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Neue Kernkraftwerke können keinen Beitrag zu nachhaltiger Energieversorgung leisten: Interview

DIW Wochenbericht 10 / 2023, S. 122

Christian von Hirschhausen, Erich Wittenberg

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Herr von Hirschhausen, obwohl die letzten deutschen Kernkraftwerke bald abgeschaltet werden, wird von verschiedenen Seiten immer wieder über neue Kernkraftwerke diskutiert. Warum eigentlich? Mit welchen Argumenten wird eine Energietechnik eingefordert, deren Verabschiedung man eigentlich gerade beschlossen hatte? Die Argumente, die in den einschlägigen Diskussionen genannt werden, sind Klimaschutz, Versorgungssicherheit und auch die Aufrechterhaltung einer Kompetenz in Kernphysik und kerntechnischer Forschung, um international mitspielen zu können.

Inwieweit könnten denn neue Kernkraftwerke einen klimaneutralen Beitrag zur Energieversorgung leisten? Wir brauchen neben der Klimaneutralität auch eine Plutoniumneutralität im System, weil es nicht nur darum geht, CO2 zu reduzieren, sondern auch das gefährliche, langlebige Plutonium in den radioaktiven Abfällen. Daher kann die gegenwärtige Kernkraftwerksgeneration, die sogenannte dritte Generation, keine Rolle zum Erreichen nachhaltiger Energieversorgung, Klima- und Plutoniumneutralität spielen. Das gilt auch für die noch gar nicht existierenden SMR-Kernkraftwerke oder andere Typen, wie zum Beispiel den sogenannten schnellen Brüter.

SMR steht für Small Modular Reactor. Das sind sogenannte Mini-Atomkraftwerke, für die es auch von prominenter Seite Fürsprecher gibt. Was spricht konkret gegen diese jetzt vielfach propagierte Technologie? Die Tatsache, dass man Kernkraftwerke mit geringer Leistung produzieren kann, ist seit 1957 bekannt. Von daher stellt das keine Innovation dar. Es handelt sich um Leichtwasserreaktoren, die wegen der geringen Leistung und der geringen Marktnachfrage derzeit und auf absehbare Zeit nicht wettbewerbsfähig zur Verfügung stehen. Sie hätten auch erhebliche Nachteile aufgrund von zusätzlichen Transporten sowie der Gefahr der Proliferation, also der illegalen Entnahme möglicherweise waffenfähigen Materials. Auch sie stellen daher keine Perspektive dar für eine klima- und plutoniumneutrale Energieversorgung.

Trotz allem gibt es viele Energiesystemmodelle für langfristige Klimaschutzszenarien, in denen die kohlenstoffarme Atomenergie einen großen Anteil hat. Warum? Das ist historisch gewachsen. Ein Teil der Expert*innen für Energiesystemmodellierung hängt aus historischen, technischen und traditionellen Gründen der Kernkraft an. Man spricht auch von einer „verhandelten Atomperspektive“. Dieser Konsens, der lange auch den Weltklimarat IPCC beherrschte, ist allerdings am Bröckeln, weil man festgestellt hat, dass die Kosten der Kernkraft sehr hoch sind. Wir sind jetzt im Bereich von 15 Cent pro Kilowattstunde, wohingegen damals Kohle, heute die Erneuerbaren, um ein Vielfaches günstiger waren und sind. Das setzt sich inzwischen auch in den eher traditionellen Energiesystemmodellierungskreisen durch. Wir beobachten zum Beispiel im sechsten Sachstandsbericht des IPCC (2022) eine Entwicklung weg von Kernkraft hin zu Erneuerbaren.

Welche politischen Handlungsempfehlungen leiten Sie daraus ab? Wir müssen zum einen die Atomwende, das heißt die Abkehr von der Atomwirtschaft im Kontext der Energiewende, rasch durchziehen und uns auf den Rückbau und die Entsorgung konzentrieren. Wir müssen die gegenwärtige Forschungspolitik kritisch auf den Prüfstand stellen und wir müssen Marktdesigns, die in Deutschland oder auch im Ausland auf die Subventionierung von Kernkraftwerken setzen, als solche identifizieren und möglichst verhindern. Das gilt insbesondere im europäischen Kontext, wo einige Nachbarländer, insbesondere Frankreich, aber auch Polen, versuchen, über diesen Mechanismus unrentable Kernkraftwerke zu finanzieren.

Das Gespräch führte Erich Wittenberg.

O-Ton von Christian von Hirschhausen
Neue Kernkraftwerke können keinen Beitrag zu nachhaltiger Energieversorgung leisten - Interview mit Christian von Hirschhausen

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