DIW Wochenbericht 6 / 2023, S. 59-67
Kerstin Bernoth, Josefin Meyer
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„Der Inflation Reduction Act verdeutlicht einmal mehr die Dringlichkeit, die europäische Wirtschaft zu einer klimaneutralen Industrie umzubauen und grüne Technologien zu fördern. Nun muss die EU die angekündigten und bereits bestehenden Maßnahmen schnell und unbürokratisch umsetzen, um die europäische Wirtschaft im Wettbewerb gegen die USA zu stärken“ Josefin Meyer
Im August 2022 hat der US- Kongress ein umfangreiches Bundesgesetz, den Inflation Reduction Act (IRA), verabschiedet, das der US-Wirtschaft zu mehr Wachstum und Resilienz verhelfen soll. Es ist ein massives staatliches Investitions- und Ausgabenprogramm in den Sozialstaat, in die bundesweite Infrastruktur und in den Klima- und Umweltschutz in Höhe von geschätzt rund 430 Milliarden Dollar. Gleichzeitig soll es die Vormachtstellung der USA als größten Energieproduzenten langfristig sichern, die Reindustrialisierung der US-Wirtschaft unterstützen sowie eine starke Antwort auf Chinas wirtschaftliche und technologische Hegemonialbestrebungen geben. Die Ausgestaltung des Programms setzt enorme Anreize und gibt teils Verpflichtungen vor, Produktion in die USA zu verlagern. Diese Local-Content-Klauseln können sich stark auf die europäische Wirtschaft auswirken, wenn Produktion aus der EU in die USA verlagert wird. Dies verlangt strategische wirtschaftspolitische Antworten, die die EU teilweise schon angekündigt hat, zum Beispiel bei der Lockerung ihrer Subventionsregelungen. Aber auch an anderen Stellen müsste sie noch dringend nachjustieren, vor allem bei der sicheren Versorgung mit kritischen Rohstoffen.
Angesichts der großen Klimaherausforderungen, stetig steigender Staatsverschuldung und hoher Inflation hat der US-Kongress im August 2022 den Inflation Reduction Act (IRA) verabschiedet.Vgl. den Gesetzestext zum Inflation Reduction Act auf der Website des US-Kongresses (online verfügbar, abgerufen am 26. Januar 2023. Dies gilt für alle Onlinequellen dieses Berichts, sofern nicht anders angegeben). Das Gesetz stellt geschätzt 369 Milliarden Dollar für Investitionen in den Klimaschutz sowie etwa 64 Milliarden Dollar für zusätzliche Ausgaben für die gesetzliche Gesundheitsvorsorge (Affordable Care Act beziehungsweise „Obamacare“) über einen Zeitraum von zehn Jahren zur Verfügung. Finanziert werden soll das Gesetz durch eine Kombination aus neuer Unternehmenssteuer, verstärktem Steuervollzug und einer Reform der Preisgestaltung für verschreibungspflichtige Medikamente. Diese Maßnahmen werden schätzungsweise 737 Milliarden Dollar in die Haushaltskasse spülen. Der erwartete Einnahmeüberschuss von etwa 300 Milliarden Dollar, verteilt über die nächsten zehn Jahre, soll somit auch dazu beitragen, das Haushaltsdefizit zu reduzieren.Da die Steuervergünstigungen nicht gedeckelt sind, sondern rein nachfrageorientiert vergeben werden, könnte der Umfang des IRA auch erheblich höher ausfallen. Auch die Höhe der Einnahmeüberschüsse ist ungewiss und könnte auch wesentlich geringer oder sogar negativ ausfallen. Vgl. Congressional Budget Office (2022): Estimated Budgetary Effects of Public Law 117–169 (online verfügbar).
Die im IRA enthaltenen Klimaschutzinvestitionen sind die in der Geschichte der USA größte Beteiligung an einer klimaorientierten Transformation der US-Wirtschaft und Gesellschaft. Die beiden anderen großen aktuellen Ausgabenprogramme, der Infrastructure Investment and Jobs Act sowie der Chips & Science ActDer vom US-Kongress im November 2021 verabschiedete Infrastructure Investment and Jobs Act in Höhe von 1200 Milliarden Dollar stellt Mittel zum Wiederaufbau von Straßen und Brücken, zur Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs, zum Austausch von Bleirohren und zur Beseitigung der Verunreinigung des Trinkwassers sowie zur Erweiterung des Zugangs zum Hochgeschwindigkeitsinternet bereit sowie Maßnahmen zur Eindämmung des Klimawandels. Der Chips & Science Act ist am 9. August 2022 in Kraft getreten. Das Gesetz sieht Ausgaben vor, um die inländische Halbleiterproduktion auszuweiten. Weiterhin fördert das Gesetz Forschung und Entwicklung in Zukunftstechnologien wie Quantencomputing, künstliche Intelligenz, saubere Energie und Nanotechnologie., sind zwar teilweise im Gesamtvolumen größer, sehen aber weitaus weniger Ausgaben für den Klimaschutz vor. Beim IRA sollen die Investitionen hauptsächlich über Steuervergünstigungen (Tax Credits), Zuschüssen und Darlehensbürgschaften für nahezu alle erdenklichen Klimaschutzmaßnahmen fließen, beispielsweise den Ausbau der erneuerbaren Energien, den Kauf von Elektrofahrzeugen und umweltfreundlichen Technologiegütern (Abbildung 1). Der größte Anteil des IRA unterstützt Maßnahmen für den Ausbau von erneuerbaren Energien sowohl durch die Unterstützung auf Unternehmens- und Haushaltsebene als auch durch die Förderung strukturschwacher Regionen.
Das enorme Investitionspaket hat in der Europäischen Union für Irritation gesorgt. Die EU-Mitgliedstaaten fürchten um ihre Wettbewerbsfähigkeit, wenn die USA ihre heimische Industrie so fördern, dass der EU Absatzmärkte wegbrechen und Produktion in die USA abwandert. Im Folgenden wird analysiert, wie die USA das Gesetz ausgestaltet haben und wie die EU darauf reagieren kann, um ihre Wettbewerbsfähigkeit sicherzustellen.
Klimapolitische Ziele des IRA sind die Senkung der Energiekosten, die Erhöhung der Energiesicherheit und Investitionen in die Dekarbonisierung aller Wirtschaftssektoren durch innovative Lösungen. Es wird erwartet, dass das gesamte Paket die gesamtwirtschaftlichen Emissionen bis zum Jahr 2030 um etwa 40 Prozent gegenüber dem Basisjahr 2005 senken wird.John Larsen et al. (2022): A Turning Point for US Climate Progress: Assessing the Climate and Clean Energy Provisions in the Inflation Reduction Act. Rhodium Group (online verfügbar).
Gleichzeitig verfolgt der IRA aber auch klare industriepolitische Ziele. So soll das Gesetz die Vormachtstellung der USA als größter Energieproduzent langfristig sicherstellen, die Reindustrialisierung der US-Wirtschaft insbesondere in benachteiligten ländlichen Gemeinden unterstützen sowie sozial- und arbeitsmarktpolitische Impulse geben. Dies erreichen die USA, indem sie die Gewährung von Steuervergünstigungen an verschiedene Nebenbedingungen knüpfen, die den IRA zu weit mehr als nur einem Subventions- und Investitionsprogramm in Klima- und Umweltschutz machen. So beinhaltet ein Großteil der klimarelevanten Bestimmungen des Gesetzes eine Steuergutschrift, die sich bei Erfüllung verschiedener Kriterien kumuliert (Tabelle).
Steuervergünstigungen für ... | Wann anwendbar |
---|---|
Lohnanforderungen | Arbeitnehmer*innen müssen während der Bauarbeiten für unter dem IRA subventionierte Projekte und in einigen Fällen auch für künftige Wartungsarbeiten nach bestimmten Vorschriften entlohnt werden. |
Ausbildungsanforderungen | Die geleisteten Arbeitsstunden von Auszubildenden müssen einen bestimmten Prozentsatz der insgesamt an einem Bauprojekt geleisteten Arbeitsstunden ausmachen (Baubeginn 2022: zehn Prozent, 2023: 12,5 Prozent, ab 2024: 15 Prozent). |
Finanzschwache Kommunen | Kommunen mit einer Armutsquote von mindestens 20 Prozent sowie einem mittleren Familieneinkommen von 80 Prozent oder weniger im Vergleich zum landesweiten Durchschnitt. |
Fossil geprägte Kommunen | Kommunen, in denen es 1) seit 1999 eine Bergwerkschließung, 2) seit 2009 Schließung eines Kohlkraftwerks oder 3) seit 2009 zu dem Verlust von Arbeitsplätzen im Zusammenhang mit fossilen Brennstoffen kam und deren Arbeitslosenquote über dem nationalen Durchschnitt liegt. |
Local-Content-Anforderungen | Eisen und Stahl muss zu 100 Prozent in den USA produziert sein. Für Produkte wie elektrische Autos, Solar- oder Windanlagen gilt, dass ein bestimmter Anteil des Produktes in den USA hergestellt werden muss. Dieser Anteil liegt 2023 bei 40 Prozent mit einer graduellen Steigerung auf 55 Prozent bis 2026. Bei Batterien liegt dieser Anteil bei 80 Prozent im Jahr 2026. |
Quelle: IRA Guidebook, Public Law 117–169.
Das ITC (Investment Tax Credit) sieht beispielsweise eine sechsprozentige Gutschrift für die Ausgaben für erneuerbare Energien wie kleinere Solar- und Offshore-Windkraftanlagen vor, die von der Steuerlast abgezogen wird. Diese Gutschrift kann auf bis zu 70 Prozent steigen, wenn Projekte innerhalb fossil geprägter Kommunen realisiert werden und/oder wenn bestimmte Lohn- und Ausbildungsanforderungen und/oder Local-Content-Vorgaben erfüllt sind (Abbildung 2). Wird keine dieser Voraussetzungen erfüllt, kann für das Projekt nur der Basis-Gutschriftenbetrag in Anspruch genommen werden.
Insgesamt weisen rund 60 Prozent aller Steuervergünstigungen eine Local-Content-Bestimmung aus, das heißt, dass ein bestimmter Anteil des Produktes in den USA hergestellt werden muss oder aus Ländern kommt, mit denen die USA ein Freihandelsabkommen geschlossen haben.
Wird die Stromerzeugung aus fossilen Brennstoffen durch saubere Energie ersetzt, verringert dies zwar die Nachfrage nach Kohle und Gas. Aber der Umstieg verändert die Stromerzeugung grundlegend von einem brennstoffintensiven zu einem materialintensiven System, das von der Lieferung einiger kritischer Rohstoffe abhängt.Als kritisch gilt ein Rohstoff, wenn er ökonomisch wichtig ist und gleichzeitig sein Angebot als riskant eingeschätzt wird. Vgl. die Website der Europäischen Kommission zu Critical Raw Materials.
Dazu hat die US-Regierung eine Liste von 50 kritischen Rohstoffen in die Gesetzgebung mit aufgenommen und diese mit einer Local-Content-Klausel versehen. Das heißt, diese Rohstoffe sollen wenn möglich im Land gefördert oder aus Ländern importiert werden, mit denen die USA ein Freihandelsabkommen haben. Damit soll die Verfügbarkeit kritischer Rohstoffe, die für eine enorme Ausweitung von Elektrofahrzeugen, Batterien und Infrastrukturen zur Erzeugung erneuerbarer Energien erforderlich sind, gewährleistet werden. Im Jahr 2021 bezogen die USA aber nur 24 Prozent der im IRA gelisteten Rohstoffe aus Ländern, mit denen sie ein Freihandelsabkommen unterzeichnet haben (Abbildung 3). Der IRA wird demnach in den nächsten Jahren Handelsumlenkungseffekte bei den US-Importen von kritischen Rohstoffen nach sich ziehen.
Die USA stehen damit vor einer großen außenpolitischen Herausforderung. Die schiere Menge an kritischen Rohstoffen, die für die Energiewende benötigt werden, ist groß. Gleichzeitig werden die globalen Rohstoffmärkte und die damit verbundenen Lieferketten von einer kleinen Anzahl von Ländern beherrscht – mit China an der Spitze (Abbildung 4).
China trägt weltweit beispielsweise 60 Prozent zur weltweiten Seltenen-Erden-Gewinnung bei, wichtige Rohstoffe, die unter anderem für den Windkraft- und Solaranlagenbau gebraucht werden. Australien und Chile produzieren zusammen etwa 80 Prozent des weltweiten Lithiums, ein Mineral, das für die Herstellung von Batterien für Elektrofahrzeuge benötigt wird. Die Demokratische Republik Kongo steuert rund 70 Prozent des weltweiten Kobalts bei, das ebenfalls für Batterien benötigt wird. Indonesien liefert rund 30 Prozent des Nickels, Chile und Peru dominieren mit 40 Prozent des weltweiten Anteils bei Kupfer, während Russland 37 Prozent zur weltweiten Palladiumextraktion beisteuert, die für die Katalysator-Technik benötigt wird. Neben China gehört auch Russland zu den Rohstofflieferanten, die von den USA als „besonders besorgniserregende Länder“ eingestuft werden.U.S. Department of State (2023): Countries of Particular Concern, Special Watch List Countries, Entities of Particular Concern (online verfügbar).
China ist zudem nicht nur ein beachtlicher Produzent kritischer Rohstoffe – der sechstgrößte Nickelproduzent und der drittgrößte Kupferproduzent –, es dominiert auch die Märkte für Raffinerien und nachgelagerte fortschrittliche Produktionsanlagen. Laut einer Studie der Brookings Institution raffiniert China 68 Prozent des weltweit vorhandenen Nickels, 40 Prozent des Kupfers, 59 Prozent des Lithiums und 73 Prozent des Kobalts. Noch wichtiger ist, dass China 78 Prozent der weltweiten Produktionskapazitäten für Elektroauto-Batterien, den Großteil der weltweiten Produktion von Solarzellen und drei Viertel der weltweiten Lithium-Ionen-Batteriefabriken besitzt.Rodrigo Castillo und Caitlin Purdy (2022): China’s Role in Supplying Critical Minerals for the Global Energy Transition What Could the Future Hold? The Brookings Institution (online verfügbar).
Ein wichtiges geopolitisches Ziel, das die US-Regierung mit dem IRA verfolgt, ist, mit dem Ausbau resilienter Wertschöpfungsketten die Abhängigkeit von chinesischen und russischen kritischen Rohstoffen wie Seltene Erden oder Palladium zu verringern. Ein wichtiges Instrument, um dieses Ziel zu erreichen, ist die bereits genannte Local-Content- oder Buy-American-Bestimmung. Um in den Genuss der vollen Steuervergünstigungen für Elektrofahrzeuge (Commercial Clean Vehicle Credit) zu kommen, müssen bei der Batteriezellenproduktion sowohl die kritischen Rohstoffe als auch die Komponenten aus den USA stammen.Der IRA verbietet, dass für die Batterieherstellung nach 2025 kritische Rohstoffe aus China, Russland und anderen Ländern, die vom US-Außenministerium als „besonders besorgniserregende Länder“ eingestuft werden, stammen. Andernfalls kann keine Steuergutschrift in Anspruch genommen werden.
Batteriehersteller müssen dazu bereits im Jahr 2023 mindestens 40 Prozent des verwendeten Batteriematerials entweder aus den USA selbst oder aus Ländern beziehen, mit denen ein Freihandelsabkommen besteht (Abbildung 5). Durch diese Regelung sind etwa zwei wesentliche Lieferanten der wichtigen Metalle Nickel und Lithium ausgeschlossen: Indonesien und Argentinien. Die Local-Content-Anforderungen werden im Laufe der Zeit sogar noch strikter. 2026 verlangen sie bereits einen Anteil von 80 Prozent des Batteriematerials aus den USA oder Partnerländern mit Freihandelsabkommen.
Neben kritischen Rohstoffen stellt der IRA Local-Content-Bedingungen entlang der weiteren Wertschöpfungskette von CO2-armen Technologien wie Windkraft, Solarenergie, Kernenergie, Wasserstoff, alternative Kraftstoffe und CO2-Speichersysteme, um Steuervergünstigungen zu erhalten. Es ist anzunehmen, dass dies zu Handelsumlenkungseffekten führt. Momentan beziehen die USA den Großteil ausgewählter grüner Technologien von nur einer kleinen Anzahl an Ländern. So kommen 78 Prozent aller Photovoltaik-, 76 Prozent aller Lithium-Batterien-, 98 Prozent aller Windturbinen- und 98 Prozent aller alternativen Kraftstoff-Importe aus den jeweiligen Top-Fünf-Handelspartnerländern (Abbildung 6). Darunter sind vor allem asiatische Länder und Mitgliedstaaten der EU, mit denen die USA aber keine Freihandelsabkommen geschlossen haben.
Das heißt, die USA können ihre Anstrengungen bei den grünen Technologien gar nicht aus eigener Produktion stemmen, sondern sind extrem abhängig von anderen Ländern, die aber die Local-Content-Bedingungen nicht erfüllen. Da diese Abhängigkeiten nicht so schnell gelöst werden können, haben die USA nur drei Möglichkeiten: Entweder ziehen sie die Produktion dieser Technologien in die USA, sie lockern doch noch ihre Bedingungen oder sie schließen länder- und sektorspezifische Verträge, die Ausnahmeregelungen vorsehen.
Die EU wiederum, die kein Freihandelsabkommen mit den USA hat, könnte durch den IRA in ihrem US-Export künftig eingeschränkt werden. Wobei für die EU die USA bei grünen Exportprodukten wie Photovoltaik, Windturbinen, Lithium-Batterien und alternativen Kraftstoffe nicht Hauptziel sind. Von diesen haben Windturbinen mit schätzungsweise zehn Prozent den höchsten Exportanteil in die USA zu verzeichnen (Abbildung 7).
Ähnliches gilt auch für Deutschland. Deutschland ist bei den ausgewählten grünen Technologien breiter aufgestellt als die EU insgesamt und damit auf Exporte in die USA weniger angewiesen. Die meisten deutschen Exporte von grünen Technologien gehen in die EU. Nichtsdestotrotz gehören die USA bei diesen Produktgruppen, abgesehen von den alternativen Kraftstoff-Exporten, zu Deutschlands fünf wichtigsten Handelspartnern.
Zusammen mit dem Infrastructure Investment and Jobs Act und dem Chips & Science Act werden die USA mit dem IRA insgesamt rund 2000 Milliarden Dollar in wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, Innovation und Industrieproduktivität investieren. Alle drei Programme beinhalten Anreize und teils Verpflichtungen, Produktionsprozesse in die Vereinigten Staaten zu verlagern und somit sowohl die Reindustrialisierung der US-Wirtschaft zu fördern als auch kritische Rohstoffketten zurückzugewinnen.
Die Local-Content-Klauseln in diesen Programmen sind ein Weckruf an deutsche und europäische Politiker*innen. Auch wenn die Unterstützung des ökologischen Wandels auf transparente Weise, im Geiste der internationalen Zusammenarbeit und unter möglichst fairen Wettbewerbsbedingungen erfolgen sollte, zeigt die Verabschiedung des IRA, dass Europa sich nicht blind auf die wirtschaftliche und strategische Zusammenarbeit mit internationalen Verbündeten verlassen darf. Nicht nur China, auch die USA verfolgen eine allein auf ihre eigenen Interessen zugeschnittene industriepolitische Strategie, und hiesige Politiker*innen kritisieren zu Recht die wettbewerbsverzerrende Wirkung. Sie fürchten einen Verlust von Absatzmärkten, die durch den IRA für europäische Unternehmen entstehen könnte.
Tatsächlich vergrößert sich aber durch die Investitionen und Subventionen der Absatzmarkt zunächst. Allerdings haben Unternehmen, die ausschließlich in Europa produzieren, einen erschwerten Zugang zu diesem Markt, könnten sich diesen aber erschließen, wenn sie einen Teil ihrer Produktion in die USA verlagern. Dies würde aber Nachteile für den hiesigen Industriestandort haben, weil damit auch ein Arbeitsplatzverlust und die Abwanderung von Know-how einhergingen.
Um den Konflikt zu lösen, haben die EU und die USA eine transatlantische Arbeitsgruppe eingesetzt. Dort wurde Ende Dezember eine neue Richtlinie bestätigt, nach der auch EU-Unternehmen zumindest in den Genuss des Commercial Clean Vehicle Credit kommen können.Pressemitteilung der EU-Kommission vom 29. Dezember 2022: EU welcomes access to US subsidy scheme for commercial vehicles (online verfügbar). Dieses Abkommen könnte auch als Blaupause für andere sektorspezifische Verträge dienen.
Aus europäischer Sicht sollten nichtsdestotrotz wirtschaftspolitische Antworten auf den IRA gegeben werden. Die EU sollte die europäischen Unternehmen in der herausfordernden Zeit des grünen Wandels und des starken Wettlaufs um die Entwicklung neuer sauberer Technologien und den Zugang zu kritischen Rohstoffen unterstützen, um langfristig nicht ins Hintertreffen zu geraten. Gerade Deutschland dürfte mit seinem hohen Industrieanteil und seiner großen Bedeutung von Hochtechnologie im Produktionsportfolio von den geo- und industriepolitischen Ambitionen Chinas und nun auch der USA betroffen sein.Peter Bofinger (2019): Paradigmenwechsel in der deutschen Wirtschaftspolitik. In: Hubertus Bardt et al. (2019): Industriepolitik – ineffizienter staatlicher Eingriff oder zukunftsweisende Option? Wirtschaftsdienst, Heft Nr. 2 (online verfügbar).
Auch wenn sich Deutschland und Europa in der Vergangenheit tendenziell gegen eine gezielte strategische Industriepolitik ausgesprochen haben, müssen sie die aktuellen industriepolitischen Aktivitäten ihrer wichtigen Konkurrenten berücksichtigen und entsprechend handeln.
Wichtig für die EU und Deutschland ist es, ebenfalls durch strategische Industriepolitik bei der Entwicklung und Produktion grüner Technologie international wettbewerbsfähig zu bleiben, wenn nicht sogar führend zu werden. Die deutsche Regierung hat bereits wichtige Maßnahmen zur Förderung von Forschung und Innovation von Game-Changer-Technologien ergriffen, um einen Beitrag zur Problemlösung für gesellschaftliche Herausforderungen wie etwa dem Klimawandel zu leisten. Und auch die EU-Kommission hat im März 2020 eine neue Industriestrategie für Europa veröffentlicht, in der der ökologische und digitale Wandel sowie die globale Wettbewerbsfähigkeit im Zentrum stehen. Doch bisher sind dies mehr Absichtserklärungen, und Taten müssen folgen.Für eine ausführliche Übersicht über verschiedene industriepolitische Initiativen, Strategien und länderspezifische Maßnahmen vgl. Heike Belitz et al. (2021): Prioritäten setzen, Ressourcen bündeln, Wandel beschleunigen – Neue Ansätze in der Industrie- und Technologiepolitik. Friedrich-Ebert-Stiftung, Wiso-Diskurs Nr. 2, Kapitel 4 (online verfügbar).
Bislang umfasst das EU-Beihilferecht nach Artikel 107 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ein generelles Verbot staatlicher Beihilfen durch die Mitgliedstaaten, um den Wettbewerb im Binnenmarkt nicht zu verfälschen. Damit sind die EU-Beihilfevorschriften wesentlich strenger als die US-Vorschriften des IRA. Sie verhindern unter anderem auch, dass die EU-Länder ausländischen Unternehmen, die sich in Europa niederlassen wollen, die gleichen großzügigen Steuererleichterungen gewähren können, die diese Unternehmen in den USA erhalten. Das EU-Beihilferecht lässt aber laut Artikel 107 AEUV, Absätze 2 und 3, Ausnahmen zu, und zwar dann, wenn die Maßnahmen zur Unterstützung strukturschwacher Gebiete oder zur Förderung wichtiger Vorhaben von europäischem Interesse dienen.
Mitte Januar skizzierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor dem Europäischen Parlament eine mögliche europäische Antwort auf den IRA in Form eines „Green Deal Industrieplans“. Das entsprechende Maßnahmenpaket stellte sie am 1. Februar vor. Zum einen sollen die EU-Beihilfevorschriften vorübergehend angepasst werden, um die Vergabe von Investitionsbeihilfen und Steuervergünstigungen in den entscheidenden Sektoren zu erleichtern und zu beschleunigen.Pressemitteilung der EU-Kommission vom 18. Januar 2023: Von der Leyen stellt im Europaparlament den Industrieplan des Green Deal vor (online verfügbar). Damit sollen die Mitgliedstaaten Zukunftstechnologien noch stärker fördern können.Vgl. Website des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz zu Important Project of Common European Interest (IPCEI). Darüber hinaus ist geplant, dass die EU-Beihilfemaßnahmen die gesamte Wertschöpfungskette strategischer grüner Sektoren abdecken werden, einschließlich des großtechnischen Einsatzes und des Zugangs zu Rohstoffen. Des Weiteren schlägt die EU-Kommission ein Netto-Null-Industrie-Gesetz vor, das gezielt die für die Klimaneutralität entscheidenden Branchen stärken soll.Vorbild für dieses Gesetz ist das kurz vor der Verabschiedung stehende EU-Chip-Gesetz, das die Halbleiterproduktion mit einem umfangreichen Maßnahmenkatalog in Europa ankurbeln soll.
Ein Problem ist jedoch, dass nur EU-Länder mit fiskalischem Spielraum in der Regel in der Lage sind, effektive Subventionen zu leisten. Nicht alle Mitgliedstaaten verfügen derzeit über diesen Spielraum, was die Dringlichkeit unterstreicht, die Schuldentragfähigkeit innerhalb der EU so schnell wie möglich zu verbessern, um nachhaltiges Wachstum durch Investitionen zu fördern und einer unerwünschten Fragmentierung und Gefährdung des Binnenmarktes entgegenzuwirken. Dieses Problem besteht nicht erst seit der Verabschiedung des IRA. Um dieses zu lösen, ist zum einen geplant, die EU-Fiskalregeln zu reformieren, um die Schuldensituation der Länder langfristig zu verbessern. Kurzfristig will die EU-Kommission die bisher nicht abgerufenen Kredite aus dem Corona-Hilfsfonds nutzen, um die finanziellen Herausforderungen der EU-Mitgliedstaaten zu stemmen. Längerfristig setzt sie auf die Auflegung eines EU-Souveränitätsfonds.
Um im internationalen Wettbewerb für Unternehmen attraktiv zu bleiben, spielt der Faktor Energiekosten zumindest für einige Branchen wie die Grundstoff- und die chemische Industrie eine wichtige Rolle. Diese dürften in den USA auch aufgrund des IRA mittel- bis langfristig sinken. Die EU und Deutschland sind gut beraten, durch eine durchdachte Energiewende langfristig die Energiekosten, aber auch die Energieabhängigkeit von Drittstaaten zu verringern. Dazu gehören der beschleunigte Ausbau der erneuerbaren Energien, neue Energiepartnerschaften mit verlässlichen Lieferanten, die innereuropäische Zusammenarbeit bei der Energiebeschaffung und die damit verbundene Bereitstellung von Infrastruktur sowie staatliche Investitionen und Garantien, die privaten Investoren und Unternehmen Rückhalt geben und ihr Investitionsrisiko abfedern.
Neben der ambitionierten Transformation hin zu grünen Technologien beinhaltet der Inflation Reduction Act (IRA) auch klare wirtschaftliche, industrie- und geopolitische Ziele. Neben China mit seiner industrie- und innovationspolitischen Strategie „Made in China 2025“ verfolgen nun auch die USA mit der Verabschiedung des IRA eine offensive Industriepolitik, um eine dominante Position auf den Weltmärkten für Hightech-Produkte und grüne Technologien anzustreben. Mit der sogenannten Local-Content-Klausel im IRA wollen die USA lokale Lieferketten beziehungsweise den Handel mit Freihandelsabkommensländern ausbauen, um die Wirtschaft resilienter zu machen. Doch noch sind die USA sowohl bei kritischen Rohstoffen als auch bei grünen Technologien sehr abhängig vom Import aus Staaten, mit denen sie keine Freihandelsabkommen unterhalten, zum Beispiel die EU.
Dieses US-Gesetz kann durch seine Ausgestaltung und sein Volumen die Geschäftsmodelle der EU und Deutschlands als Industriestandorte nachhaltig beeinträchtigen. Zwar liegt derzeit der Anteil der Ausfuhren grüner Technologien aus der EU und Deutschland in die USA an den Gesamtausfuhren nur im einstelligen Bereich. Doch sollte der IRA stark Anwendung finden, könnten europäische Unternehmen ihre Produktion zumindest teilweise in die USA verlagern, um die dort erhöhte Nachfrage an grünen Technologien verstärkt zu bedienen und gleichzeitig den Local-Content-Anforderungen zu genügen.
Die EU-Kommission hat die Gefahr einer Produktionsverlagerung erkannt und bereits mehrere Maßnahmen skizziert, um dies zu verhindern, so zum Beispiel die Reform der Investitionsbeihilfen und Subventionsvorschriften. Dazu sollten aber auch eine Fachkräfteoffensive in strategischen Industriebereichen, Förderung von Forschung und Entwicklung sowie der Produktion grüner Zukunftstechnologien gehören.
Neben dem verstärkten Ausbau von erneuerbaren Energien ist es wichtig, den Zugang zu kritischen Rohstoffen zu sichern. Hierzu sollten die auf europäischer Ebene verhandelten Handelsabkommen zügig ratifiziert und die laufenden Verhandlungen schnellstmöglich abgeschlossen werden, wie auch EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrem jüngst vorgeschlagenen „Green Deal Industrieplan“ betont. Die Handelsabkommen mit rohstoffreichen Ländern in Afrika und Lateinamerika sind dabei von strategischer Bedeutung.Vgl. Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2022): Energiekrise solidarisch bewältigen, neue Realität gestalten. Jahresgutachten, 394 (online verfügbar). Wie die jüngste Entdeckung großer Vorkommen von Seltenen Erden in Schweden Mitte Januar 2023 gezeigt hat, ist es auch hilfreich, Vorkommen kritischer Rohstoffe in Deutschland und anderen Ländern der EU zu identifizieren.Vgl. Lukas Menkhoff und Marius Zeevaert (2022): Deutschland kann seine Versorgungssicherheit bei mineralischen Rohstoffen erhöhen. Wochenbericht Nr. 50, 668–675 (online verfügbar).
Die Folgen des IRA sind nur schwer einzuschätzen oder zu quantifizieren, da nicht abzusehen ist, inwieweit Steuervergünstigungen beansprucht werden und das Gesetz damit für die EU spürbar wird. Die von der EU-Kommission angekündigten Maßnahmen sollten aber so schnell wie möglich umgesetzt werden, damit sich die EU als Industriestandort für zukunftsweisende Technologien behaupten kann.
Themen: Wettbewerb und Regulierung, Europa
JEL-Classification: O14;O2;O3
Keywords: Industrial policy, policy evaluation, technological change
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2023-6-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/268955