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Die Stimmung ist schlechter als die wirtschaftliche Lage: Editorial

DIW Wochenbericht 24 / 2023, S. 285-286

Marcel Fratzscher

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Der Schock angesichts der Rezession im Winterhalbjahr sitzt tief. Die tatsächliche wirtschaftliche Lage in Deutschland ist jedoch besser als die gegenwärtige Stimmung. Denn die deutsche Wirtschaft hat sich als erstaunlich widerstandsfähig erwiesen, was die Auswirkungen des russischen Krieges in der Ukraine und der Energiekrise betrifft. Das eigentliche Problem ist ein anderes: Die mit der derzeitigen wirtschaftlichen Schwächephase einhergehenden Lasten sind sehr ungleich verteilt – sie treffen vor allem Menschen mit geringen Einkommen hart. Dies dürfte der Hauptgrund dafür sein, dass das DIW Berlin in seiner neuesten Konjunkturprognose – die wir Ihnen, liebe Leser*innen, in dieser Ausgabe des DIW Wochenberichts präsentieren möchten – auch für das Jahr 2023 insgesamt ein leichtes Schrumpfen der Wirtschaft um 0,2 Prozent voraussagt. Zwar wird es im Jahresverlauf langsam wieder bergauf gehen, zu einem Wirtschaftswachstum wird es im Jahresdurchschnitt aber erst im kommenden Jahr reichen, wenn das Bruttoinlandsprodukt wieder um mehr als ein Prozent steigen dürfte.

Im Herbst 2022 gingen viele Prognosen noch von einer tiefen Rezession für den zurückliegenden Winter aus. Die Sorge um einen Gasmangel und damit verbundene Produktionsstopps in der Industrie waren weit verbreitet. Diese Sorgen haben sich nicht bewahrheitet, vor allem weil die Politik in Deutschland mit großen Unterstützungsprogrammen half und ein hohes Maß an Energiesicherheit gewährleistet werden konnte. Auch viele deutsche Unternehmen, vor allem in der Industrie, haben sich resilient und anpassungsfähig gezeigt. Zudem hat die Öffnung der Wirtschaft Chinas und anderer Länder nach der Pandemie einen positiven Nachfrageimpuls auch für die deutsche Wirtschaft gesetzt.

Die relativ milde Rezession im Winter verdeckt jedoch die Tatsache, dass vor allem Menschen mit geringen Einkommen besonders stark getroffen wurden und die Kosten der Rezession sehr ungleich verteilt sind. Wir erleben eine höchst unsoziale Rezession. Der wichtigste Grund für die wirtschaftliche Schwäche ist der schwache private Konsum, vor allem von Menschen mit geringen Einkommen. Die Inflation von knapp sieben Prozent im Jahr 2022 in Kombination mit schwachen Lohnentwicklungen bedeuteten einen erheblichen Reallohnverlust für viele Menschen. Menschen mit geringen Einkommen werden durch hohe Energiekosten und Nahrungsmittelpreise besonders stark getroffen, da sie einen viel höheren Anteil ihres monatlichen Einkommens für diese Dinge aufbringen müssen. Die Tatsache, dass 40 Prozent der deutschen Haushalte keine oder kaum Ersparnisse haben, um Einkommenseinbußen auszugleichen, bedeutet, dass viele ihren Konsum deutlich reduzieren mussten. Die private Konsumschwäche dürfte auch 2023 der dominante Grund für die wirtschaftliche Schwäche Deutschlands sein.

Deutschland ist im Euroraum mit am stärksten von deutlichen Rückgängen der Realeinkommen betroffen, sodass auch die gesamtwirtschaftliche Entwicklung in Deutschland hinter der im Euroraum insgesamt zurückliegt. Während der stärkste Wachstumsimpuls in diesem und nächstem Jahr global betrachtet von den Schwellenländern, allen voran in Asien, kommt, hinkt Europa hinterher.

Deutschlands Exporte erweisen sich dagegen als recht stabil. Gerade die großen Industriekonzerne waren und sind in der Lage, höhere Kosten an ihre Kund*innen weiterzugeben, globale Lieferketten neu aufzubauen und zum Teil sogar Gewinne zu erhöhen. Dagegen leiden eher kleinere Unternehmen in den Dienstleistungssektoren und die Bauwirtschaft unter der Inflation und dem schwachen privaten Konsum.

Anders als es das dominante Narrativ in der deutschen Öffentlichkeit nahelegt, ist die Finanzpolitik alles andere als expansiv. Durch das Auslaufen vieler Unterstützungsmaßnahmen bremst die Finanzpolitik die Wirtschaftsleistung Deutschlands spätestens im kommenden Jahr etwas. Der deutsche Staat gehört zu den großen Gewinnern der hohen Inflation, die die Steuereinnahmen sprudeln lässt und dazu führt, dass auch in diesem Jahr die Staatsschuldenquote (also das Verhältnis von Staatsschulden zur Wirtschaftsleistung) signifikant sinken wird (wie auch im Jahr 2024). Die deutlich gesunkenen Energiekosten bedeuten, dass der Staat wohl nur noch recht wenig Geld für die Gas- und Strompreisbremse wird aufbringen müssen. Anders als häufig kolportiert, trägt der deutsche Staat durch seine Finanzpolitik nicht zur Inflation bei, sondern bremst die Wirtschaftsentwicklung sogar. Durch das Inflationsausgleichsgesetz nimmt die Bundesregierung in diesem Jahr knapp 14 Milliarden Euro weniger an Einkommensteuern ein. Dies wirkt sich jedoch kaum positiv auf die Wirtschaftsleistung aus, da der größte Teil dieser Gelder den Spitzenverdiener*innen zugutekommt. Menschen mit geringen Einkommen erhalten davon wenig bis nichts – obwohl sie es viel dringender gebrauchen könnten.

Die Finanzpolitik muss aufpassen, nicht dauerhaft zur Bremse für die deutsche Wirtschaft und die notwendige wirtschaftliche und ökologische Transformation zu werden. Unsere Konjunkturprognose für 2024 sagt voraus, dass die Bundesregierung die Schuldenbremse wohl auch ohne Ausgabenkürzungen wird einhalten können, auch da die im Vergleich zu früheren Jahren noch immer hohe Inflation zu deutlichen Steuermehreinnahmen führen wird.

Daher sollte sich die Finanzpolitik neu orientieren, mit zwei klaren Prioritäten: Erstens sollte sie Menschen mit geringen Einkommen direkt über Transferzahlungen entlasten, um ihnen ihren Lebensstandard sichern zu helfen. Dazu gehört beispielsweise auch die Auszahlung des Klimageldes, das die Bundesregierung im Koalitionsvertrag zwar versprochen hat, aber noch immer schuldig bleibt. Zweitens sollte die Politik bessere Rahmenbedingungen für Investitionen schaffen. Der Bedarf an Investitionen für die wirtschaftliche und ökologische Transformation ist enorm. Der beste Weg für die Politik sind nicht weitere Subventionen oder ein niedriger Industriestrompreis für einige wenige Branchen, sondern weniger politische Unsicherheit, ein Abbau von Bürokratie und deutlich mehr öffentliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung, Forschung und Entwicklung. Diese Gelder sind durch verschiedene Sondervermögen vorhanden, es muss jedoch auch der politische Wille da sein, diese Gelder für notwendige öffentliche Investitionen zu mobilisieren.

Zu guter Letzt möchte ich Ihnen noch eine Neuheit vorstellen, die wir mit dieser Konjunkturprognose einführen: Ein neu entwickeltes Prognosemodell erlaubt es uns im DIW Berlin ab sofort, Einschätzungen zur Verteilung und damit zur Ungleichheit der Arbeitseinkommen abhängig Beschäftigter bis zum aktuellen Rand zu geben. Während bisherige Analysen in der Regel zwei Jahre zuvor enden, weil entsprechende Daten auf Haushaltsebene erst mit größerer zeitlicher Verzögerung vorliegen, gibt das neue Schätzmodell Auskunft darüber, wie sich die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung auf die Einkommensungleichheit auswirkt. Die ersten Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Ungleichheit nach der Corona-Pandemie wieder leicht gestiegen ist und auch in diesem Jahr etwas zunehmen wird.

Dies verdeutlicht einmal mehr: Menschen mit geringen Einkommen muss gezielter als bisher geholfen werden. Sie leiden unter der hohen Inflation besonders. Und wenn ihre nominalen Einkommen nun langsamer steigen als die der Top-Verdiener*innen, verstärkt das den Druck zusätzlich – mit entsprechend negativen Folgen für die Betroffenen sowie Gesellschaft und Wirtschaft insgesamt. Mit unserem neuen Echtzeit-Ungleichheits-Indikator ist die Politik fortan noch besser informiert und kann gezielter gegensteuern. Das sollte sie nun auch tun.

Themen: Konjunktur

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