DIW Wochenbericht 42 / 2022, S. 539-545
Andreas Leibing, Frauke Peter, C. Katharina Spieß
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„In den Schulen sollte rechtzeitig vor dem Abitur darüber informiert werden, wie sich im späteren Arbeitsleben Familie und Beruf ohne große Einkommensabschläge vereinbaren lassen. Diese Vereinbarkeit ließe sich natürlich noch verbessern, etwa durch einen weiteren Ausbau der Kindertagesbetreuung.“ Andreas Leibing
Die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern, der sogenannte Gender Pay Gap, ist in Deutschland mit derzeit rund 18 Prozent nach wie vor beträchtlich. Dieser Bericht geht auf Basis von Daten des Berliner-Studienberechtigten-Panels (Best Up) der Frage nach, welche Rolle die Einkommenserwartungen junger Menschen für spätere Verdienstunterschiede spielen. Bereits kurz nach dem (Fach-)Abitur erwarten Frauen demnach, dass sie im Alter von 35 Jahren in einem Vollzeitjob mit Hochschulabschluss um 15,7 Prozent niedrigere monatliche Nettoeinkommen haben werden als Männer. Für Tätigkeiten mit Berufsausbildung ist der Gender Gap in den Einkommenserwartungen mit 13 Prozent etwas geringer. Ein großer Teil der Unterschiede geht darauf zurück, dass Frauen aufgrund erwarteter familiärer Verpflichtungen mit weniger Einkommen rechnen. Männer gehen hingegen nicht davon aus, dass Zeit mit der Familie ihr Einkommen schmälern wird. Da Einkommenserwartungen mit der Aufnahme eines Studiums zusammenhängen, könnten sie sich tatsächlich auf das spätere Einkommen auswirken. Die Politik sollte die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit – beispielsweise über Anreize für eine gleichmäßigere Aufteilung der Familienarbeit und den weiteren Ausbau der Kindertagesbetreuung – also auch aus diesem Grund weiter verbessern.
Der Gender Pay Gap, also der durchschnittliche prozentuale Lohnunterschied zwischen Frauen und Männern, war in den vergangenen Jahren in Deutschland relativ konstant.Diese Aussage bezieht sich auf den unbereinigten Gender Pay Gap, also den prozentualen Unterschied zwischen den Bruttostundenlöhnen von Männern und Frauen, unabhängig von Beruf, Branche oder Qualifikation. Im Jahr 2021 lag er bei etwa 18 Prozent.Vgl. Statistisches Bundesamt (2022): Gender Pay Gap 2021: Frauen verdienten pro Stunde weiterhin 18 Prozent weniger als Männer. Pressemitteilung Nr. 088 vom 7. März (online verfügbar, abgerufen am 16. September 2022. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Die Erwerbseinkommen von Frauen und Männern hatten sich zuvor zwar stetig angeglichen, wie in vielen anderen Ländern konzentrierte sich diese Entwicklung jedoch auch hierzulande in erster Linie auf jüngere Altersgruppen.Für Deutschland vgl. Annekatrin Schrenker und Katharina Wrohlich (2022): Gender Pay Gap ist in den letzten 30 Jahren fast nur bei Jüngeren gesunken. DIW Wochenbericht Nr. 9, 149–154 (online verfügbar). Für die USA vgl. Amanda Barroso und Anna Brown (2021): Gender Pay Gap in US Held Steady in 2020. Pew Research Center (online verfügbar). In den Altersgruppen ab 30 Jahren, wenn in der Regel die Phase der Familiengründung beginnt, ist der Gender Pay Gap nach wie vor hoch.Ein Grund sind sogenannte „Child Penalties“: Dies sind Einkommenseinbußen von Frauen in Folge von Mutterschaft, die in der Regel mit einem höheren Anteil an privater Sorgearbeit und einer Reduzierung der Arbeitszeit einhergehen. In dieser Studie dienen Präferenzen für ausreichend Zeit für familiäre Verpflichtungen als Indikator für entsprechende Erwartungen. Vgl. Henrik Kleven et al. (2019): Child Penalties across Countries: Evidence and Explanations. AEA Papers and Proceedings. 109, 122–126. Zu erwarteten Child Penalties vgl. Ilyana Kuziemko et al. (2018): The Mommy Effect: Do Women Anticipate the Employment Effects of Motherhood?. NBER Working Paper Nr. 24740, National Bureau of Economic Research.
Dieser Wochenbericht geht der Frage nach, ob es bereits im jungen Alter geschlechtsspezifische Unterschiede bei den Einkommenserwartungen gibt – und wenn ja, wodurch diese erklärt werden können. Diese in Hinblick auf spätere Lohnunterschiede zu untersuchen ist wichtig, da Erwartungen für Entscheidungen auf dem Arbeitsmarkt eine große Rolle spielen. In jüngerer Vergangenheit erhielten Einkommenserwartungen junger Menschen auch eine größere Aufmerksamkeit in der ökonomischen Literatur:Für eine aktuelle Übersicht über den Stand der bildungsökonomischen Literatur zum Thema vgl. Pamela Giustinelli (2022): Expectations in Education: Framework, Elicitation, and Evidence. In: Rüdiger Bachmann, Giorgio Topa und Wilbert van der Klaauw (Hrsg.): Elsevier Handbook of Economic Expectations. Bevorstehende Publikation (November 2022). Bisherige Studien haben gezeigt, dass Frauen bereits während des Studiums für ihr späteres Berufsleben ein niedrigeres Einkommen erwarten als Männer.Vgl. Ernesto Reuben, Matthew Wiswall und Basit Zafar (2017): Preferences and Biases in Educational Choices and Labour Market Expectations: Shrinking the Black Box of Gender. The Economic Journal, 127, Nr. 604, 2153–2186; Lukas Kiessling et al. (2019): Gender Differences in Wage Expectations: Sorting, Children, and Negotiation Styles. IZA Discussion Paper Nr. 12522. Daran anknüpfend wird in diesem Bericht untersucht, inwiefern sich die Einkommenserwartungen in noch jüngerem Alter, nämlich bei Abiturientinnen und AbiturientenDie diesem Bericht zugrundeliegende Befragung basiert auf einem binären Verständnis von Geschlecht. Auch wenn der gedankliche Hintergrund heute ein nicht binäres Verständnis von Geschlecht ist, wird beim Bezug auf die bereits erhobenen Daten mit den ursprünglich verwendeten Kategorien gearbeitet., unterscheiden. Darüber hinaus wird der Frage nachgegangen, wie die Einkommenserwartungen mit der Entscheidung zusammenhängen, sich an einer Hochschule einzuschreiben.Der vorliegende Bericht beruht auf Andreas Leibing et al. (2022): Gender Gaps in Early Wage Expectations. IZA Discussion Paper Nr. 15281 (online verfügbar). Über diesen Weg könnten die Erwartungen das spätere Einkommen tatsächlich beeinflussen.
Frühe Gender Gaps in den Einkommenserwartungen können sich langfristig auf die Erwerbsbiografien auswirken und damit auch das spätere Einkommen beeinflussen. Wenn Frauen im Vergleich zu Männern niedrigere Einkommen erwarten, gehen sie zum einen womöglich deutlich vorsichtiger in Gehaltsverhandlungen und erzielen dann tatsächlich vergleichsweise schlechte Ergebnisse. Insbesondere Einstiegsgehälter, die oft richtungsweisend für das spätere Einkommen sind, könnten davon betroffen sein.Vgl. Sarah Brown und Karl Taylor (2013): Reservation Wages, Expected Wages and Unemployment. Economics Letters, 119(3), 276–279; Marco Caliendo, Wang-Sheng Lee und Robert Mahlstedt (2017): The Gender Wage Gap and the Role of Reservation Wages: New Evidence for Unemployed Workers. Journal of Economic Behavior & Organization, 136, 161–173. Zum anderen könnten niedrigere Renditeerwartungen an Jobs mit einem Hochschulabschluss ein Studium weniger attraktiv erscheinen lassen, als es in Wahrheit ist.Vgl. Chris Belfield et al. (2020): What Drives Enrolment Gaps in Further Education? The Role of Beliefs in Sequential Schooling Decisions. Economica, 87(346), 490–529. Falls sich vor diesem Hintergrund beispielsweise weniger Frauen für ein Hochschulstudium entscheiden, könnte dies auch ihr tatsächliches Einkommen negativ beeinflussen. Wenn Frauen niedrigere Einkommen erwarten als Männer, insbesondere vor dem Studium, kann dies also eine selbsterfüllende Prophezeiung sein und somit zum eigentlichen Gender Pay Gap beitragen. Ein besseres Verständnis des Gender Gaps in den Einkommenserwartungen und seiner Ursachen kann daher helfen, die Entstehung und Entwicklung des tatsächlichen Gender Pay Gaps besser zu verstehen.
Die Analysen basieren auf dem Berliner-Studienberechtigten-Panel (Best Up). Im Rahmen dieser Studie wurden junge Erwachsene nach Abschluss der Oberstufe gefragt, welche Erwartungen sie mit Blick auf die Höhe ihres Erwerbseinkommens für einen Vollzeitjob im Alter von 35 Jahren haben (Kasten). Die Untersuchungen zeigen, dass Abiturientinnen ihr späteres monatliches Nettoeinkommen mit einem Hochschulabschluss um durchschnittlich 15,7 Prozent niedriger einschätzen als Abiturienten (Abbildung 1). Für den Fall eines Masterabschlusses erwarten Abiturientinnen um 13,8 Prozent geringere Löhne als Abiturienten; bei einem Bachelorabschluss beträgt der Gender Gap diesbezüglich sogar 18,7 Prozent. Für den Fall ohne Hochschulabschluss, aber mit einer abgeschlossenen Berufsausbildung, liegt der Gender Gap in den Einkommenserwartungen bei 13 Prozent. Mit einem Hochschulabschluss steigt also tendenziell auch der Gender Gap in den Einkommenserwartungen – ein Muster, dem der tatsächliche Gender Pay Gap folgt.
Die vorliegenden Analysen basieren auf dem Berliner-Studienberechtigten-Panel (Best Up).Für eine detaillierte Beschreibung der Best-Up-Daten vgl. Martin Ehlert et al. (2017): Berliner-Studienberechtigten-Panel (Best Up) – Data Description and Documentation. DIW Data Documentation Nr. 90 (online verfügbar). Im Rahmen dieser Studie wurden Schülerinnen und Schüler an 27 Berliner SchulenDiese umfassen Gymnasien, integrierte Sekundarschulen und berufliche Gymnasien – also Einrichtungen, an denen eine Hochschulzugangsberechtigung erworben werden kann. zu ihrem erwarteten Erwerbseinkommen in Vollzeitbeschäftigung im Alter von 35 Jahren in drei verschiedenen Bildungsszenarien befragt: für den Fall einer abgeschlossenen Berufsausbildung, für den Fall eines abgeschlossenen Bachelorstudiums und für den Fall eines abgeschlossenen Masterstudiums. Für jeden dieser drei angenommenen Fälle wurden alle Teilnehmenden nach ihrer minimalen und maximalen Einkommenserwartung gefragt, aus denen eine individuelle Durchschnittserwartung gebildet wird. Die Betrachtung der Durchschnittserwartungen erlaubt unter anderem einen repräsentativen Vergleich zu den tatsächlich realisierten Einkommen auf dem Arbeitsmarkt. Diese Einkommenserwartungen wurden in der dritten Befragungswelle, kurz nach dem Abitur im Sommer 2014, abgefragt.
Die Teilnehmenden der Best-Up-Studie wurden insgesamt von ihrem vorletzten Schuljahr vor dem Erwerb der allgemeinen Hochschulreife (2013) bis zu sieben Jahre danach (2020) zu verschiedenen Aspekten ihres Übergangs von der Schule in eine berufliche Ausbildung oder ein Studium befragt. Dabei wurden auch Präferenzen für das spätere Studienfach und für die künftige Berufstätigkeit erfasst, zum Beispiel der Wunsch nach einem Beruf, der einem genügend Zeit für familiäre Verpflichtungen lässt. Der vorliegende Bericht beruht auf einer Analyse der durchschnittlichen Einkommenserwartungen von 513 Personen des Berliner-Studienberechtigten-Panels, für die valide Informationen zu den Einkommenserwartungen vorliegen.Die ersten fünf Wellen des Best-Up-Projekts wurden von der Einstein Stiftung (Förderkennzeichen (A-2010-025 (FU)) gefördert. Weitere Arbeiten mit den Daten konnten im Rahmen eines anderen Projekts, das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG, Förderkennzeichen SP 1091/2-1) finanziert wurde, durchgeführt werden. Davon sind 308 Frauen und 205 Männer.
Im Rahmen des vorliegenden Berichts wurden mehrere Analyseschritte durchgeführt. Erstens wurde mit Hilfe der sogenannten Oaxaca-Blinder-ZerlegungRonald Oaxaca (1973): Male-female Wage Differentials in Urban Labor Markets. International Economic Review, 693–709; Alan Stuart Blinder (1973): Wage Discrimination: Reduced Form and Structural Estimates. Journal of Human Resources, 436–455; Nicole M. Fortin (2008): The Gender Wage Gap Among Young Adults in the United States – The Importance of Money Versus People. Journal of Human Resources, 43(4), 884–918. untersucht, in welchem Ausmaß zahlreiche Faktoren, unter anderem verschiedene Berufs- und Studienpräferenzen, der familiäre Hintergrund sowie kognitive und nichtkognitive Fähigkeiten, für Unterschiede zwischen den Einkommenserwartungen junger Frauen und Männer eine Rolle spielen. Die Methode zerlegt die Differenz in den Einkommenserwartungen in zwei Teile:
In den Analysen werden zweitens die in Best Up gemessenen Einkommenserwartungen mit dem entsprechenden zeitgleichen Einkommensniveau verglichen. Dieses tatsächliche Einkommensniveau spiegelt die monatlichen Nettoerwerbseinkommen vollzeitbeschäftigter Frauen und Männer im Alter von 33 bis 37 Jahren für verschiedene Bildungsabschlüsse (Bachelor sowie Master oder Diplom) wider. Als Grundlage für die Berechnung des zeitgleichen Einkommensniveaus dienen Daten des Mikrozensus für die Jahre 2010 bis 2012.
Drittens untersuchen die Analysen mittels einer linearen Regressionsanalyse (OLS) den Übergang in ein Studium. Als abhängige Variable dient ein Indikator dafür, ob sich die Befragten in den ersten beiden Jahren nach dem Abitur an einer Universität oder Fachhochschule einschreiben. Als unabhängige Variable dient der individuell erwartete Ertrag eines Bachelorabschlusses (in Prozent) im Vergleich zu den mit einer beruflichen Ausbildung verbundenen Einkommenserwartungen. Beide Einkommenserwartungen werden als natürlicher Logarithmus erfasst, was für derartige Analysen das übliche Verfahren ist.
Für den Fall eines Bachelorabschlusses erwarten Männer im Schnitt ein monatliches Nettoeinkommen von 3104 Euro, während Frauen durchschnittlich nur mit 2529 Euro bei einem solchen Abschluss rechnen (Abbildung 2). Verglichen mit den im zeitlichen Umfeld der Befragung im Jahr 2014 tatsächlich realisierten monatlichen Nettoeinkommen waren diese Erwartungen sehr optimistisch: So erzielten in Vollzeit tätige Männer zwischen 33 und 37 Jahren mit einem Bachelorabschluss ein Nettoeinkommen von durchschnittlich 2739 Euro; bei berufstätigen Frauen waren es 2070 Euro. Vor allem Abiturientinnen überschätzten ihr zukünftiges Einkommen im Vergleich zum zeitgleichen tatsächlichen Einkommensniveau also deutlich, nämlich um rund 22 Prozent. Bei Männern betrug der Abstand zwischen erwartetem und tatsächlichem Einkommensniveau hingegen nur 13 Prozent. Folglich lag der Gender Gap in den Einkommenserwartungen niedriger als der tatsächliche unbereinigte Gender Pay Gap des Jahres 2014 (22,3 Prozent).Die Vergleichbarkeit mit dem unbereinigten Gender Pay Gap ist eingeschränkt, unter anderem weil die für diesen Bericht verwendeten Daten sich auf ein bestimmtes Qualifikationsniveau und eine Vollzeitbeschäftigung beziehen. Trotzdem war der Gender Gap in den Einkommenserwartungen und somit auch der implizit erwartete Gender Pay Gap erheblich. Wie lassen sich diese Unterschiede in den Einkommenserwartungen erklären?
Ähnlich wie beim tatsächlichen Gender Pay Gap weisen die Analysen darauf hin, dass vor allem die erwarteten Einkommensabschläge wegen familiärer Verpflichtungen für Unterschiede in den Einkommenserwartungen verantwortlich sind. Von Frauen erwartete Abschläge aufgrund familiärer Verpflichtungen können circa 43 Prozent des hier untersuchten Gender Gaps erklären (Abbildung 3). Dies kann hauptsächlich durch den sogenannten Einkommensstruktureffekt erklärt werden: Frauen, die sich später mehr Zeit für die Familie wünschen, haben demnach deutlich niedrigere Einkommenserwartungen als Frauen ohne diese Präferenz. Männer erwarten im Durchschnitt hingegen keinen Konflikt zwischen familiären Verpflichtungen und ihrer Karriere und damit auch keine Abschläge für das Einkommen.Für eine detaillierte Aufschlüsselung des Gender Gaps in den Einkommenserwartungen in Kompositions- und Einkommensstruktureffekt und die Rolle anderer Faktoren wie das angestrebte Studienfach vgl. Andreas Leibing et al. (2022), a.a.O. Ein großer Teil des Gender Gaps in den Einkommenserwartungen kann also allein dadurch erklärt werden, dass Frauen im Gegensatz zu Männern erwarten, Familienarbeit gegen Erwerbsarbeit aufwiegen zu müssen. Der Anteil des Gender Gaps in den Einkommenserwartungen, der durch unterschiedliche Ausprägungen der Präferenz für ausreichend Familienzeit erklärt werden kann (Kompositionseffekt), ist hingegen klein. Frauen und Männer wünschen sich gleichermaßen ausreichend Zeit für die Familie.
Obwohl die Teilnehmenden des Berliner-Studienberechtigten-Panels nach ihren Einkommenserwartungen bei einer Wochenarbeitszeit von rund 39 Stunden – also einer Vollzeittätigkeit – gefragt wurden, kann nicht ausgeschlossen werden, dass die erwarteten Einkommensabschläge auch auf eine angenommene Arbeitszeitreduzierung zurückgehen. So gibt es in Deutschland auch bei Vollzeitbeschäftigung Unterschiede zwischen der durchschnittlichen Wochenarbeitszeit erwerbstätiger Männer (42,1 Stunden) und Frauen (40,3 Stunden).Vgl. Daten auf der Webseite von Eurostat (online verfügbar). Dies könnte zumindest teilweise erklären, weshalb Frauen ihre Einkommenserwartungen auch mit Blick auf einen Vollzeitjob aufgrund familiärer Verpflichtungen herunterschrauben.
Der relative Anteil der erwarteten familiär bedingten Abschläge ist größer für Erwerbskarrieren, die ein Hochschulstudium voraussetzen. Während der absolute Anteil für die verschiedenen beruflichen Ausbildungsabschlüsse ähnlich groß ist, variiert ihre relative Bedeutung stark: Bei Einkommenserwartungen, die mit einem Bachelorabschluss verbunden werden, erklären familiär bedingte Abschläge etwa ein Drittel des Gender Gaps (6,8 Prozentpunkte von insgesamt 18,7 Prozent). Bei den Einkommenserwartungen für einen Masterabschluss erklären diese sogar die Hälfte des Gender Gaps (7,1 Prozentpunkte des Unterschieds von 13,8 Prozent). Dies deutet darauf hin, dass Frauen bereits nach dem Abitur damit rechnen, eine Vollzeitarbeit eher mit einem geringeren Stundenumfang ausüben zu können, und damit bestimmte Karrieren für sich von vorneherein ausschließen. Männer hingegen erwarten nicht, dass sie in dieser Hinsicht Kompromisse eingehen werden müssen.
Wer mit einem Hochschulabschluss ein höheres Einkommen verbindet als mit einem anderen beruflichen Abschluss, wird sich – gemäß ökonomischer Überlegungen – mit einer höheren Wahrscheinlichkeit für ein Studium entscheiden.In der klassischen bildungsökonomischen Theorie wird die Entscheidung, ein Hochschulstudium aufzunehmen, als eine Investitionsentscheidung betrachtet. Die bisherige empirische Literatur bestätigt den positiven Zusammenhang zwischen erwarteten Erträgen eines Studiums und Hochschuleinschreibungen. Vgl. Walter W. McMahon und Alan P. Wagner (1981): Expected Returns to Investment in Higher Education. Journal of Human Resources, 16(2), 274–285. Unterschiedliche Einkommenserwartungen von Frauen und Männern für eine Beschäftigung mit Hochschulabschluss könnten also ein Grund dafür sein, warum es auch einen Gender Gap beim Übergang in ein Studium gibt, Abiturientinnen sich also seltener für ein Studium entscheiden als Abiturienten.Von der Abiturkohorte des Jahres 2015 nahmen innerhalb von zwei Jahren 71 Prozent der Männer und nur 63 Prozent der Frauen ein Hochschulstudium auf. Vgl. Statistisches Bundesamt (2020): Nichtmonetäre hochschulstatistische Kennzahlen. Fachserie 11, Reihe 4.3.1. Inwiefern dies zutrifft, wurde ebenfalls mit den Best-Up-Daten analysiert.
Es zeigt sich, dass die befragten Frauen ihre Einschreibungsentscheidungen tatsächlich von den mit einem Hochschulabschluss verbundenen erwarteten Mehreinnahmen abhängig machen. Zwischen den erwarteten Erträgen eines Studiums und der Aufnahme eines Studiums besteht bei Abiturientinnen ein positiver und statistisch signifikanter Zusammenhang. Eine Verringerung der erwarteten Erträge eines Hochschulstudiums – im Vergleich zu einer Berufsausbildung – um ein Prozent ist bei Frauen mit einer um 0,29 Prozentpunkte niedrigeren Wahrscheinlichkeit verbunden, ein Studium aufzunehmen (Abbildung 4). Für Männer konnte ein solcher Zusammenhang nicht nachgewiesen werden. Erwartete Einkommensabschläge aufgrund familiärer Verpflichtungen können daher tatsächlich Bildungsentscheidungen beeinflussen. Familien- und Karriereplanung sowie Bildungsentscheidungen gehen also Hand in Hand mit dem erwarteten Einkommen.Vgl. Matthew Wiswall und Basit Zafar (2021): Human Capital Investments and Expectations about Career and Family. Journal of Political Economy, 129, 1361–1424.
Die Analysen auf Basis des Best-Up-Datensatzes zeigen, dass Abiturientinnen für Jobs mit einem Hochschulabschluss langfristig deutlich geringere Einkommen erwarten als Abiturienten. Der entsprechende Gender Gap in den Einkommenserwartungen liegt bei 15,7 Prozent. Einkommenserwartungen können zudem mit darüber entscheiden, ob sich junge Menschen nach dem Abitur für oder gegen ein Studium entscheiden. Das wiederum beeinflusst tatsächlich das spätere Einkommen.
Wenn die Politik den Gender Pay Gap reduzieren will,Alexandra Scheele und Andrea Jochmann-Döll (2020): Auf dem Weg zur Entgeltgleichheit von Frauen und Männern. Daten, Ursachen, Maßnahmen. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ). sollte sie demnach auch an den Einkommenserwartungen junger Menschen ansetzen. Maßnahmen, die sich auf diese Erwartungen auswirken und Frauen ermutigen, Karrieren mit höheren Verdiensten einzuschlagen, können in zwei Kategorien unterteilt werden. Die erste Gruppe von Maßnahmen sind solche, die die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit verbessern und somit indirekt auch die Einkommenserwartungen beeinflussen. So sollten verstärkt Anreize gesetzt werden, damit sich Frauen und Männer die Familienarbeit gleichmäßiger aufteilen.Eine mögliche Lösung könnte eine Lohnersatzleistung bei Familienarbeitszeit sein. Vgl. Kai-Uwe Müller, Michael Neumann und Katharina Wrohlich (2013): Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch eine neue Lohnersatzleistung bei Familienarbeitszeit. DIW Wochenbericht Nr. 46, 3–11 (online verfügbar). Auch ein weiterer Ausbau der Kindertagesbetreuung, insbesondere im Bereich ganztägiger Angebote, kann die Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit weiter verbessern. Mehr Frauen in Führungspositionen sind in diesem Zusammenhang ebenfalls wichtig.So hatte sich zuletzt nach der Einführung eines Beteiligungsgebotes der Anteil der Frauen in Führungspositionen stark erhöht. Vgl. Anja Kirsch, Virginia Sondergeld und Katharina Wrohlich (2022): Deutlich mehr Vorständinnen in großen Unternehmen: Beteiligungsgebot scheint bereits zu wirken. DIW Wochenbericht Nr. 3, 22–33 (online verfügbar). Sie könnten ein Vorbild für junge Frauen sein, sodass diese ihre Erwartungen zur Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit anpassen, folglich ihre Einkommenserwartungen erhöhen und gegebenenfalls höhere Karrierepfade anstreben.
Die zweite Gruppe von Maßnahmen könnte direkt an den individuellen Einkommenserwartungen von jungen Frauen und Männern ansetzen. Allerdings zeigen die vorliegenden Analysen, dass junge Frauen ihr erwartetes Einkommen im Vergleich zum tatsächlichen Einkommensniveau stärker überschätzen als Männer. Auf der anderen Seite erwarten Abiturientinnen im Gegensatz zu Abiturienten Einkommensabschläge aufgrund von Familienarbeit, die sich in den tatsächlichen Einkommen widerspiegeln. Die Herausforderung ist also, Frauen weder zu entmutigen noch unrealistische Erwartungen zu wecken. Vielmehr sollten mögliche Informationskampagnen verstärkt Hinweise zur besseren Vereinbarkeit von Familien- und Erwerbsarbeit geben und auch auf aktuelle Politikmaßnahmen im Sinne der Gleichstellung hinweisen.
Themen: Verteilung, Gender, Arbeit und Beschäftigung
JEL-Classification: I26;J31;D84
Keywords: wage expectations, gender gap, child penalties, college enrollment
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-42-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/266737