DIW Wochenbericht 40 / 2022, S. 524
Christian von Hirschhausen
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Es ist gut, dass es neben all den Hiobsbotschaften der vergangenen Wochen auch eine beruhigende Nachricht gab: Die Stromnetze sind und bleiben stabil, und der „Stresstest“ der vier Stromübertragungsnetzbetreiber im Auftrag des Bundeswirtschaftsministeriums ergab, dass der Beitrag der verbleibenden drei Kernkraftwerke zur Energiegewinnung in kritischen Stunden im kommenden Winter gering wäre. Die Rede ist von einem Äquivalent von 0,5 Gigawatt (GW), also weniger als einem Prozent der Spitzenleistung. Diese geringe Menge geht im Rauschen des europäischen Strombinnenmarktes unter.
Angesichts gut gefüllter Erdgasspeicher sowie der Verfügbarkeit von (leider!) Kohlekraftwerken ist die Versorgungssicherheit auch dann gewährleistet, wenn spätestens im Frühjahr 2023 die letzten Kernkraftwerke abgeschaltet werden. Und dann hat das Experiment Atomkraft ein Ende gefunden. Atomkraft ist teuer, unzuverlässig (siehe Frankreich dieses Jahr) und – insbesondere – risikobehaftet: Trotz gesteigerter Bemühungen um Reaktorsicherheit gibt es bis heute niemanden, der eine Versicherung gegen potenzielle Unfälle anbietet.
Mit den Abschaltungen ist aber die Atomwende mitnichten erfolgreich beendet, im Gegenteil: Sie sind eine notwendige, aber bei weitem nicht hinreichende Bedingung, um die größte – und teuerste – Herausforderung des Atomzeitalters anzugehen, die sichere langfristige Entsorgung der radioaktiven Abfälle. Diese seit Jahrzehnten vernachlässigte Herausforderung tritt nunmehr in den Mittelpunkt: Dabei handelt es sich vor allem um 27000 Kubikmeter in rund 2000 Behältern, die derzeit an 16 Zwischenlagerstandorten stehen, die möglichst schnell in ein tiefengeologisches Endlager verbracht werden müssen. Deren Genehmigungen laufen lange vor Inbetriebnahme des Endlagers aus.
Und genau hier ist ein Stresstest 2.0 notwendig, ist doch der vom Standortauswahlgesetz (2017) vorgegebene Termin der Entscheidung über einen Endlagerstandort, die der Bundestag im Jahr 2031 treffen soll, stark gefährdet. Kein Geringerer als der Präsident der für das Verfahren zuständigen Bundesbehörde („BASE“, Bundesamt für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung) schlug vor einigen Wochen Alarm und konstatierte, dass das Zieldatum 2031 gefährdet sei.
Die Situation birgt Sprengkraft: Tatsächlich sind in Deutschland bereits zwei Anläufe gescheitert, die Entsorgungsproblematik zu lösen. Der dritte Anlauf muss nun rasch zum Erfolg führen. Dieser Erfolg wird jedoch durch viele Vertreter*innen aus Politik und Wirtschaft gefährdet, die fordern, die bestehenden Kraftwerke mit neuen Brennstäben zu versorgen und damit für die nächsten fünf bis sieben Jahre laufen zu lassen. Energiewirtschaftlich würde das wenig bringen (siehe den aktuellen Stresstest). Darüber hinaus mehren sich Forderungen nach einer „technologieoffenen“ Diskussion zum Bau neuer Kernkraftwerke. Der Staat müsste, je nach gewählter Technologielinie, über mehrere Jahrzehnte zwei- bis sogar dreistellige Milliardenbeträge in ein neues „System Atomenergie“ investieren und würde dabei auch das Ziel einer raschen und sicheren Entsorgung ad absurdum führen: Wer heute Neubauten vorschlägt, verschiebt den Endlagerprozess ins nächste Jahrhundert und untergräbt gleichzeitig das bereits heute gering ausgeprägte öffentliche Vertrauen in den Standortauswahlprozess; gleichzeitig werden Diskussionen mit potenziell betroffenen Gemeinden auf Augenhöhe unmöglich.
Das Thema der Entsorgung radioaktiver Abfälle gehört daher in Deutschland auf die Tagesordnung, und zwar ganz oben. Dies beinhaltet auch, dass Politik, Wissenschaft und Verwaltung ihre Kapazitäten nutzen sollten, um den Diskurs von den aktuellen Schattendebatten über Laufzeitverlängerung auf die reale Problematik der Entsorgung umzuschichten. Das muss jetzt passieren, um glaubwürdig zu bleiben und die Bevölkerung mit ins Boot zu nehmen. Warum nicht mit einem weiteren Stresstest die Aktion einleiten mit dem Ziel, die Entsorgungsfrage doch bis 2031 zu entscheiden und dann die nächsten Schritte zu gehen?
Themen: Energiewirtschaft