DIW Wochenbericht 40 / 2023, S. 545-552
Mattis Beckmannshagen, Daniel Graeber, Barbara Stacherl
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„Bei den Geschlechterunterschieden in der psychischen Gesundheit wäre es wichtig, dass die Sorgearbeit in Paarbeziehungen gleichmäßiger aufgeteilt wird, sodass hier eine psychische Entlastung insbesondere bei Frauen stattfinden kann.“ Daniel Graeber
Psychische Gesundheit gewinnt in der öffentlichen Diskussion zunehmend an Aufmerksamkeit. Im Vergleich zur körperlichen Gesundheit ist sie aber weiterhin weniger prominent. Wie steht es also um die psychische Gesundheit in Deutschland? Der Wochenbericht zeigt, dass sich die durchschnittliche psychische Gesundheit in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich verbessert hat – ähnlich zur wirtschaftlichen Entwicklung. Mit der Finanzkrise 2009 und der Corona-Pandemie ab 2020 büßte sie jedoch deutlich ein. Sie unterscheidet sich klar nach Geschlecht: Die psychische Gesundheit von Frauen liegt erheblich unter jener von Männern, näherte sich aber vor der Pandemie dem Level der Männer leicht an. Im Vergleich von Ost- und Westdeutschland hingegen zeigte sich in den letzten zwei Jahrzehnten ein Aufholtrend – relativ zu Westdeutschland verbesserte sich die psychische Gesundheit in Ostdeutschland stärker. Allerdings bleiben nach wie vor Unterschiede bestehen. Die Analysen zeigen, dass sich ökonomische Ungleichheiten häufig auch in der psychischen Gesundheit widerspiegeln. Der Aspekt psychischer Gesundheit sollte daher stärker in der politischen Entscheidungsfindung berücksichtigt werden.
„Mental Health is a Universal Human Right“ (Psychische Gesundheit ist ein universelles Menschenrecht) – Unter diesem Motto findet in diesem Jahr der Welttag für psychische Gesundheit am 10. Oktober statt. Er wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ins Leben gerufen und zielt darauf ab, psychische Gesundheit stärker in den Fokus von Gesellschaft und Politik zu rücken. Auch aus ökonomischer Perspektive ist das Thema psychische Gesundheit hoch relevant. So war beispielsweise die Arbeitsunfähigkeit wegen sogenannter Burnout-Erkrankungen in Deutschland im Jahr 2021 auf einem Rekordhoch.Bernhard Badura et al. (Hrsg.) (2022): Fehlzeiten-Report 2022. Verantwortung und Gesundheit. Heidelberg. Neben den gravierenden Folgen für die Betroffenen selbst entstehen dadurch auch Kosten für das Gesundheitssystem, Arbeitgeber*innen und für das Sozialversicherungssystem.
Die direkten Kosten, die mit der unmittelbaren Behandlung von psychischen Erkrankungen zusammenhängen, lagen im Jahr 2020 in Deutschland bei 680 Euro je Einwohner*in. Somit stellen psychische und Verhaltensstörungen gemeinsam mit den Krankheiten des Kreislaufsystems den größten Posten in den Gesundheitsausgaben dar.Vgl. das Informationssystem der Gesundheitsberichterstattung des Bundes (online verfügbar, abgerufen am 24. Juli 2023. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Dabei sind indirekte Kosten, die durch verminderte Produktivität beim Weiterarbeiten trotz Krankheit (sogenanntem Präsentismus) und bei Frühverrentungen anfallen, noch gar nicht berücksichtigt. Psychische Erkrankungen sind mittlerweile der Hauptgrund für Frühverrentungen, wodurch auch das Rentenversicherungssystem zusätzlich belastet wird.Deutsche Rentenversicherung (2021): Psychische Erkrankungen häufigste Ursache für Erwerbsminderung (online verfügbar). Das ist besonders relevant mit Blick auf den Arbeitskräftemangel in vielen Bereichen. Dieser dürfte sich durch Fehlzeiten oder Frühverrentungen noch verstärken. Als prominentes Beispiel ist die Anzahl diagnostizierter Depressionen in Deutschland allein im Zeitraum von 2009 bis 2017 um 26 Prozent angestiegen.Annika Steffen et al. (2020): Trends in prevalence of depression in Germany between 2009 and 2017 based on nationwide ambulatory claims data. Journal of Affective Disorders, 15(271), 239–247.Diese Entwicklung über die Zeit eines Anstiegs von diagnostizierten Depressionen zeigt sich auch in den Daten des Sozio-oekonomischen Panels. Neben einer höheren Prävalenz von Depressionen können auch bessere Verfügbarkeit von ärztlicher Hilfe und weniger Stigmatisierung von psychischen Erkrankungen Gründe für diesen Trend sein.
Für die Zukunft ist zu erwarten, dass psychische Erkrankungen gesellschaftlich und ökonomisch noch relevanter werden: Für das Jahr 2030 prognostizierte die WHO, dass Depressionen einer der treibenden Faktoren der globalen Krankheitslast durch gesundheitliche Einschränkungen sein werden.WHO (2008): The Global Burden of Disease: 2004 Update. Genf. World Health Organization. Damit sollte der Prävention von und dem Umgang mit psychischen Erkrankungen eine zentrale Rolle in der öffentlichen Debatte und Politikgestaltung zukommen. Wie steht es also um die psychische Gesundheit in Deutschland?
Die WHO definiert psychische Gesundheit über Diagnosen einzelner psychischer Erkrankungen oder deren Abwesenheit hinaus. Psychische Gesundheit beschreibt einen „Zustand des Wohlbefindens, in dem die oder der Einzelne ihre oder seine Fähigkeiten ausschöpfen und die normalen Lebensbelastungen bewältigen (…) kann“.WHO (2004): Promoting mental health: Concepts, emerging evidence, practice: Summary report. Genf, World Health Organization. Dieses positive Verständnis von psychischer Gesundheit umfasst damit Funktionalität und Wohlbefinden im Alltag. Anhand dieser Definition wird hier dargestellt, wie sich die psychische Gesundheit in Deutschland über die Zeit entwickelt hat und wie sie sich entlang von sozioökonomischen Charakteristika unterscheidet.
Als Datengrundlage dient dazu das Sozio-oekonomische Panel (SOEP), eine seit 1984 jährlich stattfindende repräsentative längsschnittliche Haushaltsbefragung.Jan Goebel et al. (2019): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Journal of Economics and Statistics, 239 (2), 345–60. Seit 2002 werden die psychische und physische Gesundheit der befragten Haushaltsmitglieder erfasst (Kasten).
Das Sozio-oekonomische Panel (SOEP) ist eine repräsentative, wiederholte und multidisziplinäre Haushaltsbefragung. Seit 1984 werden jährlich Haushalte und deren Mitglieder in Deutschland zu ihrer allgemeinen Lebenssituation befragt.Jan Goebel et al. (2019): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Journal of Economics and Statistics, 239 (2), 345–360. Inhalte dieser Befragungen sind unter anderem die Bildung, Arbeitsmarktsituation und Gesundheit der Befragten. Aktuell werden jedes Jahr rund 30000 Personen in etwa 15000 Haushalten befragt. Für die Analysen wurden Angaben zur eigenen Gesundheit aller SOEP-Befragten verwendet. Detaillierte Informationen zum aktuellen physischen und psychischen Gesundheitszustand im Rahmen des sogenannten Short-Form 12v2 questionnaires werden im SOEP seit 2002 im Zweijahresrhythmus erfasst.
Das SOEP beinhaltet den sogenannten Short-Form 12v2 questionnaire (SF12). Der SF12 beinhaltet zwölf gesundheitsbezogene Fragen, die den psychischen und physischen Gesundheitszustand in den 30 Tagen vor der Befragung erfassen. Beispielfrage: „Wie oft kam es in dieser Zeit vor, dass Sie wegen seelischer oder emotionaler Probleme in Ihrer Arbeit oder Ihren alltäglichen Beschäftigungen weniger geschafft haben, als Sie eigentlich wollten?“ Auf Basis der Antworten auf diese zwölf Fragen werden Werte für die folgenden acht Gesundheitsdimensionen erhoben: allgemeine Gesundheitswahrnehmung, körperliche Funktionalität, soziale Funktionalität, körperliche Schmerzen, Vitalität, psychische Gesundheit, Einschränkungen im Alltag aufgrund des körperlichen Gesundheitszustands, Einschränkungen im Alltag aufgrund des psychischen Gesundheitszustands. Basierend auf diesen acht Dimensionen werden zwei Summenindizes gebildet, einer der das physische Wohlbefinden zusammenfasst (PCS Score) und einer der das psychische Wohlbefinden zusammenfasst (MCS Score). Der MCS Score ist so normiert, dass er einen Durchschnitt von 50 und eine Standardabweichung von zehn in der SOEP-Population des Jahres 2004 hat.Vgl. Hanfried H. Andersen et al. (2007): Computation of standard values of physical and mental health scale scores using the SOEP version of the SF-12v2. Schmollers Jahrbuch 127, 171–182. Die Summenindizes werden vom SOEP-Team generiert und Nutzer*innen der Daten zur Verfügung gestellt. Ein höherer Wert in einem der Indizes wird mit höherem physischen beziehungsweise psychischen Wohlbefinden assoziiert. Für die vorliegende Studie wurde der MCS Score so umskaliert, dass er im Ausgangsjahr 2002 im Durchschnitt bei null liegt und eine Standardabweichung von eins hat. Veränderungen des MCS Scores können also als Prozentpunkte einer Standardabweichung vom Ausgangswert der Gesamtbevölkerung im Jahr 2002 interpretiert werden.
Der MCS Score ist als Maß zu Erfassung psychischer Gesundheit klinisch validiert. Nach einer epidemiologischen Studie ist der MCS Score prädiktiv dafür, dass Befragte Symptome einer klinisch relevanten psychischen Erkrankung haben.Gemma Vilagut et al. (2013): The mental component of the short-form 12 health survey (SF-12) as a measure of depressive disorders in the general population: results with three alternative scoring methods. Value in Health 16 (4), 564–573. So haben 86 Prozent aller Studienteilnehmer*innen mit einem MCS Score unter 45,6 in einem standardisierten Interview Symptome einer klinisch relevanten Depression gezeigt.
Auf dieser Basis kann die Entwicklung der psychischen Gesundheit in Deutschland von 2002 bis 2020 gezeigt werden. Dabei werden Unterschiede nach Geschlecht der Befragten, Migrationshintergrund, Bildungsabschluss und Wohnort (West- und Ostdeutschland) in den Fokus genommen. Schlechte psychische Gesundheit ist für alle Betroffenen mit negativen Konsequenzen verbunden. Aus normativer Sicht sind Unterschiede in der psychischen Gesundheit aber vor allem dann problematisch, wenn sie durch Merkmale begründet sind, die wenig bis gar nicht beeinflussbar sind, wie etwa das Geschlecht.Francisco H. G. Ferreira (2022): Not All Inequalities Are Alike. Nature Vol. 606 (online verfügbar). Auch Ungleichheiten, die sich aus dem Wohnort ableiten, sind problematisch, ist doch die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse zwischen den Bundesländern ein Auftrag aus dem Grundgesetz.Art. 72 Abs. 2 GG.
Die psychische Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland, gemessen mit dem MCS ScoreDie psychische Gesundheit wird mit dem Mental Component Summary (MCS) Score gemessen (Kasten). Der MCS Score ist ein validiertes Maß für die psychische Gesundheit von Befragten. Er wird aus mehreren standardisierten Fragen zur gesundheitsbezogenen Lebensqualität abgeleitet. Im Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) wird die psychische Gesundheit seit 2002 auf diese Art erfasst. (Kasten), verbesserte sich in den vergangenen 20 Jahren (Abbildung 1): Im Jahr 2020 war die psychische Gesundheit 7,5 Prozent einer StandardabweichungUm Vergleiche über die Zeit zu vereinfachen, werden Änderungen der psychischen Gesundheit in Prozentpunkten einer Standardabweichung interpretiert. Dafür wurde der MCS Score, so normiert, dass er im Ausgangsjahr 2002 im Durchschnitt bei 0 liegt und eine Standardabweichung von 1 hat (Kasten). über dem Ausgangswert im Jahr 2002, was einem moderaten Anstieg entspricht. Über die Zeit gab es größtenteils einen Aufwärtstrend. Allerdings ist die psychische Gesundheit zeitweise auch gesunken. In den Jahren 2010 und 2020 ist sie merklich eingebrochen. Die beiden Jahre fallen in Krisenzeiten: in die Finanz- und Schuldenkrise 2009 nachfolgend und dem Beginn der Corona-Pandemie 2020.Beim Wert für 2020 ist zu berücksichtigen, dass etwa ein Viertel der SOEP-Interviews im Januar und Februar des Jahres 2020 stattgefunden haben und somit vor Beginn der Corona-Pandemie in Deutschland. Dementsprechend bildet der Wert des MCS im Jahr 2020 nicht vollständig potenzielle Auswirkungen der Pandemie ab. Aber auch bereits vor der Pandemie kam es im Jahr 2018 zu einem leichten Rückgang in der psychischen Gesundheit. Verglichen mit den Einbußen 2010 und 2020 liegen mögliche Gründe für den Rückgang im Jahr 2018 nicht gleichermaßen auf der Hand. Die angesprochenen Krisen bilden gleichzeitig auch Zeiträume wirtschaftlicher Rezessionen ab. Generell geht für weite Teile des untersuchten Zeitraums die Entwicklung der psychischen Gesundheit mit der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung einher. Nur 2018 sinkt der Mittelwert der psychischen Gesundheit, während die Wirtschaftsleistung noch zunimmt. Die Gründe hierfür lassen sich in diesem Wochenbericht nicht abschließend klären, da es neben der Wirtschaftsleistung zahlreiche weitere Determinanten für die psychische Gesundheit gibt. Zudem lässt die hier skizzierte ähnliche Entwicklung der Wirtschaftsleistung und der psychischen Gesundheit ohne weitere Annahmen keine kausalen Schlüsse zu. Andere Studien belegen aber, dass sich die Wirtschaftslage eines Landes auf die psychische Gesundheit seiner Bevölkerung auswirkt. Gründe dafür liegen sowohl in der unmittelbaren Betroffenheit durch ArbeitslosigkeitVgl. Kamila Cygan-Rehm, Daniel Kuehnle und Michael Oberfichtner (2017): Bounding the Causal Effect of Unemployment on Mental Health: Nonparametric Evidence from Four Countries. Health Economics, 26 (12), 1844–61; Jan Marcus (2013): The Effet of Unemployment on the Mental Health of Spouses – Evidence from Plant Closures in Germany. Journal of Health Economics, 32 (3), 546–58. als auch an gestiegenen Sorgen in einer Wirtschaftskrise.Vgl. Daniel Avdic, Sonja C. de New und Daniel A. Kamhöfer (2021): Economic downturns and mental health in Germany. European Economic Review, 140, 103915. In der Corona-Pandemie gab es insbesondere zu Beginn Sorgen und Ängste um das Virus. Lockdowns und damit verbundene soziale Isolation haben darüber hinaus die psychische Gesundheit belastet. Die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland – Unsicherheit in Folge von Energiekrise und Ukraine-Krieg – lässt also auch hier erwarten, dass sich die psychische Gesundheit der Bevölkerung verschlechtern wird.
Menschen in Ost- und Westdeutschland waren hinsichtlich der psychischen Gesundheit über die Zeit unterschiedlichen Risikofaktoren ausgesetzt. Auf der einen Seite waren in der DDR die Unterdrückung der politischen Opposition sowie die flächendeckende Überwachung allgegenwärtig. Auf der anderen Seite war die Arbeitslosigkeit niedrig und die Arbeitsmarktbeteiligung sehr hoch, insbesondere unter Frauen. Nach der Wiedervereinigung drehte sich dieses Bild. Nun wurde auf dem Gebiet der ehemaligen DDR die Meinungsfreiheit gewährleistet. Gleichzeitig waren und sind mit der wirtschaftlichen Transformation steigende Arbeitslosigkeit und – zumindest kurzfristig – ein Rückgang der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit verbunden. Seitdem liegt das Pro-Kopf-Einkommen in Ostdeutschland unter jenem in Westdeutschland. Diese Entwicklungen haben auch Folgen für die psychische Gesundheit, die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland begründen können.Manfred E. Beutel et al. (2022): Mental Health and Life Satisfaction in East and West Germany: Effects of Generation and Migration of Citizens. Frontiers in Public Health, 10, 1000651; Thomas Lampert et al. (2019): 30 Years after the Fall of the Berlin Wall: Regional Health Differences in Germany. Journal of Health Monitoring, 4(S2), 2–23; Daniëlle Otten et al. (2023): Gender Differences in the Prevalence of Mental Distress in East and West Germany over Time: A Hierarchical Age-Period-Cohort Analysis, 2006–2021. Social Psychiatry and Psychiatric Epidemiology, 1–14. Die vorliegende Analyse zeigt, dass Menschen in den westdeutschen Ländern im gesamten Beobachtungszeitraum von 2002 bis 2020 eine bessere psychische Gesundheit als jene in ostdeutschen Ländern hatten (Abbildung 2). Wie oben angeführt können diese Unterschiede in der psychischen Gesundheit durch unterschiedliche Lebensverhältnisse und die wirtschaftliche Lage begründet sein. Aber auch Binnenmigration zwischen Ost und West, Bevölkerungsverluste im Osten oder die unterschiedliche Altersstruktur könnten Ursachen für die niedrigere psychische Gesundheit in Ostdeutschland sein.Statistisches Bundesamt (2023): Bevölkerungsentwicklung in Ost- und Westdeutschland zwischen 1990 und 2021: Angleichung oder Verfestigung der Unterschiede? (online verfügbar); Hermien Dijk und Jochen Mierau (2023): Mental health over the life course: Evidence for a U-Shape? Health Economics, 32(1), 155–174.
Während die psychische Gesundheit von Menschen in Ostdeutschland zu Beginn der 2000er-Jahre noch deutlich unter der von Menschen in Westdeutschland lag, lässt sich eine erfreuliche Entwicklung dokumentieren: Über die Zeit verringern sich die Unterschiede; die ostdeutschen Länder holen auf. Hierzu tragen wahrscheinlich mehrere Faktoren bei: Beispielsweise verbesserte sich der Lebensstandard in den ostdeutschen Bundesländern stark.Peter Krause (2019): 30 Jahre seit dem Mauerfall: Fortschritte und Defizite bei der Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland. DIW Wochenbericht Nr. 45, 828–838 (online verfügbar). Da in der Analyse der Wohnort herangezogen wird, könnten die beobachteten Angleichungen teilweise auch durch Binnenmigration beeinflusst sein.Stefan Liebig et al. (2020): Ost- und Westdeutschland in der Corona-Krise: Nachwendegeneration im Osten erweist sich als resilient. DIW Wochenbericht Nr. 38, 722–729 (online verfügbar). Gleichzeitig endet der Trend der Angleichung im Jahr 2018. Seitdem hat sich die Differenz in der durchschnittlichen psychischen Gesundheit zwischen Ost- und Westdeutschland wieder etwas vergrößert, wodurch im Pandemie-Jahr 2020 wieder deutlichere Unterschiede feststellbar sind. Möglicherweise konnten Personen in Westdeutschland in Pandemie und Lockdown auf eine größere Resilienz und mehr Ressourcen (zum Beispiel finanziell: höheres durchschnittliches Einkommen; emotional: mehr Optimismus angesichts von Krisen) zurückgreifen und waren nicht im gleichen Maß betroffen. Damit sind auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch signifikante Unterschiede zu beobachten. Das aus dem Grundgesetz abgeleitete Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse ist also nach wie vor – auch in Bezug auf die psychische Gesundheit – aktuell und sollte bei wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Entscheidungen stärker berücksichtigt werden.
Nicht nur regional, sondern auch geschlechtsspezifisch zeigen sich deutliche Unterschiede: Die psychische Gesundheit von Frauen ist deutlich und anhaltend schlechter als die der Männer (Abbildung 3). Der Unterschied ist dabei erheblich größer als beispielsweise zwischen Personen in West- und Ostdeutschland. Trotz zeitweise leichter Annäherung besteht in allen Jahren ein drastischer Unterschied zwischen Männern und Frauen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, und so kann eine Aufzählung nur unvollständig sein: Aus der bestehenden Forschung ist bekannt, dass sowohl biologische als auch soziokulturelle Faktoren eine Rolle spielen. Nach der Geburt eines Kindes beispielsweise tritt bei vielen Frauen eine postpartale Depression auf. Auch im Übergang zur Menopause besteht ein höheres Risiko einer Depression.Vgl. Paul R. Albert (2015): Why is depression more prevalent in women? Journal of Psychiatry & Neuroscience, 40(4), 219–221. Darüber hinaus können Lebensumstände und soziokulturelle Stressfaktoren von Frauen, wie etwa soziale Rollen und Verantwortlichkeiten, zu den Geschlechterunterschieden in der psychischen Gesundheit beitragen.Vgl. Eric Mayor (2015): Gender roles and traits in stress and health. Frontiers in Psychology, 6(779), 1–7. Beispielsweise ist die Erwerbsbeteiligung von Frauen nach wie vor niedriger als von Männern, und Frauen übernehmen den großen Teil der unbezahlten Pflegearbeit. Zudem sind Frauen durch Erwerbstätigkeit und Sorgearbeit häufig doppelt belastet.
Zwar hatte sich die psychische Gesundheit von Frauen und Männern zeitweise langsam angenähert – von etwa 20 Prozentpunkten einer Standardabweichung im Jahr 2002 auf nur etwa 15 Prozentpunkte im Jahr 2018. Durch die Corona-Pandemie wurde dieser Trend jedoch nicht nur gebremst, sondern hat sich umgekehrt – der Aufholeffekt ist damit verpufft. Möglicherweise hängt dies mit der vielfältig dokumentierten Retraditionalisierung der Rollenbilder zusammen. Denn die Schließung vieler Betreuungsangebote in der Corona-Pandemie hat dazu geführt, dass Frauen in stärkerem Maße als Männer Haus- und Betreuungsarbeiten übernommen haben.Jonas Jessen, C. Katharina Spieß und Katharina Wrohlich (2021): Sorgearbeit während der Corona-Pandemie: Mütter übernehmen größeren Anteil – vor allem bei schon zuvor ungleicher Aufteilung. DIW Wochenbericht Nr. 9, 131–139 (online verfügbar); Johannes Seebauer, Alexander S. Kritikos und Daniel Graeber (2021): Warum vor allem weibliche Selbstständige Verliererinnen der Covid-19-Krise sind. DIW Wochenbericht Nr. 15, 261–269 (online verfügbar). Diese gestiegenen Belastungen können sich erheblich auf die psychische Gesundheit der Betroffenen auswirken. Das ist umso problematischer, da psychische Erkrankungen besonders persistent sind. Das heißt, jede Diagnose heute erhöht die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Diagnose in der Zukunft. Hier braucht es weitere und langfristige Analysen, um zu verstehen, inwiefern sich diese Rollenverteilungen verfestigt haben.
Dass die Unterschiede in der psychischen Gesundheit von Frauen und Männern zwischen 2002 und 2018 schrumpften, zeigt, dass diese nicht unüberwindbar sind. Das sollte Entscheidungsträger*innen ermutigen, Gleichstellungspolitik weiter voranzutreiben.
In den letzten 20 Jahren hatten Menschen mit MigrationshintergrundDie hier verwendete Definition von Migrationshintergrund umfasst Menschen, die selbst oder deren Eltern nicht in Deutschland geboren sind. meist eine etwas niedrigere psychische Gesundheit als Menschen ohne Migrationshintergrund (Abbildung 4). Allerdings sind die Unterschiede im Vergleich zu den Unterschieden zwischen den Geschlechtern klein und nur teilweise statistisch signifikant. Aus der bestehenden Forschung sind dazu zwei gegenläufige Effekte bekannt: Zum einen können vielfältige Diskriminierungserfahrungen dazu beitragen, dass Menschen mit Migrationshintergrund eine schlechtere psychische Gesundheit haben als jene ohne Migrationshintergrund.Miriam Blume et al. (2020): Perceived Discrimination and Mental Health among Adolescents in Germany. European Journal of Public Health, 32(Supplement_3), 130–205. Gleichzeitig sind Zugewanderte im Durchschnitt physisch und psychisch gesünder als die hiesige Bevölkerung.Sarah Elshahat, Tina Moffat und K. Bruce Newbold (2022): Understanding the Healthy Immigrant Effect in the Context of Mental Health Challenges: A Systematic Critical Review. Journal of Immigrant and Minority Health, 24 (6), 1564–79. Zusammengefasst bedeutet das, dass für Menschen mit Migrationshintergrund eine noch bessere psychische Gesundheit zu erwarten wäre, wenn sie weniger Diskriminierungserfahrungen hätten. Grundsätzlich sollte eine gute psychische Gesundheit für alle Menschen unabhängig der Herkunft gewährleistet sein – gemäß der UN-Menschenrechtscharta besteht ein universelles Recht auf körperliche und psychische Gesundheit. Daher sollten politische Bestrebungen daran ansetzen, Unterschiede in der psychischen Gesundheit entlang des Migrationshintergrunds zu überwinden. Auch mit Blick auf die benötigte Einwanderung von Fachkräften besteht hier ein ökonomisches Interesse für konkrete Maßnahmen.
Daher ist es notwendig, Rahmenbedingungen für psychisches Wohlbefinden von Personen mit Migrationshintergrund zu schaffen und Diskriminierungserfahrungen zu reduzieren. Dazu wäre es beispielsweise hilfreich, wenn Ämter mindestens Englisch als weitere Amtssprache anböten. Aber auch die Anerkennung von Abschlüssen könnte standardisiert werden, sodass Zugewanderte einen besseren und verlässlicheren Zugang zum Arbeitsmarkt haben.
In den Jahren 2002 bis 2020 hatten Akademiker*innen meist eine bessere psychische Gesundheit als Menschen ohne Hochschulabschluss (Abbildung 5). Dies kann damit zusammenhängen, dass Hochschulabsolvent*innen häufiger in Berufen tätig sind, in denen sie autonom Entscheidungen treffen und im Schnitt über höhere Ressourcen verfügen, um mit eventuellen Krisen zurecht zu kommen.Vgl. Julia Seitz und Thomas Rigotti (2018): How do differing degrees of working-time autonomy and overtime affect worker well-being? A multilevel approach using data from the German Socio-Economic Panel (SOEP). German Journal of Human Resource Management, 32(3–4), 177–194; Christian Bayer und Moritz Kuhn (2023): Job levels and Wages. SOEPpapers 1190 (online verfügbar). Diese Ressourcen können materieller Art (beispielsweise ein hohes Einkommen) und immaterieller Art (zum Beispiel soziale Netzwerke) sein. Zudem haben Personen mit niedrigerem Bildungsniveau häufig eine höhere Stressbelastung am Arbeitsplatz.Thorsten Lunau et al. (2015): The Association between Education and Work Stress: Does the Policy Context Matter? PLoS One, 10(3), e0121573. Darüber hinaus ist es möglich, dass Menschen mit (vorab) besserer psychischer Gesundheit häufiger einen Hochschulabschluss erreichen.
Im Jahr 2010 fiel die psychische Gesundheit von Menschen mit Hochschulabschluss nicht so stark ab wie bei Menschen ohne Hochschulabschluss. Damit war in den Jahren unmittelbar nach der Finanzkrise der Abstand zwischen Personen mit und ohne Hochschulabschluss größer als zuvor. Das legt nahe, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung bei Menschen ohne Hochschulabschluss stärker in der psychischen Gesundheit niederschlägt. Dies könnte durch höhere finanzielle Stabilität von Akademiker*innen begründet sein. Ab 2018 liegt die psychische Gesundheit der beiden Gruppen dann wieder näher aneinander. Im Pandemie-Jahr 2020 ging die psychische Gesundheit bei beiden Gruppen in ähnlichem Ausmaß zurück. Unter Umständen wirken sich unterschiedliche Krisen unterschiedlich auf Personen mit und ohne Hochschulabschluss aus. Anscheinend waren Akademiker*innen in der Finanzkrise resilienter als Nicht-Akademiker*innen, nicht jedoch in der Corona-Pandemie.
Die durchschnittliche psychische Gesundheit der deutschen Bevölkerung hat sich seit 2002 deutlich verbessert. Die Analyse zeigt auch, dass sich die psychische Gesundheit über weite Strecken ähnlich wie die Wirtschaftsleistung entwickelt hat. Das wird durch die bestehende wissenschaftliche Literatur bestätigt: Wirtschaftliche Abschwünge verschlechtern im Schnitt die psychische Gesundheit der Bevölkerung. Das liegt nicht nur an der unmittelbaren Betroffenheit durch Arbeitslosigkeit, sondern auch an den steigenden Sorgen in einer Wirtschaftskrise. Hier liegen also möglicherweise nicht erfasste zusätzliche gesellschaftliche und ökonomische Kosten von Rezessionen vor, die es gesondert zu betrachten und zu adressieren gilt.
Die aktuelle Situation stellt dabei eine besonders große Herausforderung dar: Die Corona-Pandemie, der russische Angriffskrieg und die Klimakrise sind Ereignisse, die bei vielen Menschen Sorgen und Ängste ausgelöst haben und sich negativ auf ihre psychische Gesundheit auswirken. Hinzu kommt nun, dass die wirtschaftlichen Folgen – also Energiekrise, Inflation, Rezession – die psychische Gesundheit zusätzlich belasten dürften. Bei fiskalpolitischen Maßnahmen sollten die Folgen von Krisen auf die psychische Gesundheit unbedingt berücksichtigt werden. Würde die psychische Gesundheit miteinbezogen werden, so würden einige Kosten-Nutzen-Analysen womöglich anders ausfallen. Ein konkretes Beispiel wäre die Ausgestaltung der Regelungen der Kurzarbeit. So könnten Entscheidungen häufiger zu Gunsten eines erleichterten Zugangs ausfallen, um Risiken für die psychische Gesundheit zu mindern. Dies könnte den diametralen Effekten wirtschaftlicher Rezessionen für die psychische Gesundheit entgegenwirken.
Die beschriebenen Unterschiede in der psychischen Gesundheit zwischen Frauen und Männern, Personen mit und ohne Migrationshintergrund, Personen mit und ohne Hochschulabschluss sowie Wohnort in Ost- und Westdeutschland sind normativ problematisch. Sie zeigen, dass sich soziale Ungleichheiten auch in der psychischen Gesundheit widerspiegeln. Das vielerorts beschriebene soziale Gefälle der physischen Gesundheit zeigt sich also auch in der psychischen Gesundheit in Deutschland – entlang entscheidender Merkmale und über die Zeit hinweg. Insbesondere zwischen Männern und Frauen sind deutliche und persistente Unterschiede in der psychischen Gesundheit zu sehen. Aber auch zwischen Ost- und Westdeutschland hat sich mehr als 30 Jahre nach der Wiedervereinigung die psychische Gesundheit noch nicht vollständig aneinander angenähert. Die Ergebnisse sollten Anstoß sein, psychische Gesundheit in Bestrebungen auf Chancengleichheit miteinzubeziehen.
Angesichts der ähnlichen Entwicklung von Wirtschaftsleistung und psychischer Gesundheit können bezüglich der Ost-West-Unterschiede beispielsweise wirtschaftspolitische Maßnahmen relevant sein. Es müssten Voraussetzungen geschaffen werden, damit sich die Wirtschaftsleistung pro Kopf in Ost- und Westdeutschland angleicht. Dreh- und Angelpunkt hierbei ist die Produktivitätslücke.Vgl. Reint E. Gropp und Gerhard Heimpold (2019): Ostdeutschland 30 Jahre nach dem Mauerfall: Erreichtes und wirtschaftspolitischer Handlungsbedarf. Wirtschaftsdienst, 99(7), 471–76. Ebenfalls muss die Anzahl von Fachkräften erhöht werden, sinkt doch die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter in Ostdeutschland besonders stark. Folglich hat die gezielte Zuwanderung eine besonders hohe Bedeutung für die ostdeutschen Bundesländer.Vgl. Reint E. Gropp und Gerhard Heimpold (2019), a.a.O.
Insgesamt hat Deutschland im Bereich der psychischen Gesundheit in den letzten zwei Jahrzehnten große Fortschritte gemacht. Die vielfältigen Krisen der vergangenen Jahre stellen Politik, Wirtschaft und Gesellschaft jedoch vor immense Herausforderungen. Bei deren Bewältigung sollte die psychische Gesundheit stärker in den Fokus rücken – nicht nur am Welttag für psychische Gesundheit, sondern grundsätzlich bei allen politischen Entscheidungen.
Themen: Ungleichheit, Gesundheit
JEL-Classification: I14;I15;I18
Keywords: mental health, economic development, health inequality, health inequity, social inequality
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2023-40-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/279500