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Energie- und Klimaszenarien gehen paradoxerweise von einem starken Ausbau der Atomenergie aus

DIW Wochenbericht 44 / 2023, S. 609-617

Christian von Hirschhausen, Björn Steigerwald, Franziska Hoffart, Claudia Kemfert, Jens Weibezahn, Alexander Wimmers

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  • Studie untersucht, welche Bedeutung langfristige Energie- und Klimaszenarien der Atomenergie beimessen
  • Trotz fehlender Innovationen und mangelnder ökonomischer Wettbewerbsfähigkeit sehen meiste Szenarien erheblichen Anstieg der Atomenergie vor
  • Widerspruch zwischen zu optimistischen Szenarien und Realität kann als Atomenergie-Szenarien-Paradox bezeichnet werden
  • Paradox spiegelt seit 1945 bestehende Hoffnungen auf eine Plutoniumwirtschaft wider, welche unrealistisch waren und sind
  • Es besteht die Gefahr, erhebliche Gelder in die Entwicklung von Atomenergietechnologien zu investieren, obwohl andere Technologien rentabler und risikoärmer sind

„Wenn Politik und Energiewirtschaft ihre Planungen auf falsche Klimaszenarien stützen, wird künftig viel Geld in Projekten versickern, die auf Atomenergie statt erneuerbare Energien setzen – Geld, das für eine nachhaltige und wirtschaftliche Energiewende fehlen wird.“ Christian von Hirschhausen

Die meisten Klimaszenarien internationaler Organisationen und der Forschung beinhalten einen erheblichen Ausbau der Atomenergie. Beispielsweise steigt die Stromerzeugung aus Atomenergie im Durchschnitt der im Sechsten Sachstandbericht des Weltklimarates (IPCC) erhobenen Szenarien von derzeit knapp 3000 Terawattstunden auf über 6000 Terawattstunden im Jahr 2050 und auf über 12000 Terawattstunden im Jahr 2100. Diese Verdopplung bis 2050 beziehungsweise Vervierfachung bis 2100 der Atomstromproduktion widerspricht den technischen und ökonomischen Realitäten. Neu errichtete Kernkraftwerke waren zu keiner Zeit wettbewerbsfähig und werden es auf absehbare Zeit auch nicht werden. Dieser Widerspruch kann als Atomenergie-Szenarien-Paradox bezeichnet werden und lässt sich durch eine Reihe politökonomischer, institutioneller und geopolitischer Faktoren erklären. Insbesondere die enge Verbindung zwischen militärischer und kommerzieller Nutzung von Atomenergie sowie dem Interesse der Atomwirtschaft und den dazu gehörigen Organisationen an der Selbsterhaltung spielen hierbei eine Rolle. Die Szenarien müssen in Bezug auf Annahmen und Modelllogik kritisch hinterfragt werden. Es besteht unter anderem die Gefahr, erhebliche öffentliche und private Gelder in die Entwicklung von Technologien zur kommerziellen Nutzung von Atomenergie zu investieren, obwohl von anderen Technologien, insbesondere erneuerbaren Energien, ein wesentlich besseres Kosten-Leistungsverhältnis und geringere ökonomische, technische und militärische Risiken zu erwarten sind. Angesichts der Dringlichkeit des Klimaschutzes ist es problematisch, weiterhin personelle und finanzielle Ressourcen in Atomenergie zu lenken.

Auf dem Weg zu einer nachhaltigen Energieversorgung sind der Ausstieg aus fossilen Energieträgern wie Kohle, Erdgas und Erdöl sowie der rasche Ausbau erneuerbarer Energien zentral. Zunehmend wird allerdings auch über die Rolle der Atomenergie in der Transformation diskutiert, wie sich etwa in den Debatten um einen Industriestrompreis oder eine Taxonomie nachhaltiger Investitionen zeigt. In der Debatte um unterschiedliche Transformationspfade, aber auch zur Legitimierung von Maßnahmen spielen dabei die von unterschiedlichen Organisationen erstellten Klimaszenarien eine bedeutende Rolle.infoLeonard Göke, Jens Weibezahn und Christian von Hirschhausen (2023): A Collective Blueprint, Not a Crystal Ball: How Expectations and Participation Shape Long-Term Energy Scenarios. Energy Research & Social Science (online verfügbar, abgerufen am 10. Oktober 2023. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). Die Akteure aus Industrie, Politik und Wissenschaft konkurrieren hierbei um die Deutungshoheit von Modellen und den damit errechneten Szenarien. Für die Allgemeinheit ist dieser Prozess aufgrund der hohen Komplexität in der Regel nicht bewertbar.infoArnulf Grubler (2012): Energy transitions research: Insights and cautionary tales. Energy Policy 50, 8–16 (online verfügbar); Franziska M. Hoffart, Elias-Johannes Schmitt und Michael Roos (2021): Rethinking Economic Energy Policy Research – Developing Qualitative Scenarios to Identify Feasible Energy Policies. Journal of Sustainable Development of Energy 9, 1–28 (online verfügbar); Frank W. Geels (2018): Disruption and low-carbon system transformation: Progress and new challenges in socio-technical transitions research and the Multi-Level Perspective. Energy Research & Social Science 37, 224–231 (online verfügbar). Neben der quantitativen Szenarienentwicklung können qualitative Szenarien dabei helfen, zugrunde liegende Annahmen sichtbar zu machen und damit die Szenarien auf Konsistenz und Plausibilität zu prüfen.infoHoffart, Schmitt und Roos (2021), a.a.O.; Franziska M. Hoffart (2022): What Is a Feasible and 1.5°C-Aligned Hydrogen Infrastructure for Germany? A Multi-Criteria Economic Study Based on Socio-Technical Energy Scenario. Ruhr Economic Papers 97 (online verfügbar).

In aktuellen Klimaszenarien liegt der Fokus auf der Reduktion von Treibhausgasemissionen, oftmals als Klimaneutralität bezeichnet („net zero“). Deutschland soll bis 2045 klimaneutral werden, die Europäische Union (EU) bis 2050 und weltweit bereiten die meisten Länder klimaneutrale Szenarien vor.infoFernanda Ballesteros et al. (2023): Weg zur Klimaneutralität: Szenarien unterstützen Unternehmen und Finanzwirtschaft. DIW Wochenbericht Nr. 25, 337–345 (online verfügbar). Der Atomenergie wird dabei eine große und oftmals steigende Bedeutung beigemessen, obwohl die jahrzehntelang erwarteten technischen Innovationen ausgeblieben sind und Atomstrom bis heute wirtschaftlich nicht wettbewerbsfähig geworden ist.infoBen Wealer et al. (2021): Investing into third generation nuclear power plants – Review of recent trends and analysis of future investments using Monte Carlo Simulation. Renewable and Sustainable Energy Reviews 143, 110836 (online verfügbar); Björn Steigerwald et al. (2023): Uncertainties in Estimating Production Costs of Future Nuclear Technologies: A Model-based Analysis of Small Modular Reactors. Energy 281, 128204 (online verfügbar). Repräsentativ hierfür ist das „Net Zero Emission 2050“-Szenario (NZE) der Internationalen Energieagentur (IEA).infoIEA (2021): Net Zero by 2050: A Roadmap for the Global Energy Sector. International Energy Agency (online verfügbar). Obwohl die IEA Atomenergie explizit als eine der teuersten Energiequellen benennt, geht sie in ihrem Szenario davon aus, dass die weltweit aus Atomenergie erzeugte Elektrizität von 2700 Terawattstunden im Jahr 2020 auf über 5000 Terawattstunden im Jahr 2050 steigen wird (Abbildung 1).

Bereits seit 1945 spielt die Atomenergie in Energieszenarien eine wichtige Rolle. Denn seit der Zündung der ersten Atombombe wird davon ausgegangen, dass die Kernkräfte nicht nur zur Waffenproduktion, sondern auch in der kommerziellen Strom- und Wärmeerzeugung eines Tages wirtschaftlich nutzbar werden würden. Es wird dabei jedoch bis heute zu wenig über langfristig zu lagernde radioaktive Abfälle, Unfallrisiken und die potenzielle Weiterverbreitung von Spaltmaterial gesprochen.infoBen Wealer et al. (2021): Zehn Jahre nach Fukushima – Kernkraft bleibt gefährlich und unzuverlässig. DIW Wochenbericht Nr. 8, 107–115 (online verfügbar), Spencer Wheatley et al. (2016): Reassessing the safety of nuclear power. Energy Research & Social Science 15, 96–100 (online verfügbar); Mariliis Lehtveer und Fredrik Hedenus (2015): Nuclear power as a clime mitigation strategy – technology and proliferation risk. Journal of Risk Research 18, 273–290 (online verfügbar).

Auch Forschung am DIW Berlin aus über einem Jahrzehnt zeigt: Atomenergie ist nicht wettbewerbsfähig, weist eine geringe Innovationsdynamik auf und verbindet lange Bauzeiten mit erheblichen technischen Risiken.infoVgl. Dossier Atomkraft des DIW Berlin (online verfügbar). Der Widerspruch zwischen der stark zunehmenden Bedeutung von Atomenergie in Szenarien und ihrer offensichtlich fehlenden wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit lässt sich als Atom-Szenarien-Paradox bezeichnen.infoChristian von Hirschhausen (2017): Nuclear Power in the Twenty-first Century – An Assessment (Part I). DIW Discussion Paper 1700, 25–28 (online verfügbar); Björn Steigerwald et al. (2022): Nuclear Bias in Energy Scenarios: A Review and Results from an in-Depth Analysis of Long-Term Decarbonization Scenarios. 17th European IAEE Conference, Athens, Greece. Dieses Paradox wird im vorliegenden Wochenbericht dargelegt und mit Blick auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kritisch hinterfragt.

Energieszenarien ab 1945 sind bezüglich Atomenergie zu optimistisch und realitätsfern

Seit 1945 wird an der wirtschaftlichen Nutzung von Atomenergie für Strom und Wärme gearbeitet, bisher jedoch ohne entscheidende Durchbrüche bei der Profitabilität.infoLucas W. Davis (2012): Prospects for Nuclear Power. Journal of Economic Perspectives 26, 49–66 (online verfügbar); Geoffrey Rothwell (2022): Projected Electricity Costs in International Nuclear Power Markets. Energy Policy 164, 112905 (online verfügbar); Ben Wealer et al. (2019): Zu teuer und gefährlich: Atomkraft ist keine Option für eine klimafreundliche Energieversorgung. DIW Wochenbericht Nr. 30, 511–520 (online verfügbar). Seitdem wird auch davon ausgegangen, dass anstelle von Uran die Nutzung von Plutonium, vor allem in Brutreaktoren, Atomenergie wirtschaftlicher machen wird. Plutonium ermöglicht aufgrund des Brutprozesses eine 60-fach bessere Auslastung der Kernkräfte als Uran-235 (Kasten).infoDurch die Erbrütung zusätzlichen Spaltmaterials in Plutonium-Brutreaktoren kann sogar aus dem tauben Anteil des Urans, dem U-238, spaltbares (waffenfähiges) Plutonium erstellt werden, sodass der Prozess einem „Perpetuum Mobile“ entspräche: Je mehr es genutzt wird, desto mehr weitere Energie kann theoretisch bereitgestellt werden. Siehe Julia Mareike Neles und Christoph Pistner (Hrsg.) (2012): Kernenergie: Eine Technik für die Zukunft? Technik im Fokus. Berlin, 37–38 (online verfügbar). Im Jahr 1945 sprach vor allem die geringe Verfügbarkeit natürlicher Uranvorkommen dafür, den Brennstoffkreislauf von Plutonium energetisch zu nutzen. Der Kernphysiker Leo Szilard, der 1933 erstmals die selbsterhaltende Kernspaltung theoretisch nachgewiesen hatte, hielt es nach dem Zweiten Weltkrieg für möglich, 400 Tonnen Natururan pro Jahr zu importieren. Dies hätte jedoch lediglich zum Betrieb von zwei Leichtwasserreaktoren mit einer elektrischen Leistung von 1000 MW ausgereicht.infoLeo Szilard (1947): Atomic Energy, a Source of Power or a Source of Trouble (Speech given April 23 in Spokane, WA). Leo Szilard Papers. MSS 32. Special Collections & Archives, UC San Diego Library, Spokane, WA (online verfügbar). Vgl. von Hirschhausen (2022), a.a.O., 18–25 mit Bezug auf Datenbasis OECD/NEA (2022): Uranium Resources, Production and Demand. Paris, Vienna: Organization for Economic Co-operation and Development (OECD), and Nuclear Energy Agency (NEA) (online verfügbar). Daher wurden die ersten Atomprogramme in den USA und später in anderen Ländern mit Plutonium-Brutreaktoren geplant. In Deutschland trug Werner Heisenberg zum Narrativ der Plutoniumwirtschaft bei, indem er 1953 gegenüber Bundeskanzler Konrad Adenauer und der Öffentlichkeit das Problem des schnellen Brutprozesses als gelöst erklärte.infoJoachim Radkau (1983): Aufstieg und Krise der deutschen Atomwirtschaft 1945–1975: Verdrängte Alternativen in der Kerntechnik und der Ursprung der nuklearen Kontroverse. Reinbek bei Hamburg, 65. Das erste Reaktorentwicklungsprogramm in Deutschland 1957 (Eltville-Programm) wurde dementsprechend ebenfalls mit Plutonium-Brutreaktoren aufgesetzt.

Bei Reaktortechnologien kann im Wesentlichen zwischen solchen mit einem langsamen und solchen mit einem schnellen Neutronenspektrum unterschieden werden. Zur ersten Kategorie zählen die Leichtwasserreaktoren, die über 80 Prozent der aktuell am Netz befindlichen Reaktorkapazitäten ausmachen. Die Kernspaltung von Uran-235 wird in diesen Reaktoren mittels Moderation durch Wasser kontrolliert. Die Verwendung von Uran-235 als Brennstoff setzt eine Vielzahl aufwendiger Prozesse, wie der Anreicherung des Natururans, voraus. Reaktoren mit einem schnellen Neutronenspektrum hingegen arbeiten mit anderen Zerfallsprozessen, die aus Uran-238 Plutonium-239 „erbrüten“ und vorgelagerte Prozesse aus der Brennstoffherstellung für Leichtwasserreaktoren theoretisch obsolet machen könnten. Aus diesem Grund werden diese Reaktoren auch als „Brutreaktoren“ bezeichnet. Weltweit wurde nur eine Handvoll solcher Reaktoren betrieben, kommerzielle Durchbrüche sind bis heute ausgeblieben.infoTiefergehende Informationen zur Funktionsweise dieser Reaktoren bieten von Hippel et al. (2019), a.a.O.; sowie Man-Sung Yim (2022): Radioactive Waste Management: Science, Technology, and Policy. Lecture Notes in Energy. Springer (online verfügbar).

Trotz der Fehlschläge der ersten Generation von Plutonium-Brutreaktoren in den 1950er Jahren, unter anderem in Detroit (USA), Majak (Sowjetunion) und Windscale (Vereinigtes Königreich), blieb das Narrativ zukünftiger Plutoniumwelten in den Energieszenarien präsent. Der US-Kernchemiker Glenn T. Seaborg, der im Dezember 1940 erstmals Plutonium von anderen Stoffen abgetrennt hatte und dafür 1951 den Chemie-Nobelpreis gewann, sprach später als Vorsitzender der US-Atomenergiekommission von „Plutonium als dem Eckstein der Wirtschaft der Zukunft“, der sogenannten Plutoniumwirtschaft.infoGlenn T. Seaborg (1970): The Plutonium Economy of the Future. Gehalten auf der Fourth International Conference on Plutonium and Other Actinides (online verfügbar). Seaborg zufolge würde der sprunghafte Zuwachs an Atomenergie nach einer Übergangsphase fast vollständig durch Plutonium-Brutreaktoren erfolgen (Abbildung 2). Es würden angeblich zwischen 1995 und 2015 jährlich etwa 100 Gigawatt an Plutonium-Brutreaktoren gebaut werden, so die Prognose von 1974. Dieser jährlich erwartete Zuwachs wäre größer als die heutige Gesamtkapazität an Kernkraftwerken in den USA.

Ein weiterer Anlauf, die Plutonium-Brutreaktoren gleichsam qua Energieszenarien herbeizureden, erfolgte in den 1970er und 1980er Jahren im Kontext der Energiesystemanalysen des Internationalen Instituts für angewandte Systemanalyse (IIASA). Wesentlich daran beteiligt war der deutsche Kernphysiker Wolf Häfele.infoWolf Häfele et al. (1981): Energy in a Finite World: A Global Systems Analysis (Volume 2). Cambridge, USA (online verfügbar); Atle Midttun und Thomas Baumgartner (1986): Negotiating Energy Futures: The Politics of Energy Forecasting. Energy Policy 14 (3), 219–41 (online verfügbar). Sowohl für einzelne Länder als auch global wurden dabei der Atomenergie, insbesondere der Plutonium-Brütertechnologie, glänzende Zeiten vorhergesagt. So sollte der Anteil der Atomenergie an der Stromerzeugung in den 1990er Jahren stark ansteigen und der Uran-Leichtwasserreaktor ab etwa 2010 schrittweise vom Plutonium-Brutreaktor abgelöst werden (Abbildung 3, linker Teil). Die Forscher Midttun und Baumgartner wiesen jedoch zeitnah nach, dass es sich dabei um „verhandelte Atomenergie-Zukünfte“ handelte, die vom IIASA beziehungsweise anderen Forschungsgruppen in enger Beziehung mit Industrie und Politik festgelegt worden und die beispielsweise nicht robust bezüglich der ökonomischen Annahmen waren. So führte die geringste Veränderung von Eingangsparametern zu anderen Ergebnissen, insbesondere bezüglich der Atomenergie (Abbildung 3, rechter Teil): Im Fall der USA kann sich nicht einmal der Uran-Leichtwasserreaktor im Energiemix halten, sobald die angenommenen Kosten um nur 16 Prozent erhöht werden.infoMidttun und Baumgartner (1986), a.a.O. In der Realität wurden seit den 1980er Jahren sehr wenige neue Uran-Leichtwasserreaktoren gebaut und der Anteil von Plutonium-Brutreaktoren ist bis heute vernachlässigbar gering geblieben, sowohl in den USA als auch weltweit.infoAlexander Wimmers et al. (2023): Ausbau von Kernkraftwerken entbehrt technischer und ökonomischer Grundlagen. DIW Wochenbericht Nr. 10, 111–121 (online verfügbar).

Aktuelle Energie- und Klimaszenarien beinhalten stark steigende Atomstromproduktion

Die seit 1945 beobachtete Zukunftseuphorie von Energie- und später auch Klimaszenarien mit hohen Anteilen von Atomenergie setzt sich auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts fort und verstärkt sich sogar (Abbildung 1). Dies ist sowohl in Studien internationaler Organisationen beobachtbar, unter anderem der IEA, der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEA) sowie dem World Energy Council (WEC), als auch in vielen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, die in die Berichte der Arbeitsgruppe 3 (Mitigation) des Weltklimarats (IPCC) beziehungsweise auch des Stanford Energy Modeling Forum eingehen.infoSon H. Kim et al. (2014): Nuclear Energy Response in the EMF27 Study. Climatic Change (online verfügbar); Luis Sarmiento et al. (2023): Comparing Net Zero Pathways across the Atlantic. A Model Inter-Comparison Exercise between the Energy Modeling Forum 37 and the European Climate and Energy Modeling Forum. Energy and Climate Change, im Druck. So nimmt die Erzeugung von Strom aus Atomenergie in den Szenarien der IAEA von derzeit 2700 Terawattstunden auf bis zu 5700 Terawattstunden (2050) zu, in den Szenarien des WEC sogar auf bis zu 6800 Terawattstunden. Das IPCC-Szenario zur globalen Bewertung mit den Bemühungen, die globale Erwärmung auf 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen, geht von 7344 Terawattstunden Atomenergie im Jahr 2050 aus.infoKurzform MESSAGE V.3 GEA_Eff_1p5C.

Diese angenommenen zukünftigen Entwicklungen sind jedoch kaum vereinbar mit der aktuellen Realität. In den kommenden Jahrzehnten wird über die Hälfte der weltweit laufenden Kernkraftwerke altersbedingt vom Netz gehen. Selbst im niedrigen Szenario der IAEA, das von einer konstanten Stromerzeugung aus Kernkraftwerken, anhaltenden Markt-, Technologie- und Ressourcentrends sowie geringen gesetzlichen und politischen Änderungen ausgeht, würde es nicht ohne den Neubau von mehreren hundert neuen Kernkraftwerken gehen (Abbildung 1).

Der beobachtete Trend steigender Atomstromproduktion wird auch von mehreren tausend Klimaszenarien bestätigt, die vom IIASA in einer Datenbank systematisch erfasst und nachfolgend betrachtet werden (Abbildung 4). Sowohl in den 409 Szenarien (von 24 integrierten Bewertungsmodellen) aus dem IPCC-Sonderbericht zum 1,5-Grad-Ziel als auch in den 2428 Szenarien (von 109 Modellen) aus dem Sechsten Sachstandsbericht des IPCC nimmt der Anteil von Atomenergie an der Primärenergieerzeugung zwischen 2020 und 2050 beziehungsweise 2100 erheblich zu:infoDaniel Huppmann et al. (2018): IAMC 1.5°C Scenario Explorer and Data Hosted by IIASA (online verfügbar); Edward Byers et al. (2022): AR6 Scenarios Database (online verfügbar). Im IPCC-Sonderbericht zum 1,5-Grad-Ziel steigt die weltweite Produktion von etwa 3000 Terawattstunden im Jahr 2020 auf circa 14000 Terawattstunden bis zum Jahr 2100, im Sechsten Sachstandsbericht wird 2100 ein ähnlicher Wert erreicht (13440 Terawattstunden).

Die Szenarien, die einen steigenden Anteil der Nutzung von Atomenergie beinhalten, zeigen ebenfalls spezifische Differenzen in den einzelnen Modellannahmen, die zu unterschiedlichen Verläufen führen. Dies wird zum Beispiel bei einem Vergleich der Integrierten Bewertungsmodelle AIM/CGE,infoAsian-Pacific Integrated Model/Computable General Equilibrium. MESSAGEixinfoModel for Energy Supply Strategy Alternatives and their General Environmental Impact. und POLESinfoProspective Outlook on Long-term Energy Systems. deutlich (Abbildung 5). Betrachtet wird hierbei der Durchschnitt aller modellzugehörigen Szenarien aus dem Sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarates, die zwischen 2020 und 2100 einen Anstieg an produzierter Elektrizität aus Atomenergie annehmen. Dieser Anteil steigt hier von etwa elf Prozent (2020) auf 18 Prozent (2100). Tatsächlich ist der Anteil der Atomenergie an der globalen Stromerzeugung seit 1996 kontinuierlich gesunken und betrug im Jahr 2022 lediglich neun Prozent.infoEnergy Institute (2023): Statistical Review of World Energy 2023 (online verfügbar). Hierbei handelt es sich um ein weiteres Beispiel, das zeigt, dass die Annahmen der Szenarien von der Realität abweichen.

Im Verlauf sind hierbei erhebliche Unterschiede zu beobachten: MESSAGEix ist ein dynamisches Modell, das die zeitliche Entwicklung der Energiesysteme und deren Wechselwirkungen sowie Anpassungen und Investitionen in Energieinfrastruktur im Verlauf der Zeit berücksichtigt. Sowohl das POLES- als auch das AIM/CGE-Modell werden in der Regel als statische Modelle betrachtet, da eine zeitliche Dynamik der Energiesysteme nicht ausdrücklich modelliert wird. Es werden also Prognosen und Szenarien für einen bestimmten Zeitpunkt ohne detaillierte Modellierung der Veränderungen über die Zeit betrachtet. Mit diesen Unterschieden im Modelldesign lassen sich die abweichenden Entwicklungspfade und Trends bei diversen Szenarien in verschiedenen Modellen teilweise erklären. Im Jahr 2050 wird eine neue, nicht genauer spezifizierte Kerntechnologie eingeführt, die zu einem starken Anstieg ab 2060 führt. Darüber hinaus unterscheiden sich die Modelle auch bezüglich ihrer energiewirtschaftlichen, gesamtwirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen.infoAlexander Marx et al. (2023): Nuclear Bias in Forecasting Energy Mix?. Vortrag gehalten auf dem AT-OM Research Workshop on the Economics and Technology of Nuclear Power am 2. Juni an der Technischen Universität Berlin (online verfügbar).

Innovationen und wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit bleiben aus

Die sehr optimistischen Szenarien stehen im Widerspruch zu den realwirtschaftlichen Entwicklungen in der Atomwirtschaft. Während in den 1960/70er Jahren eine größere Anzahl von Kernkraftwerken gebaut wurden und heute weltweit gut 400 Reaktoren in Betrieb sind, hat sich weder die Hoffnung auf einen global steigenden Anteil an der Stromerzeugung bewahrheitet, noch gibt es Anzeichen dafür, dass nach mehreren gescheiterten Anläufen zur Diffusion des Plutonium-Brüters die aktuellen Projekte daran etwas ändern. Derzeit liegt der globale Anteil mithilfe von Atomenergie generierter Elektrizität unter zehn Prozent, mit fallender Tendenz. Somit bleibt das Atom-Szenarien-Paradox auch heute bestehen: Die aggregierten Atomstrommengen in den Langfristszenarien sind aufgrund dauerhaft fehlender Wettbewerbsfähigkeit, einer geringen Anzahl von Neubauten (Abbildung 6) und ausbleibender technischer Innovationen unplausibel.

Die seit den 1950er Jahren erhoffte Wettbewerbsfähigkeit von Atomstrom ist bis heute nicht eingetreten.infoRothwell (2022), a.a.O; Wimmers et al. (2023), a.a.O.; Dossier Atomkraft des DIW Berlin (online verfügbar); John Bistline et al. (2023): Modeling nuclear energy’s future role in decarbonized energy systems. iScience 26(2), 105952 (online verfügbar) und Luke Haywood et al. (2023): Why investing in new nuclear plants is bad for the climate. Joule 7(8), 1675–1678 (online verfügbar). Statt vormals fossiler Energieträger sind heute erneuerbare Energieträger, insbesondere Sonne und Wind, die mit Abstand kostengünstigsten Wettbewerber der Atomenergie. Aktuelle Berechnungen von durchschnittlichen Stromgestehungskosten bestätigen die strukturellen Kostennachteile der Atomenergie.infoFraunhofer ISE (2021): Stromgestehungskosten Erneuerbare Energien – Juli 2022 (online verfügbar). Die Investmentbank Lazard taxiert die Stromgestehungskosten von Atomenergie auf circa 18 US-Cent pro Kilowattstunde (2023), weit oberhalb von Solar- und Windenergie mit jeweils circa sechs beziehungsweise fünf US-Cent pro Kilowattstunde (2023).infoSiehe Lazard (2023): Lazard’s Levelized Cost of Energy+ Analysis Version 16 (online verfügbar). Auch bei Berücksichtigung der Kosten für die Integration fluktuierender erneuerbarer Erzeugung ergibt sich nur in etwa eine Verdoppelung der Stromgestehungskosten; bei Atomenergie sind ebenfalls keine Systemkosten (wie Reservekapazitäten, Rückbau oder Entsorgung) berücksichtigt.

Der erhoffte Neubauboom seit dem Jahr 2000 („Renaissance“) ist ebenfalls ausgeblieben. Derzeit wird global lediglich an circa 50 Neubauprojekten gearbeitet; dies entspräche einer Kapazität von circa 50 Gigawatt und damit 13 Prozent der im Jahr 2022 einsatzbereiten Kernkraftwerke, wenn sie ans Netz gingen.infoHierbei wird davon ausgegangen, dass es 2022 eine einsatzbereite Kapazität an Atomkraftwerken von 371 Gigawatt gegeben hätte. Allerdings sind 31 der 50 Projekte (teilweise erheblich) verspätet und – folgt man früheren Trends – werden einige davon in den kommenden Jahren gar nicht ans Netz gehen.infoMycle Schneider et al. (2022): World Nuclear Industry Status Report 2022. Mycle Schneider Consulting (online verfügbar).

Umgekehrt werden aufgrund der Altersstruktur eine große Anzahl an Kernkraftwerken in absehbarer Zeit vom Netz genommen. Bei einer geplanten Laufzeit von 40 Jahren würden bis 2030 von den 415 laufenden Reaktoren (370 Gigawatt) die Hälfte (207) vom Netz gehen. Folgt man einer im optimistischen Szenario angenommenen Steigerung der Zubaurate um 59 Prozent, wie etwa im IPCC-Sonderbericht zum 1,5-Grad-Ziel, müssten in den nächsten zehn Jahren mehr Kernkraftwerke gebaut werden, als aktuell überhaupt am Netz sind. Das ist unrealistisch.

Letztlich sind aus heutiger Sicht auch keine technologischen Durchbrüche abzusehen, auf die die Wachstumsszenarien der Atomenergie und der Durchbruch der Plutoniumwirtschaft beruhen. Diese Hoffnung bezieht sich insbesondere auf nicht leichtwassergekühlte Reaktorkonzepte, die in den 1940er Jahren entwickelt wurden, aber bis heute nicht den Weg in kommerzielle Anwendungen gefunden haben, geschweige denn auf dem Weg in eine industrieweite Diffusion sind.infoEdwin Lyman (2021): Advanced isn’t Always Better: Assessing the Safety, Security, and Environmental Impacts of Non-Light-Water Nuclear Reactors (online verfügbar); Christoph Pistner et al. (2023): Analyse und Bewertung des Entwicklungsstands, der Sicherheit und des regulatorischen Rahmens für sogenannte neuartige Reaktorkonzepte. Zwischenbericht zu AP-1 und -2 des Vorhabens 4721F50501 (online verfügbar).

Erklärungsansätze des Atomenergie-Szenarien-Paradox

Zur Erklärung des Atomenergie-Szenarien-Paradox bieten sich politökonomische, institutionelle und geopolitische Faktoren an.infoChristian von Hirschhausen (2023): Atomenergie – Geschichte und Zukunft einer riskanten Technologie. C.H. Beck. Ein wesentlicher Treiber der kommerziellen Atomenergieentwicklung ist die enge Verbindung zur militärischen Nutzung und die damit verbundene Notwendigkeit, nationale Innovations- beziehungsweise Produktionssysteme vorzuhalten, um Kernwaffen und Atom-U-Boote weiterentwickeln zu können.infoAndy Stirling und Phil Johnstone (2018): A Global Picture of Industrial Interdependencies Between Civil and Military Nuclear Infrastructures. SPRU Working Paper Series (online verfügbar); Kacper Szulecki und Indra Overland (2023): Russian nuclear energy diplomacy and its implications for energy security in the context of the war in Ukraine (online verfügbar). Hierfür wird das irreführende Narrativ einer sauberen, sicheren, verlässlichen und kostengünstigen Energieerzeugung aus Atomenergie verwendet, das jedoch unzutreffend ist. So ist auch der institutionelle Rahmen der globalen Governance-Strukturen in und um die Vereinten Nationen eng mit der Entwicklung der Atomwirtschaft verbunden, vor allem der IAEA. Sie wurde 1953 auf Druck des damaligen US-Präsidenten Dwight D. Eisenhower gegründet und ist zuständig für die Kontrolle von Spaltstoffen und für die Verbreitung der Technologie. Sie hat zur Rechtfertigung umfassender Aktivitäten von mehreren tausend Mitarbeiter*innen ein starkes Eigeninteresse an hohen Ausbauraten in Energieszenarien.infoFanny Böse et al. (2023): The Potential of Nuclear Power in the Context of Climate Change Mitigation—A Techno-Economic Reactor Technology Assessment (online verfügbar).

Die Omnipräsenz der Atomenergie im internationalen Institutionensystem färbt auch auf die Wissenschaft ab, die sich innerhalb des Dreiecks mit Politik und Industrie an der Entwicklung von Zukunftsszenarien beteiligt. Der in den 1980er Jahren bereits beobachtete Ansatz der zu optimistischen Bewertung der Atomenergie in Energiesystemmodellen, insbesondere zukünftiger Plutonium-Brutreaktoren, hat sich bis heute aufrechterhalten, wie oben für die jüngsten IPCC-Berichte gezeigt wurde. Im Gegensatz zu technoökonomischen Analysen von Kohle-, Erdgas- und Erdöltransformation nimmt die Atomwirtschaft lediglich eine Nischenposition in der internationalen Transformationsforschung ein, sodass oftmals einfachheitshalber Szenarien etablierter Organisationen als Orientierungspunkt gewählt und häufig nicht hinterfragt werden.

Dem stehen wirtschaftliche Misserfolge etablierter Industrieunternehmen (Siemens, Westinghosue, General Electric) beziehungsweise deren Verstaatlichung (Areva) gegenüber.infoFür Frankreich Julie Schweizer und Tamara L Mix (2021): It is a Tradition in the Nuclear Industry … Secrecy: Political Opportunity Structures and Nuclear Knowledge Production in France. Sociocogical Research Online (online verfügbar), für die USA: Peter Stoett (2003): Toward Renewed Legitimacy? Nuclear Power, Global Warming, and Secruity. Global Environmental Politics (online verfügbar) und für Russland: Pami Aalto (2017): Russian nuclear energy diplomacy in Finnland and Hungary. Eurasian Geography and Ecoomics (online verfügbar). Dennoch verbleibt weiterhin ein fokussiertes Interesse an zu optimistischen Zukunftsszenarien für die Atomenergie. Zusätzlich kommt seit circa dem Jahr 2000 Interesse aus der Start-up-Szene, die kerntechnische Forschung und Entwicklung durch private und öffentliche Gelder finanziert zu bekommen. In der Gründerszene herrscht die unrealistische Hoffnung, private Unternehmen hätten in der Atomwirtschaft dieselben Markteintrittsperspektiven wie in der Weltraumindustrie, wo sie den staatlichen Großeinrichtungen (insbesondere der NASA) große Marktanteile abnehmen konnten.infoMariana Mazzucato und Douglas K.R. Robinson (2018): Co-Creating and Directing Innovation Ecosystems? NASA’s Changing Approach to Public-Private Partnerships in Low-Earth Orbit. Technological Forecasting and Social Change 136, 166–177 (online verfügbar). Repräsentativ hierfür ist das von Bill Gates mitfinanzierte Industrieunternehmen TerraPower, das unter anderem den Bau eines Plutonium-Reaktors in den USA plant.infoVgl. die Website des Project (online verfügbar). Allerdings scheint das Vorgängerprojekt, der „Traveling Waver Reactor“, an dem seit über einer Dekade gearbeitet wurde, derzeit nicht mehr weiterverfolgt zu werden. Vgl. Pistner et al. (2023), a.a.O.

Fazit: Auswüchse des Atom-Szenarien-Paradox minimieren

Alle langfristigen Energie- und Klimaszenarien sind mit Unsicherheiten bezüglich zukünftiger soziotechnischer und klimapolitischer Entwicklungen behaftet. Dies liegt an der Nicht-Vorhersagbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen und damit der Zukunft, was die Konzeption von unterschiedlichen Szenarien zu einer notwendigen und etablierten Methode macht. Szenariobasierte quantitative Berechnungen zukünftiger Entwicklungen können für Nicht-Wissenschaftler*innen eine Illusion präzisen Wissens erzeugen und für Entscheidungsträger*innen zu falschen Schlussfolgerungen führen.infoRobert Pindyck (2017): The Use and Misuse of Models for Climate Policy. Review of Environmental Economics and Policy 11 (1) (online verfügbar). Daher sollten Annahmen und Modelllogik von Szenarioentwickler*innen explizit genannt und von Dritten geprüft werden, bevor daraus Politikmaßnahmen abgeleitet werden.

Die untersuchten Klimaszenarien bewerten die Entwicklung der Atomenergie jedoch weniger aufgrund von Unsicherheiten, sondern vielmehr wegen unplausibler Annahmen über Technologie und Kostenentwicklung als systematisch zu optimistisch. Die tatsächlichen technischen und wirtschaftlichen Entwicklungen der Industrie sahen hingegen anders aus. Dieses Phänomen kann als Atomenergie-Szenarien-Paradox bezeichnet werden und spielt sowohl in der Wissenschaft als auch der Politik eine erhebliche Rolle.

Da die optimistischen Szenarien der Vergangenheit nie Wirklichkeit geworden sind, sollte aus den Erfahrungen gelernt und zukünftige Szenarien kritisch hinterfragt werden. Um falsche Schlussfolgerungen und Politikmaßnahmen zu vermeiden, sollte die dargelegte systematische Wiederholung stark atomar geprägter Zukunftsszenarien einem Realitätscheck unterzogen werden. Erneut zeigen sich systematisch unplausible Annahmen bezüglich der technologischen Entwicklungen. Insbesondere bei angenommenen Kostendaten ergeben sich Differenzen zu tatsächlichen Erfahrungen.infoWimmers et al. (2023), a.a.O. Zusätzlich herrscht Unklarheit bezüglich der Integration von Systemkosten wie Rückbau, Entsorgung radioaktiver Abfälle, Absicherung gegen Unfallrisiken oder die Berücksichtigung von Proliferationsrisiken.

Eine transparente Offenlegung von Annahmen, Modellstruktur und -code stärkt die Möglichkeiten kritischer Prüfung. Da die Informationsasymmetrien zwischen Modellierenden und Nutzer*innen der Modelle nicht vollständig ausgeglichen werden können, ist es entscheidend, dass Forscher*innen die Grenzen ihrer Szenarien offen kommunizieren und Nutzer*innen eine Fähigkeit, Szenarien und ihre Annahmen kritisch zu hinterfragen und Implikationen zu interpretieren, entwickeln.

Bei der zweckoptimistischen Darstellung der Bedeutung von Atomenergie für den Klimaschutz besteht auch die Gefahr, öffentliche und private Gelder in die Entwicklung dieser Technologien zu investieren, obwohl von anderen Technologien, insbesondere den erneuerbaren Energien, ein wesentlich besseres Kosten-Leistungsverhältnis zu erwarten ist.

Claudia Kemfert

Abteilungsleiterin in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt



JEL-Classification: L51;L94;Q48
Keywords: nuclear power, scenarios, climate policy, plutonium
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2023-44-1

Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/280706

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