Schaltet endlich den Produktivitätsturbo ein

Blog Marcel Fratzscher vom 22. Mai 2023

Die Klagen über den Fachkräftemangel nehmen zu. In Deutschland gibt es zurzeit zwei Millionen offene Stellen, fünf Millionen weitere könnten in den nächsten zehn Jahren dazu kommen. Viele befürchten eine existenzielle Krise des deutschen Wirtschaftsmodells und einen großen Wohlstandsverlust. Der Fachkräftemangel hat jedoch auch gute Seiten. Wenn die Politik es richtig anstellt, kann sie diesen Mangel als Chance für eine wirtschaftliche Erneuerung und für mehr Produktivität und Wohlstand nutzen – und damit den Fachkräftemangel deutlich reduzieren.

Dieser Text erschien am 19. Mai 2023 bei Zeit Online in der Reihe Fratzschers Verteilungsfragen.

Die Sorge um den Fachkräftemangel ist berechtigt. Durch die Alterung der Gesellschaft werden in den kommenden zehn Jahren fünf Millionen mehr Babyboomer in Rente gehen, als junge Menschen in den Arbeitsmarkt nachkommen. Das schafft nicht nur ein zunehmendes Vorsorgeproblem und eine soziale Schieflage. Es stellt auch zahlreiche Unternehmen vor existenzielle Nöte. Denn wenn sie keine Menschen haben, die ihr Unternehmen am Laufen halten und fit für die Zukunft machen, dann werden sie früher oder später vom Markt verschwinden. Dies wird den gesamten Wirtschaftsstandort Deutschland treffen und die Wettbewerbsfähigkeit aller beeinträchtigen.

Höhere Löhne steigern die Motivation

Diesem negativen Szenario stehen jedoch vier positive und hoffnungsvolle Aspekte gegenüber, die in der Diskussion zu kurz kommen. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass ein Mangel an Arbeitskräften zu höherer Produktivität der Beschäftigten führen kann. Denn der Arbeitskräftemangel reduziert die Marktmacht der Arbeitgeber und zwingt sie, einen größeren Teil ihres Ertrags an ihre Beschäftigten abzugeben und weniger an ihre Eigentümer auszuschütten. Höhere Löhne führen zu einer besseren Motivation und eine geringere Fluktuation bei Beschäftigten. Und es zwingt Unternehmen, mehr in ihre Beschäftigten zu investieren: in Qualifizierung, bessere Arbeitsbedingungen oder eine größere Kapitalausstattung.

Der zweite Effekt ist eine Verschiebung von Beschäftigten in produktivere und hochwertigere Jobs. Dies ist auch die Erfahrung nach der Einführung des Mindestlohns im Jahr 2015. Der Mindestlohn hat einerseits die Marktmacht der Unternehmen im Niedriglohnbereich etwas reduziert und andererseits zu einem Arbeitsplatzwechsel zahlreicher Beschäftigter hin zu produktiveren Jobs geführt. Auch deshalb gab es unter den mehr als vier Millionen direkt betroffenen Beschäftigten damals so gut wie keinen Anstieg an dauerhafter Arbeitslosigkeit. Das ist positiv für die Wirtschaft als Ganzes, auch wenn es in Einzelfällen problematisch sein kann. Zum Beispiel wenn kleine Unternehmen, wie die Wäscherei oder die Bäckerei um die Ecke, die höheren Löhne schlichtweg nicht zahlen können.

Der dritte positive Aspekt ist die Mobilisierung der stillen Reserve im Arbeitsmarkt. Denn höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen motivieren Menschen, in Beschäftigung zu gehen oder ihre Arbeitszeit zu erhöhen, weil sich Arbeit mehr lohnt. Es ist schwierig abzuschätzen, wie groß dieser Effekt sein wird. Die AOK Bremen schätzte 2021, dass allein in der Pflege durch höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen knapp 300.000 zusätzliche Arbeitskräfte mobilisiert werden könnten.

Viertens könnte der Fachkräftemangel helfen, die Ungleichheit von Löhnen und Einkommen zu reduzieren. Dies zeigt zumindest die Erfahrung in den USA nach der Corona-Pandemie. Dort haben sich vor allem Beschäftigte mit geringen Löhnen aus dem Arbeitsmarkt zurückgezogen und somit Druck auf die Löhne im Niedriglohnsektor ausgeübt. Es ist schwierig einzuschätzen, ob und wie stark ein solcher Effekt in Deutschland ausfallen wird. Denn der Fachkräftemangel besteht nicht nur bei hochqualifizierten Ingenieurinnen und Ärztinnen, sondern auch bei Fachkräften mit niedrigen Löhnen in der Gastronomie oder im Einzelhandel.

Der Fachkräftemangel hat somit das Potenzial, sich selbst zu begrenzen, indem er Mechanismen im Arbeitsmarkt auslöst, die einerseits das Arbeitsangebot erhöhen und andererseits durch höhere Produktivität und Effizienz die Nachfrage nach Arbeit etwas reduzieren.

Damit diese Mechanismen greifen, muss der Gesetzgeber jedoch wichtige Barrieren im Arbeitsmarkt beseitigen. Das größte Versagen der Politik sind die unzähligen Hürden, die vor allem Frauen im Arbeitsmarkt im Weg stehen. Dazu gehören verfehlte steuerliche Anreize durch das Ehegattensplitting, eine unzureichende Betreuungsinfrastruktur und mangelnde Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Das zweitgrößte Potenzial hat die Bekämpfung von prekären Beschäftigungsformen, allen voran die Abschaffung von Minijobs und Midijobs, in denen zusammen knapp 13 Millionen Menschen in Deutschland beschäftigt sind, meist Frauen.

Zudem muss die Politik versuchen, das Marktversagen im Arbeitsmarkt weiter zu reduzieren. So hat Deutschland beispielsweise einen der größten Niedriglohnsektoren in Europa, auch weil die Marktmacht so ungleich zwischen Unternehmen und Beschäftigten verteilt ist. Die Stärkung der Sozialpartnerschaften und die Allgemeinverbindlichkeit von Tarifverträgen sind zwei Instrumente, um dies zu verbessern.

Drittens sollte die Politik mehr tun, um die Anzahl der Beschäftigten in Deutschland zu erhöhen, indem sie Wirtschaft und Gesellschaft für deutlich mehr Zuwanderung von außerhalb Europas öffnet. Die Bundesregierung hat begonnen, das Fachkräfteeinwanderungsgesetz zu reformieren, und hoffentlich wird sie klug genug sein, Deutschland attraktiver für Menschen aus dem Ausland zu machen.

Trotz aller berechtigten Sorge enthält der Fachkräftemangel auch positive Aspekte. Wenn die Politik es richtig anstellt, dann wird sich ein großer Teil des Problems von selbst lösen, weil Wirtschaft und Gesellschaft die enormen ungehobenen Potenziale besser nutzen können. Aber die Politik muss auch die Hürden und Fehlentwicklungen im Arbeitsmarkt sowie die ungleiche Verteilung von Macht korrigieren. Wenn dies gelingt, dann stehen die Chancen nicht schlecht, dass ein schmerzvoller Fachkräftemangel vermieden werden kann.

keyboard_arrow_up