DIW Wochenbericht 17 / 2023, S. 198
Johannes Geyer, Erich Wittenberg
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Herr Geyer, die Erwerbsminderungsrente schützt Menschen, die wegen eines Unfalls oder einer Erkrankung keiner Erwerbstätigkeit nachgehen können. Wie hoch liegt das Armutsrisiko dieser Personen? Das Armutsrisiko liegt bei Erwerbsgeminderten unter 65 Jahren bei ungefähr einem Drittel. Betroffen sind allerdings auch Menschen, die schon in Altersrente getreten sind und früher einmal Erwerbsminderungsrente bezogen haben. Insgesamt liegt das Armutsrisiko ungefähr bei 26 Prozent. Von den unbefristet Erwerbsgeminderten beziehen 15 Prozent Leistungen der Grundsicherung. Viel mehr also als bei den Altersrenten, wo wir Grundsicherungsquoten von ungefähr drei Prozent haben.
2014 und 2019 gab es bereits Reformen, von denen allerdings nur die neu zugehenden Renten profitierten. Was wurde damals geändert? 2014 und 2019 hat man die sogenannte Zurechnungszeit angehoben. Man muss sich das so vorstellen: Wenn man vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheidet, dann fehlen einem Jahre, die man bräuchte, um eine vernünftige Rente zu erzielen. Für diese fehlenden Jahre gibt es eine Kompensation. Vereinfacht gesagt, werden die fehlenden Jahre nach ihrem Durchschnittsverdienst bewertet und als Rente ausgezahlt. Dabei ist natürlich das Referenzjahr relevant, also die Frage, bis zu welchem Alter kalkuliert wird. Früher war das 60, im Jahr 2014 dann 62 und 2019 hat man einen großen Schritt gemacht und das Referenzjahr auf 65 Jahre und acht Monate angehoben. Das Referenzjahr steigt nun mit der allgemeinen Altersgrenze bis 2031 auf 67 Jahre.
Eine neue Reform soll ab 2024 auch die Bestandsrenten verbessern, die ja bislang leer ausgingen. Was ändert sich dadurch für die Betroffenen? Diejenigen, die zwischen 2001 und 2014 in Erwerbsminderungsrente gegangen sind, bekommen 7,5 Prozent mehr und diejenigen, die zwischen 2014 und 2019 in Rente gegangen sind, erhalten 4,5 Prozent. Das ist verglichen mit den Anhebungen, die der Rentenzugang bekam, allerdings wenig. Eigentlich hätte man jetzt beim Bestand die Erwerbsminderungsrente um ungefähr 15 Prozent und neun Prozent anheben müssen, um das gleichzustellen.
Wie stark wird sich die Reform auf das Armutsrisiko Erwerbsgeminderter auswirken? Das Armutsrisiko sinkt deutlich. Wir rechnen mit Rückgängen von bis zu zehn Prozent. Allerdings bleibt es auf einem hohen Niveau. Das Ausgangsniveau liegt bei ungefähr einem Drittel. Wenn wir davon zwei bis drei Prozentpunkte runtergehen, haben wir immer noch eine Armutsrisikoquote von knapp 30 Prozent. Im Bevölkerungsschnitt haben wir eine Armutsrisikoquote von ungefähr 15 bis 16 Prozent. Also haben wir hier immer noch das Doppelte, auch nach der Reform.
Die Umsetzung erfolgt erst im Juli 2024. Kommt die Reform zu spät? Ja, die Reform kommt deutlich zu spät. Man wusste eigentlich schon in den 2000er Jahren, dass wir hier ein sehr stark steigendes Armutsrisiko haben. Wenn man es jetzt erst zum Juli 2024 nachholt, hat das auch noch den Nebeneffekt, dass einige, die davon hätten profitieren können, bereits gestorben sind.
Wie ließe sich die Situation Erwerbsgeminderter verbessern? Der finanzielle Spielraum ist begrenzt. Daher glaube ich, dass wir neben Umverteilungsmaßnahmen zusätzlich mehr in die Prävention investieren sollten, um Menschen davor zu bewahren, überhaupt erwerbsunfähig zu werden. Zweitens gelingt es uns kaum, Menschen aus der Erwerbsminderungsrente wieder in die Erwerbstätigkeit zu integrieren. Hier wäre zu fragen, wie wir Arbeitsplätze so gestalten können, dass Menschen mit körperlichen oder psychischen Einschränkungen wieder in die Lage gebracht werden, wenigstens in mittlerem Umfang erwerbstätig zu sein.
Das Gespräch führte Erich Wittenberg.
Themen: Verteilung, Ungleichheit, Rente und Vorsorge
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2023-17-2
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/273583