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Das Narrativ der unaufhaltsam steigenden Ungleichheit geht an der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen vorbei

Weitere referierte Aufsätze

Gert G. Wagner

In: Zeitschrift für Politikwissenschaft 32 (2021), S. 15 - 35

Abstract

In diesem Artikel wird diskutiert, warum das weit verbreitete Narrativ einer wachsenden ökonomischen Ungleichheit in Deutschland nicht zu einer Stärkung der entsprechenden politischen Kräfte (SPD, Linkspartei und Gewerkschaften) geführt hat. Der Fokus liegt dabei nicht auf politischen Widerständen und Gegenkräften, die es bezüglich mehr Gleichheit zweifelsohne gab und gibt, sondern auf der Gültigkeit des Narrativs. Es zeigt sich, dass es methodisch und empirisch wenig robust ist und – gemessen an der Lebenszufriedenheit der Menschen in Deutschland – an der Lebenswirklichkeit der Mehrheit vorbeigeht. Zumindest war dies bis zum Beginn der Corona-Pandemie der Fall. Der Artikel leugnet keineswegs nicht oder nur schwer zu rechtfertigende Ungleichheiten, er soll aber deutlich machen, dass es weder methodisch noch empirisch gerechtfertigt ist, von einer unaufhaltsamen unerwünschten Zunahme der ökonomischen Ungleichheit in Deutschland zu sprechen. Will man die Ungleichheit substanziell verkleinern oder zumindest abmildern, bedarf es nach Überzeugung des Autors eines Narrativs, das methodisch und empirisch belastbar ist und das zugleich die Mittelschicht, ohne die keine politischen Mehrheiten möglich sind, erreicht und so genügend Wählerinnen und Wähler in der Mitte u. a. von einer gezielten Umverteilung überzeugt. Der Artikel macht abschliessend Vorschläge für die Verbesserung der empirischen Grundlagen der Messung und Analyse von ökonomischen Ungleichheiten und der Kommunikation der entsprechenden Analyseergebnisse. Prolog und Epilog versuchen aus persönlicher Sicht des Autors eine politische Einordnung der methodischen und empirischen Überlegungen vorzunehmen.

This article discusses why the narrative of growing economic inequality in Germany has not led to a strengthening of the corresponding political forces (SPD, Left Party and trade unions). The focus is not on political resistance and counterforces, which undoubtedly existed and exist with regard to more equality, but on the validity of the narrative. It turns out that it is methodologically and empirically not very robust and—measured by the life satisfaction of people in Germany—misses the reality of life for the majority of people. At least this was the case until the onset of the Corona pandemic. The article by no means denies inequalities that are unjustifiable or difficult to justify, but it does want to make clear that it is neither methodologically nor empirically justified to speak of an inexorable undesirable increase in economic inequality in Germany. If one wants to substantially reduce or at least mitigate inequality, the author is convinced that a narrative is needed that is methodologically and empirically robust and that at the same time reaches the middle class, without which no political majorities are possible, and thus convinces enough voters in the middle, among others, of the need for targeted redistribution. The article concludes by making suggestions for improving the empirical basis of measuring and analyzing economic inequalities and communicating the corresponding analytical results. The prologue and epilogue attempt to provide a political classification of the methodological and empirical considerations from the author’s personal perspective.

Gert G. Wagner

Fellow in der Infrastruktureinrichtung Sozio-oekonomisches Panel



Keywords: Verteilung, Mittelschicht, Mehrheit, Lebenswirklichkeit, Lebenszufriedenheit
DOI:
https://doi.org/10.1007/s41358-021-00274-3

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