa 42 Stunden.
Von welchen Beschäftigtengruppen sprechen wir da? Unterhalb des Durchschnitts arbeiten häufig Frauen mit jungen Kindern und Menschen, die im Jahr zuvor keinen Job hatten, also neu oder wieder in den Beruf einsteigen.
Kann man davon ausgehen, dass zum Beispiel Menschen mit Minijobs gerne mehr Stunden arbeiten würden? Das ist genau der Fall. Da gibt es eine Verdienstgrenze, die aktuell bei rund 450 Euro liegt. Viele dieser Beschäftigten würden gerne mehr arbeiten, können dies aber nicht, weil sie sonst die Verdienstgrenze überschreiten.
Wo liegen bei den anderen Gruppen die Gründe für die geringere Zahl von Arbeitsstunden? Gerade erwerbstätige Frauen mit kleinen Kindern möchten nicht Vollzeit arbeiten. Doch ihre tatsächliche Arbeitszeit ist geringer, als sie es sich eigentlich wünschen.
Wie hätte sich die Ungleichheit entwickelt, wenn die Beschäftigten so viele Stunden arbeiten könnten wie sie wollen? Dann wäre die Ungleichheit in der Verteilung der Bruttoarbeitseinkommen im Zeitraum von 1993 bis 2018 nur halb so stark gestiegen.
Welche Bedeutung haben Ihre Ergebnisse für künftige arbeitspolitische Weichenstellungen? Ein wichtiges Ergebnis unserer Analyse ist, dass sich die Veränderungen in der Arbeitszeit nicht mit den Präferenzen der Beschäftigten decken. Das ist sowohl aus Wohlfahrtsperspektive als auch sozialpolitisch problematisch. Um das zu ändern, könnten sich zum Beispiel Arbeitgeber kooperativer bei der Ausgestaltung der Arbeitsverträge zeigen. Chancen bieten auch die Digitalisierung, Home Office oder Regelungen zur Verkürzung von Arbeitswegen, um höhere Arbeitsumfänge zu ermöglichen. Umgekehrt gibt es Beschäftigte gerade am oberen Ende der Stundenlohnverteilung, die ihre Arbeitszeit reduzieren möchten. Ein Instrument, mit dem man das erreichen könnte, ist die Brückenteilzeit. Eine Gruppe, für die es kein Allheilmittel gibt, sind die Beschäftigten in Minijobs. Hier ist eine Erhöhung der Verdienstgrenze sozialpolitisch schwierig, denn diese Beschäftigten unterliegen nicht der Sozialversicherungspflicht. Das heißt also, ihre heute niedrigen Einkommen werden sich in Zukunft auch in niedrigen Renten widerspiegeln.
Das Gespräch führte Erich Wittenberg.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Arbeit und Beschäftigung