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Atomwende in Deutschland: Zwei peinliche Laufzeitverlängerungen zum Beginn der Narrenzeit: Kommentar

DIW Wochenbericht 48 / 2022, S. 648

Christian von Hirschhausen

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Ausgerechnet am 11.11.2022, dem Beginn der Karnevalssaison, gingen innerhalb kurzer Zeit zwei Nachrichten über den Ticker: Zum einen beschloss der Deutsche Bundestag eine Laufzeitverlängerung für drei Kernkraftwerke, vom Ende des Jahres bis zum 15. April kommenden Jahres. Und am selben Tag gab das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, nukleare Sicherheit und Verbraucherschutz bekannt, dass das Verfahren zur Endlagersuche für hochradioaktive Abfälle ebenfalls eine Laufzeitverlängerung erhalte, und zwar vom gegenwärtig gesetzlich vorgesehenen Datum 2031 auf einen unbestimmten Zeitpunkt im Fenster 2046 bis 2068!

Der Technik- und Umwelthistoriker Joachim Radkau hat 1983 in einem inzwischen zum Klassiker avancierten Buch zu „Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft“ die Entsorgung radioaktiver Abfälle als die peinlichste Seite der Atomenergie bezeichnet. Damit benannte er die Problematik, dass die Endlagerung in der Frühzeit der Atomenergie nur sehr randständig betrachtet wurde, „obwohl – oder eben weil – die säkulare Dimension dieses Problems schon früh gesehen wurde, früher als die meisten anderen Probleme der Kerntechnik.“

Nicht ohne Grund ist heute, 80 Jahre nach der ersten dauerhaften Kettenreaktion in Chicago (1942), weltweit noch kein einziges tiefengeologisches Lager für hochradioaktive Abfälle aus der kommerziellen Stromerzeugung in Betrieb. Selbst in Finnland und der Schweiz, die bereits ein Lager bauen (Finnland) beziehungsweise einen Standort in der Prüfung haben (Schweiz), verbleiben viele Jahrzehnte für den weiteren Prozess bis zur Beendigung der Einlagerung. In Deutschland warten 27000 Kubikmeter hochradioaktive Abfälle auf die – laut Standortauswahlgesetz (StandAG) von 2013 (immerhin vor zehn Jahren) – sichere Entsorgung, und zwar für mindestens eine Million Jahre, also bis in alle Ewigkeit.

Die Entscheidung, dem ohnehin fragilen Entsorgungsprozess eine Laufzeitverlängerung von mehreren Jahrzehnten zu geben, bestätigt Radkaus These einmal mehr. Die Laufzeitverlängerung ist besonders peinlich für die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE), die mit inzwischen über 2000 Mitarbeiter*innen die wissenschaftlichen Grundlagen für eine nachvollziehbare Wahl des Endlagerstandorts vorbereiten soll – und hiermit offensichtlich überfordert ist. Sie ist aber auch peinlich für das gesamte institutionelle Gefüge, das in den vergangenen Jahren mit erheblichem Aufwand und Personal aufgebaut wurde und das plötzlich „nackt“ dasteht, wie der Kaiser und seine neuen Kleider. Wir dürfen gespannt sein auf die Diskussionen zum Zeitplan, den die BGE im Januar 2023 vorlegen wird und von dem die Glaubwürdigkeit des gesamten Verfahrens abhängt.

Vor dem Hintergrund dieser Herausforderung verblasst die Laufzeitverlängerung für die Kernkraftwerke, obwohl auch sie peinlich ist: Die energiewirtschaftliche Begründung aus dem Stresstest der Übertragungsnetzbetreiber ist bekanntermaßen dünn: Die drei Kernkraftwerke (Emsland, Neckarwestheim-2 und Isar-2) sind zwar für einige Stunden im nächsten Winter 2022/23 mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit netzdienlich, ihr Anteil an der Stromerzeugung in der Spitzenlast liegt jedoch im niedrigen einstelligen Prozentbereich.

Und wer denkt, mit „günstigem“ Atomstrom etwas für die Verbraucher*innen und das Klima oder sogar gegen die Inflation zu tun, hat sich nicht ernsthaft mit dieser Technologie beschäftigt. Nicht nur vermeidet sie kein Gramm CO2, unterliegt doch der Stromsektor dem europäischen Emissionshandel mit insgesamt festgelegten CO2-Ausstößen (was selbstverständlich kein Argument ist, die Verstromung von Kohle und Erdgas zu beenden). Vor allem aber ist ihr Strom nicht günstiger, wie einige behaupten. Seit dem Bau der ersten kommerziellen Atomkraftwerke war Kernenergie niemals wettbewerbsfähig und regelmäßig um ein Vielfaches teurer als andere Energieträger.

Während also die eine närrische Peinlichkeit mit Ablauf der Karnevalszeit, spätestens aber bis Ostern gelöst sein dürfte, bleibt uns die andere erhalten, und das für eine Million Jahre. Es ist höchste Zeit, sich auf die Entsorgungsfragen zu konzentrieren.

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