DIW Wochenbericht 48 / 2022, S. 643
Laura Schmitz, Erich Wittenberg
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Frau Schmitz, Sie haben untersucht, inwieweit sich Ganztagsschulen positiv auf Grundschulkinder in Westdeutschland auswirken. Warum haben Sie Ostdeutschland von der Analyse ausgenommen? Das liegt daran, dass der Anteil von Kindern in Ganztagsschulen dort bereits vor Beginn des Untersuchungszeitraums sehr hoch war. In Westdeutschland hingegen war dieser Anteil im Ausgangsjahr sehr gering – deshalb konnte ich dort schauen, was der Ausbau der Ganztagsschule bewirkt hat und wie sich die Kinder unterscheiden, je nachdem, ob sie eine Ganztagsschule besuchen oder nicht.
Welche Schüler*innen profitieren Ihrer Untersuchung zufolge am meisten von einer Ganztagsschule? Es gibt zwei Gruppen, die besonders von Ganztagsschulen profitieren. Zum einen sind es Kinder alleinerziehender Elternteile. Diese profitieren stärker vom Ganztagsunterricht als ihre Mitschüler*innen, vor allem mit Blick auf ihr Sozialverhalten. Eine zweite Gruppe, die von der Ganztagsschule diesbezüglich profitiert, sind Schüler*innen, die freiwillig am Ganztag teilnehmen. Statistisch wichtig ist hier der Begriff der sogenannten Resistenz, der sich auf die Wahrscheinlichkeit bezieht, ob ein Kind an einem Ganztagsprogramm teilnimmt oder nicht. Vereinfacht gesagt nehmen Kinder mit einer niedrigen Resistenz eher freiwillig am Ganztagsbesuch teil, während solche mit einer hohen Resistenz eher unfreiwillig mitmachen.
Wie sieht es mit den Schulleistungen der Kinder aus? Haben Schüler*innen, die ganztags zur Grundschule gehen, bessere Noten? Einen übergreifenden Effekt auf die Schulnoten, der für alle betrachteten Gruppen gleichermaßen gelten würde, lässt sich leider nicht finden. In vielen Fällen ist der gemessene Effekt statistisch nicht signifikant. Was sich aber erkennen lässt: Kinder alleinerziehender Eltern profitieren auch mit Blick auf die Deutschnote vom Ganztagsschulbesuch.
Es gibt verschiedene Formen von Ganztagsschulen. Welche ist Ihrer Meinung nach am besten geeignet, das Sozialverhalten von Grundschulkindern positiv zu beeinflussen? Bei der offenen Ganztagsschule erfolgt die Teilnahme an der Nachmittagsbetreuung freiwillig und bei den gebundenen Ganztagsschulen ist die Teilnahme verpflichtend. Dann gibt es noch das teilgebundene Modell, wo die Teilnahme an bestimmten Wochentagen oder für bestimmte Klassen verpflichtend ist. Da ich beobachten kann, dass Kinder bei einer freiwilligen Teilnahme vom Ganztag profitieren, kann man sagen, dass die Selektionsmechanismen an Ganztagsschulen sozusagen effizient sind. Das heißt, dass ohnehin die Schüler*innen, die von einer Ganztagsschule profitieren, dieses Angebot auch nutzen. Das spricht ganz klar für das Modell der offenen Ganztagsschule, an der die Teilnahme an den Nachmittagsprogrammen freiwillig ist.
Wo sehen Sie aktuell noch Probleme im Konzept der Ganztagsschule und was ließe sich noch verbessern? Die nicht messbaren Effekte auf die Schulleistungen verdeutlichen, dass die pädagogische Qualität der Hausaufgabenbetreuung an Ganztagsschulen offenbar noch nicht ausreicht, um wirklich effektive Leistungssteigerungen bei Grundschulkindern zu bewirken. Der IQB-Bildungstrend hat vor kurzem einmal mehr aufgezeigt, wie schlecht es um die Schulleistungen von Schüler*innen in Deutschland bestellt ist. Davon sind insbesondere Kinder mit niedrigem sozio-ökonomischem Status oder teilweise auch mit Migrationshintergrund betroffen, die in Ganztagsschulen überproportional vertreten sind. Deshalb braucht es meines Erachtens bessere und einheitlichere Qualitätsstandards für die Hausaufgabenbetreuung an Ganztagsschulen. Um diese angesichts des bestehenden Fachkräftemangels an den Schulen zu erreichen, müssen Bund und Länder deutlich mehr Geld für die Aus- und Weiterbildung in die Hand nehmen.
Das Gespräch führte Erich Wittenberg.
Themen: Persönlichkeit, Familie, Bildung
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2022-48-2
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/267701