DIW Wochenbericht 47 / 2022, S. 623-631
Dawud Ansari, Wassim Brahim, Franziska Holz, Claudia Kemfert
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„Die Unterschiede zwischen den Ländergruppen und damit auch die Hürden für Einigungen auf Weltklimagipfeln bleiben sehr groß. Feinfühlige Klimaaußenpolitik, die auch außereuropäische Perspektiven berücksichtigt, ist dringend nötig.“ Dawud Ansari
Die Klimakonferenz COP27 im November 2022 hat erneut die sehr unterschiedlichen Positionen der verschiedenen Länder verdeutlicht. In diesem Bericht werden die Länder der Erde in typische Profile nach ihrer aktuellen und geplanten Klimafreundlichkeit sowie ihrem vergangenen Beitrag zum Klimaproblem eingeteilt. Zwischen den Profilen besteht eine hohe Diversität, die nicht durch geographische Nähe definiert ist, sondern vielmehr durch Wirtschaftsstrukturen und Politikentscheidungen. Die Mehrheit der Länder hat in der Vergangenheit nicht zum Klimaproblem beigetragen, hat aber bislang auch keine Pläne, klimaneutral zu werden. Die Länder der Europäischen Union sind ebenfalls divers: mit unterschiedlich hohen Beiträgen zu bisherigen Treibhausgasemissionen und einigen Ländern ohne eigene ambitionierte Klimaneutralitätsziele.
Die jährlichen UN-Klimakonferenzen (COP) gelten als das zentrale Forum für Klimaaußenpolitik. 2015 wurde dort im Pariser Klimaschutzabkommen der Rahmen für ambitionierte globale Anstrengungen zur Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 beziehungsweise zwei Grad Celsius geschaffen. Seit 2015 hat sich jedoch gezeigt, dass das faktische Klimaschutzengagement und die Bereitschaft zu vertiefenden Übereinkommen keineswegs sicher sind. Beispielsweise wurde auf der 24. Klimakonferenz 2018 der Weltklimarat-Bericht wegen des Widerstandes der USA, Saudi-Arabiens, Kuwaits und Russlands nicht angenommen.Siehe Erlend A.T. Hermansen et al. (2021): Post-Paris policy relevance: lessons from the IPCC SR15 process. Climatic Change 169, 1–18 (online verfügbar, abgerufen am 31. Oktober 2022. Dies gilt für alle Onlinequellen in diesem Bericht, sofern nicht anders vermerkt). Die USA sind unter Donald Trump aus dem Abkommen ausgetreten; die Biden-Regierung ist zwar wieder eingetreten, der Verbleib des Landes unter einer zukünftigen Regierung ist jedoch weiter ungewiss.
Insgesamt fallen vor allem Schwellenländer in der öffentlichen Debatte negativ ins Gewicht: China, Indien und andere rasch wachsende Länder des Globalen Südens werden häufig für die globale Erwärmung verantwortlich gemacht. Doch inwieweit stimmt diese Bewertung?
Das Emissionsverhalten von Ländern ist divers und zeitlich variabel. Während sich der öffentliche Diskurs überwiegend auf die aktuellen, absoluten CO2-Emissionen eines Landes konzentriert, spielen die Emissionshistorie und Pro-Kopf-Emissionen eine ebenso große Rolle.Siehe Robert Gampfer (2014): Do individuals care about fairness in burden sharing for climate change mitigation? Evidence from a lab experiment. Climatic Change 124, 65–77 (online verfügbar). Das 1992 durch die Vereinten Nationen formalisierte Prinzip der gemeinsamen, aber differenzierten Verantwortung (Common But Differentiated Responsibilities, CBDR) im Klimaschutz sollte den globalen Ungleichheiten Rechnung tragen. Die mit dem Pariser Abkommen vereinbarten national festgelegten Beiträge (Nationally Determined Contributions, NDCs) haben dieses Prinzip aber de facto aufgeweicht, da Länder eigenständig ihre Klimaziele wählen.Siehe Pieter Pauw, Kennedy Mbeva und Harro van Asselt (2019): Subtle differentiation of countries’ responsibilities under the Paris Agreement. Palgrave Communications 5, 86 (online verfügbar).
Die in den NDCs spezifizierten Emissionsverringerungen stellen allerdings auch keine langfristige Lösung der Klimaziele dar.Siehe die Auswertung einiger NDCs durch den Climate Action Tracker (online verfügbar). Vielmehr gewinnen sogenannte „Net-Zero“-Ziele (Klimaneutralitätsziele) zunehmend an Bedeutung.Siehe Sabire S. Evli, Anna Broughel und Dawud Ansari (2022): Evaluation of Net-Zero Carbon and 100% Renewable Energy Scenarios for 2050 and Beyond. In: Geoffrey Wood et al. (Hrsg.): The Palgrave Handbook of Zero Carbon Energy Systems and Energy Transitions. Palgrave Studies in Energy Transitions. Palgrave Macmillan (online verfügbar). Im Rahmen dieser Ziele visieren Länder Zeitpunkte an, ab denen sie nur so viel CO2 ausstoßen, wie sie auch auf anderem Wege abbauen können, sodass sich die CO2-Menge in der Atmosphäre (netto) nicht mehr erhöht.
Dieser Bericht verdeutlicht die (Ausgangs-)Positionen verschiedener Länder durch die Aufbereitung von Zahlen zu nationalen Emissionen und zum Klimaschutz. Die Ergebnisse sind kein einfaches Ranking der Emissionen, sondern eine deskriptive Analyse, die es erlaubt, einen neuen Blick auf Gruppen von Emittenten zu gewinnen, repräsentative Gruppen von Ländern zu identifizieren und ihr Verhalten im Zeitverlauf zu beschreiben. Dies geschieht in zwei separaten Analysen: Zum einen werden die Länder in Gruppen mit idealtypischen Emissionsprofilen eingeteilt. Zum anderen werden die Entwicklungspfade der Länder anhand verschiedener Indikatoren für deren Klimafreundlichkeit im Zeitverlauf analysiert.Die Indikatoren umfassen historische Emissionen, aktuelle Pro-Kopf-Emissionen, den Anteil erneuerbarer Energien und Klimaneutralitätspläne. Bei den Emissionen werden nur CO2-Emissionen und keine anderen Treibhausgase betrachtet. Der Bericht grenzt sich von anderen Emissionsrankings und -klassifizierungenSiehe beispielsweise Climate Action Tracker (online verfügbar) und Germanwatch Klimaschutz-Index (online verfügbar). durch seinen Fokus auf KlimagerechtigkeitKlimagerechtigkeit bezeichnet das normative Verständnis einer gerechten Kostenverteilung für die Klima-Krise, häufig auf Basis historischer Verantwortlichkeit sowie der Pro-Kopf-Verteilung von Emissionen. Siehe auch Chukwumerije Okereke (2010): Climate justice and the international regime. Wiley Interdisciplinary Reviews: Climate Change 3, 462–474 (online verfügbar). und Klimaneutralitätsziele sowie einen umfassenden Blick auf alle Länder ab.
In der ersten Analyse werden durch hierarchisches Clustering 182 Länder gemäß ihrem historischen, aktuellen und voraussichtlichen Emissionsverhalten in Gruppen eingeteilt (Kasten 1). Diese Gruppen repräsentieren idealtypische Profile von Emittenten. Sie erlauben einerseits, verallgemeinerbare Verhaltensmuster aufzustellen, und andererseits, vergleichbare Länder zu identifizieren. Als Variablen zur Bildung der Gruppen (Clustering-Variablen) werden kumulative CO2-Emissionen (historische Dimension), aktuelle CO2-Emissionen in absoluter Höhe und pro Kopf (aktuelle Dimension) sowie das verkündete Jahr zur Erreichung der Klimaneutralität und die Formalisierung dieser Pläne (zukünftige Dimension) herangezogen. Das endogene Clustering ergibt insgesamt neun Gruppen, sowie die USA und China als alleinstehende Länder (Abbildung 1).
Hierarchisches Clustering ist ein Algorithmus des unüberwachten maschinellen Lernens.Zur Anwendung siehe auch Adnan Al-Akori et al. (2022): Conflict, Health, and Electricity —An Empirical Assessment of the Electrification of Healthcare Facilities in Yemen. EADP Discussion Paper 2022 – 01 (online verfügbar). Er klassifiziert Objekte – Länder in diesem Fall – in endogen festgelegte Gruppen. Der hier verwendete agglomerative Ansatz betrachtet zunächst jedes Land als ein eigenständiges Cluster (Gruppe) und fasst in einem iterativen Verfahren sukzessive die zwei Cluster mit der höchsten Ähnlichkeit zu einem neuen Cluster (Gruppe) zusammen, bis alle Elemente verknüpft sind. Das Ergebnis ist eine klassifizierende Baumstruktur, aus welcher ein Querschnitt entnommen und analysiert wird.
Zur Messung der Ähnlichkeit zwischen Gruppen wird hier die Verknüpfungsmethode von WardSiehe Joe H. Ward Jr. (1963): Hierarchical Grouping to Optimize an Objective Function, Journal of the American Statistical Association, 58, 236–244 (online verfügbar). und die euklidische Distanz verwendet. Sämtliche Variablen werden in einem Vorbereitungsschritt standardisiert, also auf eine Verteilung mit Mittelwert 0 und Standardabweichung von 1 transformiert. Der Algorithmus wird mit der Python-Bibliothek Scikit umgesetzt.Fabian Pedregosa et al. (2011): Scikit-learn: Machine learning in Python. The Journal of machine Learning research 12, 2825–2830 (online verfügbar).
Für die Bildung von idealtypischen Emissionsprofilen wird das Clustering mit folgenden Variablen durchgeführt:
Als aktuelles Jahr wird in diesem Bericht 2019 herangezogen, um Verzerrungen der Daten aufgrund der asymmetrischen Reaktionen auf Covid-19 auszublenden. Entsprechend der resultierenden Clusterhierarchie und der zugrundeliegenden Fragestellung wird ein Querschnitt mit elf Clustern für die Analyse ausgewählt. Geplanter Klimaschutz wird in dieser Variablenliste nur durch Klimaneutralitätsziele repräsentiert. Dies liegt einerseits an der schweren Vergleichbarkeit von NDCs beziehungsweise dem Umstand, dass dazugehörige Datensätze sich nicht auf alle Länder beziehen. Anderseits soll die Analyse einen bewussten Fokus auf Klimaneutralität als verlässlichem Klimaschutz legen.
Die Gewandelten und die Fleißigen sind zwei ähnlich gelagerte Profile westlicher Industrienationen mit starken Klimazielen. Der historische wie auch der aktuelle CO2-Fußabdruck der Fleißigen – zum Beispiel Schweden und Frankreich – sind eher niedrig und sie haben sehr ambitionierte Klimaschutzpläne. Die Gewandelten, zu welchen Deutschland und Kanada gehören, haben ähnliche (wenngleich etwas schwächere) Pläne, gehören jedoch aktuell wie auch historisch zu den Ländern mit den höchsten Emissionen. Obgleich Fleißige und Gewandelte ein ähnliches Pro-Kopf-Einkommen haben, unterscheidet sich ihre Wirtschaftsstruktur. Gewandelte sind große Industrienationen, was ihre Dekarbonisierung schwerer und teurer macht. Die Fleißigen hingegen haben einen relativ geringen Anteil CO2-intensiver Industrien, wodurch ihre Klimapläne einfacher und kostengünstiger werden. Der Import CO2-intensiver Güter, oft von den Gewandelten, erlaubt es den Fleißigen, auf dem Papier eine sehr gute Bilanz vorzuweisen, obgleich ihr Aufwand für den Klimaschutz geringer ist als der anderer Länder.
Die Ungebremsten und die Minimalisten haben die höchsten Emissionsintensitäten. Erstere – vorrangig kleine arabische Ölexporteure – stellen nicht nur alleine die Liste der Top-5 Pro-Kopf-Emittenten, sondern haben bislang auch keinerlei Pläne, jemals klimaneutral zu werden.Die fünf größten Pro-Kopf-Emittenten sind (in dieser Reihenfolge) Katar, Trinidad und Tobago, die Mongolei, Brunei und Kuwait, vgl. Global Carbon Project für das Jahr 2019 (online verfügbar). Als überwiegend kleine Staaten stehen die Ungebremsten wegen des geringen absoluten Effektes ihrer Emissionen auf das Klima aber meist nicht im Zentrum der Diskussion – trotz ihrer hohen Pro-Kopf-Emissionen und der zusätzlichen impliziten Emissionen durch exportierte fossile Brennstoffe. Die Minimalisten sind mehrheitlich flächenstarke Energieexporteure, die in den Pro-Kopf-Emissionen direkt hinter den Ungebremsten kommen, aber – sei es aus Zugzwang oder aus Überzeugung – Bestrebungen zur Klimaneutralität zumindest rudimentär unterstützen, also mit einem weit entfernten Zieljahr beziehungsweise einer schwachen rechtlichen Verankerung. Überraschenderweise finden sich in dieser Gruppe neben Saudi-Arabien sowohl Australien als auch Luxemburg, das Land mit den höchsten Pro-Kopf-Emissionen in Europa. Beide Gruppen können sich darauf berufen, in nur überschaubarem Maße zur historischen Entwicklung der Erderwärmung beigetragen zu haben.
Bei den Newcomern, den Pragmatikern und den Gleichgültigen handelt es sich überwiegend um Schwellen- und Industrieländer, deren Emissionsprofile und Klimapolitikansätze divergieren. Die Newcomer – dazu gehören beispielsweise Oman, die Türkei und Finnland – sind aufstrebende Ökonomien, die ambitionierte, wenngleich noch nicht vollständig verankerte Klimaneutralitätsziele vorlegt haben. Die Gleichgültigen haben im Durchschnitt ähnliche ökonomische Bedingungen und Emissionshistorien, aber keine (eigenständigen) Bestrebungen zur Klimaneutralität.Gemäß der Datenquelle fallen hierunter auch EU-Mitgliedstaaten, die zwar den EU-Klimazielen folgen, aber keine eigenen Klimaneutralitätsziele haben. Auffällig ist, dass viele der Gleichgültigen – zu welchen neben dem Iran auch Polen und Norwegen gehören – Produzenten fossiler Energieträger sind. Auch unter den Newcomern finden sich mit Brasilien und Südafrika Ressourcenexporteure.Die Newcomer sind eine eher heterogene Gruppe, zu welcher überwiegend Staaten mit relativ neuen Klimaambitionen gehören, jedoch auch solche, welche bereits lange am Klimaschutz mitwirken – zu letzteren gehören auch Brasilien und Südafrika. Allen gemeinsam ist, dass sie in jüngster Zeit Klimaneutralitätsziele beschlossen haben. Newcomer und Gleichgültige ähneln sich in ihren historischen Emissionen und einigen ökonomischen Charakteristika, was nahe legt, dass aus vielen Gleichgültigen mit genügend Anstrengungen Newcomer werden könnten. Zwischen den beiden Profilen Newcomer und Gleichgültige liegen die Pragmatiker Russland und Indien, die zwischen nationalen Entwicklungsinteressen (beziehungsweise daraus resultierenden Emissionen) und moderater Klimapolitik schwanken.
Der Großteil des Globalen Südens findet sich in der Gruppe der Unbeteiligten: Länder, die weder (historische) Verantwortung an der Klimakrise tragen, noch Klimaneutralitätsziele haben. Für die Unbeteiligten – beinahe die Hälfte aller Länder – haben die Stärkung von Wachstum und Lebensbedingungen klare Priorität. Sie sehen sich nicht als Teil der Klimaneutralitätsdiskussion. Zu dieser Gruppe gehören auch (noch) Schwellenländer wie Marokko oder Mexiko: Trotz eines wachsenden CO2-Fußabdrucks überwiegt bei diesen Ländern die Tatsache, dass sie nur einen Bruchteil der historischen und aktuellen globalen Emissionen verantworten und damit kaum als Verursacher für die Klimakrise auszumachen sind.
Die USA und China stechen als jeweils eigene Gruppe hervor.Eine weitere besondere Gruppe sind die Passiven: Einkommensschwache Länder, die auf dem Papier bereits klimaneutral sind. Ihre Energiesysteme sind jedoch meist unterentwickelt (große Teile der Bevölkerung leben ohne Stromversorgung), wobei die vorhandene Stromerzeugung häufig aus klimaneutraler Wasserkraft stammt. Da die Klimaneutralität in diesen Ländern eher situationsbedingt und gegebenenfalls temporär ist, werden sie hier nicht weiter analysiert. Beide Länder haben einzigartige Emissionsprofile und lassen sich nicht den bisher identifizierten Gruppen zuordnen. Die USA sind der größte historische Emittent und verantwortlich für rund 26 Prozent aller jemals ausgestoßenen CO2-Emissionen. Damit rangieren sie deutlich vor dem zweitplatzierten China, das 14 Prozent aller kumulativen historischen Emissionen verantwortet. In absoluten Zahlen ist China mit rund 32 Prozent der jährlich weltweiten Emissionen aktuell der größte Emittent, was allerdings vor allem mit seiner Bevölkerungsgröße zusammenhängt: Die Pro-Kopf-Emissionen sind mit sieben Tonnen CO2 jährlich auf vergleichsweise moderatem Niveau im Gegensatz zu den USA, die mit 16 Tonnen zu den Top-10 Pro-Kopf-Emittenten gehören.
Die zweite Analyse widmet sich der Frage, wie sich die Länder hinsichtlich ihres CO2-Fußabdrucks und ihrer Klimaneutralität über die Zeit entwickeln. Dafür wird statt des bloßen Emissionsprofils die Klimafreundlichkeit in unterschiedlichen Zeitdimensionen ermittelt (Kasten 2). Für die historische Dimension werden die kumulativen CO2-Emissionen der Länder von 1751 bis 2018 herangezogen. Für die aktuelle Klimafreundlichkeit werden erneuerbare Energien sowie CO2-Emissionen pro Kopf und pro US-Dollar des Bruttoinlandsprodukts herangezogen. Die zukünftige beziehungsweise geplante Klimafreundlichkeit wird anhand der Klimaneutralitätsziele gemessen.Diese Definition von Klimafreundlichkeit verwendet weniger Indikatoren als andere Bewertungsprojekte wie der Climate Action Tracker (online verfügbar) und der Climate Change Performance Index (online verfügbar), erlaubt dafür aber einen Blick auf sämtliche Länder sowie einen Fokus auf Klimagerechtigkeit und Klimaneutralität als zukunftsweisende Konzepte. In einem mehrstufigen Verfahren werden je Zeitdimension Gruppen von 1 (nicht klimafreundlich) bis 6 (sehr klimafreundlich) gebildet.
Für die Berechnung der Klimafreundlichkeit im Zeitverlauf wird ein mehrstufiges Verfahren genutzt. Zunächst werden Länder anhand der jeweils historischen, aktuellen und zukünftigen beziehungsweise geplanten Klimafreundlichkeit gruppiert (siehe auch Kasten 1). Dafür wird auf Variablen zurückgegriffen, die die Konzepte historische Verantwortung, Klimagerechtigkeit, Transformation des Energiesystems und Klimaneutralität betonen. Die Variablen überschneiden sich teils mit denen bei der Konstruktion von Emissionsprofilen, sind jedoch nicht vollständig deckungsgleich:
In einem zweiten Schritt werden die Gruppen in jeder Dimension nach ihrer Klimafreundlichkeit geordnet. Dazu wird je Dimension für jedes Cluster mithilfe einer Hauptkomponentenanalyse ein standardisierter Wert für die Klimafreundlichkeit ermittelt.Die Hauptkomponentenanalyse (Principal Component Analysis) ist ein gängiges Verfahren zur Dimensionsreduktion. Bei diesem statistischen Verfahren werden die Ergebnisse mehrerer Variablen zu einem oder wenigen Werten (sog. „Hauptkomponenten“) zusammengefasst. Aufgrund numerischer Besonderheiten wird für die zukünftige Dimension ein gewichtetes Mittel (2:2:1 zwischen Klimaneutralitätsjahr, Rechtsverankerung des Ziels und Zustimmungen zu COP-26-Teilabkommen) genutzt. Auf Basis dieses Wertes werden die Gruppen von 1 (nicht klimafreundlich) bis 6 (sehr klimafreundlich) geordnet.
Die Ergebnisse zeigen einerseits, wie sich die Gruppen und die Gruppengrößen über die Zeit entwickeln. Andererseits erlauben die Ergebnisse, das Verhalten von (Gruppen von) Ländern im Zeitverlauf zu untersuchen.
Die sich ergebenden Pfade zeigen, dass sich über alle Länder hinweg die Klimafreundlichkeit sehr dynamisch entwickelt hat (Abbildung 2). Zudem zeigt sich, dass die aktuelle Klimafreundlichkeit zwar breit gestreut ist, historische Verantwortlichkeit und zukünftige Pläne aber konzentriert sind: Die Länder verteilen sich gleichmäßig über die Stufen aktueller Klimafreundlichkeit. Die Mehrheit hat jedoch weder historische Verantwortung (etwa 85 Prozent beziehungsweise 154 von 182 Ländern) noch eigene Klimaneutralitätspläne (rund 60 Prozent beziehungsweise 108 von 182 Ländern).
Insgesamt folgen 42 Prozent aller Länder einem Pfad von hoher historischer hin zu geringer zukünftiger Klimafreundlichkeit. Dabei handelt es sich vorwiegend um Länder mit sehr geringen Pro-Kopf-Einkommen. In diesem Zusammenhang fällt ebenfalls auf, dass sich keines der einkommensschwächsten Länder und allgemein kaum Entwicklungsländer in den Gruppen mit hoher zukünftiger Klimafreundlichkeit oberhalb der Stufe 3 befinden.
Die Länder mit der aktuell geringsten Klimafreundlichkeit lassen sich nicht auf einen gemeinsamen Ursprung zurückführen, sondern kommen gleichermaßen aus allen Stufen historischer Klimafreundlichkeit – von hoch bis niedrig. Auch ist aktuelles Verhalten kein guter Indikator für die zukünftigen Pläne: Die Gruppe aktuell klimafreundlicher Länder zerfällt gleichmäßig in verschiedene Stufen zukünftiger Klimafreundlichkeit.
Ein tieferer Blick auf vier ausgewählte Gruppen von Ländern offenbart mehr Details (Abbildung 3). Die Gruppe der aktuellen Top-10-Emittenten ist äußerst divers und beinhaltet gleichermaßen Länder des Globalen Südens und des Globalen Nordens verschiedenster Einkommensniveaus. Dies spiegelt sich in der Klimafreundlichkeit wider. Vier der Länder haben kaum historische Verantwortung für den Klimawandel (Saudi-Arabien, Iran, Indonesien, Südkorea), wohingegen die USA allein die Stufe minimaler historischer Klimafreundlichkeit besetzt. Iran und Indonesien stehen wegen geringer CO2-Emissionen pro Kopf und gemessen am Bruttoinlandsprodukt vergleichsweise gut dar. Deutschland punktet mit einem hohen Anteil erneuerbarer Energien. Bis auf Indonesien haben sämtliche Länder der Gruppe Klimaneutralitätspläne, Japan und Deutschland sogar sehr ausgeprägte. Auch hier zeigt sich, dass Klimaneutralitätsziele tendenziell mit historischen Tendenzen korrelieren: Länder, deren Emissionen erst in jüngerer Zeit stark gestiegen sind, haben kaum Klimaneutralitätsziele.
In der Gruppe der Top-Öl- und -Gasproduzenten fällt auf, dass diese – bis auf die USA, Russland und China – eine ausgeprägte historische Klimafreundlichkeit zeigen. Aktuelle Zahlen sind aber bis auf Norwegen und Brasilien, die viel Strom aus Wasserkraft beziehen, gegenteilig. Arabische Produzenten weisen eine hohe Ähnlichkeit untereinander auf und haben keine bis schwache Klimaneutralitätsziele. Einzig Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate zeigen moderate zukünftige Klimafreundlichkeit. Westliche Energieexporteure weisen bis auf Kanada zwar geringe Klimafreundlichkeit in der Vergangenheit und der Gegenwart auf, haben dafür aber zumindest moderate Klimaneutralitätsziele.
Die EU-Mitgliedstaaten sind allgemein heterogen. Allerdings lassen sich mehrere Gruppen unter ihnen ausmachen: Polen, Bulgarien und die Niederlande haben sich von einem geringen historischen CO2-Fußabdruck zu markanten Emittenten in der Gegenwart entwickelt, die obendrein keine (eigenen) Pläne zur Klimaneutralität haben. Spanien, Irland und Schweden weisen über die gesamte Zeit eine hohe Klimafreundlichkeit auf. Rumänien und Lettland sind bislang sehr klimafreundlich, haben jedoch nur moderate Pläne für die Zukunft. Deutschland, Frankreich und Italien als Europas größte Volkswirtschaften weisen ein insgesamt ähnliches Bild und ambitionierte Klimaneutralitätsziele auf. Diese Vergleiche zeigen eindrucksvoll, dass sich Unterschiede in Klimaneutralitätsplänen zwischen EU-Mitgliedstaaten nicht primär aus ihrer Geographie oder geologischen Ausstattung, sondern aus vergangener Politik ergeben. Bulgarien und Rumänien haben zwar ähnliche wirtschaftliche Strukturen, trotzdem driftet die Klimafreundlichkeit beider Länder – vor allem wegen Rumäniens hohem Anteil Erneuerbarer – deutlich auseinander. Auch sind Polen und Deutschland beide Kohleproduzenten, ihre Klimaschutzpläne unterscheiden sich aber deutlich.
Die Gruppe der Schwellenländer weist zwar gleiche Ausgangsbedingungen – eine hohe historische Klimafreundlichkeit – auf, divergiert aber von dort an. Insgesamt ergibt sich das überraschende Bild, dass – entgegen der öffentlichen Meinung – die meisten Schwellenländer eine mittlere bis hohe aktuelle Klimafreundlichkeit aufweisen. Sie sind also weder historisch die Verursacher der Klimakrise, noch kommen ihre aktuellen Pro-Kopf-Emissionen in die Nähe der meisten Industrienationen. Allerdings zeigen die Daten ebenso, dass Schwellenländer mit Ausnahme von Südafrika keine ambitionierten Klimaziele haben. Malaysia und Indien haben Klimaziele beschlossen, deren Anspruchsniveau etwa ihrer aktuellen Klimafreundlichkeit entspricht. Bei Mexiko und den Philippinen jedoch liegt die zukünftige Klimafreundlichkeit bisher deutlich unter der aktuellen. Schwellenländer sind also weder die Ursache der Klimakrise, noch sind sie Vorreiter mit ihren Klimaschutzplänen. Dabei stehen asiatische Länder nicht deutlich anders da als südamerikanische.
Eine Länderbewertung hinsichtlich des Klimawandels ausschließlich auf Basis absoluter Emissionszahlen ist zu eindimensional, denn auch historische Emissionen und Klimaziele beeinflussen das Gesamtbild. Dieser Bericht hat acht idealtypische Emissionsprofile sowie eine Vielzahl von Pfaden der Klimafreundlichkeit ermittelt und analysiert.
Es fällt auf, dass Ähnlichkeiten zwischen Ländern weniger auf geographischer Nähe beruhen, sondern zumeist auf ökonomischer Vergleichbarkeit sowie ähnlichen politischen Entscheidungen. Beispielsweise bestehen in der EU erhebliche Unterschiede, die nicht zwangsläufig durch verschiedene Ausgangsbedingungen, sondern durch divergierende nationale Politikansätze zustande kommen. Die USA und China, die zwei größten Emittenten, haben völlig einzigartige Profile. Auch Erdöl- und Erdgasproduzenten stechen, nebst ihren Brennstoffexporte, meist mit sehr hohen inländischen CO2-Fußabdrücken und nur schwachen Klimaneutralitätszielen hervor.Siehe auch Karen Pittel et al. (2021): Chances and Obstacles to Strengthening the Paris Agreement – The Case of Resource-Rich Countries. Dialog zur Klimaökonomie (online verfügbar). Insgesamt gehen hohe Emissionen häufig mit fehlenden Klimazielen einher, sodass Anreize für eine selbst geringe Emissionsverringerung wichtig sind. Die Homogenität vieler Öl- und Gasproduzenten deutet auf das Potenzial der Unterstützung von Vorreiterstaaten aus ihren Reihen und deren möglichen Einfluss auf andere hin.
Auch im Zeitverlauf ist das Klimaverhalten der Nationen nur in den allerwenigsten Fällen konstant. Aktuelle Großemittenten divergieren sowohl in der Vergangenheit als auch in ihren zukünftigen Zielen. So zeigen beispielsweise einige bisherige Verschmutzer wie Deutschland und Kanada, dass ein hoher Grad an Industrialisierung ambitionierten Klimaschutz nicht ausschließt. Die meisten Länder sind jedoch einkommensschwache Länder, die so gut wie keine historischen oder aktuellen Emissionen haben und auch absehbar nur in geringem Maße zu den globalen Treibhausgasemissionen beitragen werden. Selbst die meisten Schwellenländer schlagen mit nur geringer Verantwortung zu Buche. Gleichzeitig aber haben die meisten Schwellen- und fast alle Entwicklungsländer keine oder nur schwache Klimaneutralitätsziele, sodass es keine Garantien für zukünftig klimafreundliches Verhalten gibt. Bei ihnen stehen die Verbesserung der Lebensbedingungen und das Aufholen zu den Industrienationen im Vordergrund. Entsprechend dem Leitbild nachhaltiger Entwicklung sollten wohlhabende Länder daher sowohl aus klima- als auch aus entwicklungspolitischer Sicht klimafreundliches Wachstum in Entwicklungsländern finanzieren. Unterstützung beim Aufbau neuer fossiler Infrastruktur, beispielsweise Erdöl- und Erdgasproduktion in Ländern wie dem Senegal, sollte unter diesen Gesichtspunkten nicht gefördert werden. Für Schwellenländer suggeriert die Analyse, dass Klimadiplomatie und Entwicklungspolitik Länder aus der Gruppe der Gleichgültigen zum progressivem Klimaschutz bewegen können.
Es muss betont werden, dass die vorliegenden Analysen nur relativ sind, also Länder im Vergleich untereinander darstellen. Jedoch sind selbst die Klimaschutzziele vieler ambitionierter Länder (noch) inkompatibel mit dem 1,5-Grad-Ziel.Siehe Climate Action Tracker, a.a.O.
Auch lassen die analysierten CO2-Daten außer Acht, dass viele Emissionen in Exportgütern gespeichert sind. So ist ein beträchtlicher Teil der Emissionen Chinas auf die Güterherstellung für den Globalen Norden zurückzuführen – der Globale Norden hat seine Emissionen ausgelagert.Siehe Ying Liu, Kankesu Jayanthakumaran und Frank Neri. (2013): Who is responsible for the CO2 emissions that China produces? Energy Policy 62 1412–1419 (online verfügbar). Selbst innerhalb Europas verzerrt eine ungleich verteilte Industrie das Bild der tatsächlichen Klimabilanz und der Kosten der Dekarbonisierung.
Die Unterschiede zwischen den Ländergruppen und damit auch die Hürden für Einigungen auf Weltklimagipfeln bleiben daher sehr groß. Jetzt ist feinfühlige Klimaaußenpolitik, die auch außereuropäische Perspektiven berücksichtigt, dringend nötig.
Themen: Klimapolitik
JEL-Classification: Q54;F5;Q4;C38
Keywords: climate policy; hierarchical clustering; emission profiles; net zero
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-47-3
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/267695