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Die fünf Risiken für die Wirtschaftsentwicklung 2023: Kommentar

DIW Wochenbericht 3/4 / 2023, S. 44

Marcel Fratzscher

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Treffen die Konjunkturprognosen für 2023 zu, dann steht Deutschland und dem Rest Europas kein schlechtes Jahr bevor. Erwartet wird ein Jahr der Stagnation trotz Kriegs in der Ukraine, Energiekrise und geopolitischer Konflikte. Dieses Bild ist jedoch unvollständig: Es gibt fünf große Risiken, die jedes für sich die deutsche und europäische Wirtschaft in eine tiefe Rezession treiben könnten. Und die Ungleichheit, mit der Menschen und Unternehmen von der Krise betroffen sind, hatte selten mehr Potenzial für eine soziale Spaltung.

Fast alle Konjunkturprognosen stimmen darin überein, dass 2023 wirtschaftlich nicht verheerend wird. Fast nichts deutet darauf hin, dass es eine Welle von Unternehmensinsolvenzen geben könnte, die Lieferketten zerstören und viele Tausende Arbeitslose schaffen würde. Im Gegenteil, der Fachkräftemangel in Deutschland war selten größer. Trotz hoher Unsicherheit suchen Unternehmen in praktisch allen Branchen händeringend Beschäftigte. Stützend auf die Wirtschaft wirkt sich aus, dass die Regierungen Europas – und allen voran Deutschland – riesige Hilfspakete aufgelegt haben. Und es besteht kein Zweifel, dass die Bundesregierung aus ihrem „Doppel-Wumms“ einen „Triple-Wumms“ machen würde. Bei allen positiven Impulsen gab es in den vergangenen Jahrzehnten aber auch selten so viele Risiken für die Wirtschaft:

Erstens könnte eine Eskalation des Kriegs die europäische Wirtschaft in eine tiefe Rezession oder gar Depression treiben. Die Vorstellung des Einsatzes von Atomwaffen ist grauenvoll. Aber selbst ein konventioneller Krieg, der sich über die Grenzen ausweitet, könnte so viel Unsicherheit schaffen, dass Unternehmen ihre Investitionen einstellen und Preise durch die Decke schießen lassen. Das zweite wirtschaftliche Risiko ist eine Gas- und Energieknappheit in Deutschland und Europa. Die Prognose der Wirtschaftsforschungsinstitute sieht eine Rezession von bis zu sieben Prozent auf die deutsche Wirtschaft zukommen, sollten Unternehmen gezwungen werden, ihre Produktion einzustellen, was zu dramatischen Kaskadeneffekten führen würde. Zwar sind die Gasspeicher in Deutschland derzeit gut gefüllt, allerdings ist die weitere Entwicklung auch für den kommenden Winter nicht vorhersehbar. Das dritte Risiko sind erneute Unterbrechungen der globalen Lieferketten. Mögliche Ursachen hängen nicht nur mit dem Krieg in der Ukraine zusammen. Das wohl wahrscheinlichste Szenario ist die COVID-Welle in China, die nach Prognosen des Economist mehr als eine Million Menschen in der Volksrepublik das Leben kosten und zu Unterbrechungen bei der Produktion oder dem Transport von wichtigen Vorleistungen führen könnte. Das vierte Risiko ist ein erneuter Einbruch des globalen Handels. Zahlreiche Schwellenländer kämpfen mit Finanzkrisen, da ihre Währungen abgewertet wurden und Kapital abgeflossen ist. Aber auch der Handelskonflikt zwischen den USA und China spitzt sich wieder zu. Deutschland ist besonders anfällig für dieses Risiko durch seine hohe wirtschaftliche Offenheit und Abhängigkeit vom Handel. Das fünfte Risiko sind die Inflation und die massiv schrumpfende Kaufkraft für so viele Menschen mit mittleren und geringen Einkommen. Wenn Menschen 15 oder 20 Prozent mehr ihres Einkommens für Energie und Lebensmittel ausgeben müssen, dann haben sie weniger Geld, sich andere Dinge des täglichen Lebens leisten zu können. Ein schwächerer Konsum schadet auch den Unternehmen.

Und genau hier liegt ein großer blinder Fleck: Selbst wenn diese Risiken nur zu einem geringen Maße eintreten, zahlen Menschen und Unternehmen einen ganz unterschiedlichen Preis. Die soziale Krise verschärft sich, da Menschen mit mittlerem geringen Einkommen und Menschen in den ärmsten Ländern und Regionen sehr viel stärker unter der Krise leiden – da sie individuell eine höhere Inflation erfahren, keine Rücklagen und Ersparnisse oder andere Schutzmechanismen haben und weil die Politik ihre Hilfen zu sehr auf Unternehmen fokussiert. 2023 könnte wirtschaftlich ein erstaunlich robustes Jahr werden. Genauso wahrscheinlich ist es jedoch, dass etwas schief geht. Um Murphys Gesetz zu zitieren: Wenn etwas schief gehen kann, dann wird es schief gehen. Aber hoffentlich ist diese Sorge zu pessimistisch.

Dieser Kommentar ist die gekürzte Fassung eines Gastbeitrags in der Welt vom 27. Dezember 2022.

Themen: Konjunktur

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