Geflüchteten Leistungen kürzen? Der Schaden für die Integration, Wirtschaft und Gesellschaft wären enorm

Blog Marcel Fratzscher vom 31. Oktober 2023

Der Vorschlag, Geflüchteten Leistungen zu kürzen, um die Zuwanderung zu reduzieren, ist einer der schlechtesten und schädlichsten, die seit langer Zeit gemacht wurden.

Finanzminister Christian Lindner und Justizminister Marco Buschmann haben am Sonntag eine Kürzung der Leistungen für Geflüchtete gefordert, um die Zuwanderung zu reduzieren – so wie auch andere Politiker*innen in den letzten Wochen. Aber ist das wirklich eine gute Idee? Wissenschaftliche Studien zeigen, dass eine Kürzung der Leistungen nur sehr wenige Menschen, wenn überhaupt, davon abhalten würde, nach Deutschland zu kommen. Gleichzeitig wäre der Schaden für die Integration von Geflüchteten und damit für Wirtschaft und Gesellschaft enorm. Eine solche Kürzung ist daher einer der schlechtesten und schädlichsten Vorschläge, die seit langer Zeit gemacht wurden.

Dieser Gastbeitrag erschien am 31. Oktober 2023 im Tagesspiegel.

Was würde passieren, wenn in Deutschland die Leistungen für Migrant*innen gekürzt würden? Die Behauptung hält sich hartnäckig, dass ein erheblicher Anteil der Geflüchteten nur deshalb nach Deutschland kommt, weil hier die Leistungen – Wohnungen, Gesundheitsvorsorge, Grundversorgung und Geld – großzügig sind und es attraktiver ist, in Deutschland als in ihrem Heimatland zu leben. Ergo: Weniger Leistungen reduzieren den Zufluss von Migrant*innen, entlasten den Sozialstaat und helfen, die Überforderung der Kommunen zu lösen. Ein Blick auf die wissenschaftliche Literatur zeigt, dass dies ein gefährlicher Irrglaube ist.

Der größte Teil der wissenschaftlichen Literatur stellt meist keinen Effekt von Veränderungen sozialer Leistungen auf die irreguläre Zuwanderung fest. Es gibt jedoch wichtige Ausnahmen, und zu diesen gehört eine Studie von drei Ökonom*innen der US-amerikanischen Princeton University aus dem Jahr 2019. Die Verfechter*innen der Kürzung sozialer Leistungen haben in den letzten Tagen auf diese Studie verwiesen, die eine recht radikale Kürzung von Leistungen um 50 Prozent im Juni 2002 in Dänemark untersucht. Damals kam eine konservative Regierung an die Macht, die sich kurzerhand entschloss, die Leistungen für Migrant*innen stark zu kürzen. Die genannte Studie ergibt, dass diese Kürzung die Zuwanderung um 3,7 Prozent oder 5000 Menschen reduziert hatte.

Dies ist ein Resultat, an das sich manche Befürworter*innen in Deutschland klammern, um zu belegen, dass Kürzungen durchaus effektiv sind. Einige haben diese Studie kritisiert, da sie wichtige Push-Faktoren – etwa die Fluchtursachen in den Heimatländern – und andere Faktoren ignoriert. Da heute bei weitem die meisten Geflüchteten aus der Ukraine nach Deutschland kommen, lässt sich bezweifeln, dass sie wirklich nicht wegen des Krieges, sondern wegen der Sozialleistungen gekommen sind. Aber auch wenn man den Effekt in Höhe von 3,7 Prozent für Deutschland als realistisch betrachtet, so wäre dies lediglich ein sehr kleiner Rückgang der Zuwanderung – bei 3,1 Millionen Schutzsuchenden, die heute in Deutschland leben.

Negative Effekte für Beschäftigung und Bildungschancen der Geflüchteten

Der wirklich fatale und schwerwiegende Fehler derer, die laut nach der Kürzung sozialer Leistungen für Geflüchtete rufen, ist jedoch, dass sie alle anderen Auswirkungen einer solchen Politik ignorieren. So gibt es zahlreiche Studien, unter anderem auch eine von drei Forschern aus London und Kopenhagen, die die Auswirkungen der gleichen Reform in Dänemark 2002 auf die bereits im Land lebenden Geflüchteten und deren Integration analysieren. Diese Studie findet einen katastrophal negativen Effekt der Kürzung sozialer Leistungen für Beschäftigung, Armut, Kriminalität und Bildungschancen der Geflüchteten.

Die Kürzung der Sozialleistungen in Dänemark 2002 erhöhte kurzfristig die Beschäftigung von geflüchteten Männern um neun Prozentpunkte, die Beschäftigung von geflüchteten Frauen ging jedoch in ähnlicher Größenordnung zurück. Der Grund: Das infolge der Leistungskürzungen geringere Einkommen zwang mehr Männer schnell in Beschäftigung, hatte jedoch den umgekehrten Effekt auf Frauen, da diese fortan oft keinen Anspruch mehr auf Leistungen hatten und dadurch beispielsweise auch seltener Integrations- und Sprachkurse besuchten, die für eine Berufstätigkeit wichtig sind. Langfristig verloren auch einige der Männer, die kurzfristig Arbeit gefunden hatten, ihren Job häufig wieder, da sie sich wegen der frühzeitigen Arbeitsaufnahme langfristig wichtige Qualifikationen nicht aneignen konnten.

Die Kürzung der Sozialleistungen erhöhte das Armutsproblem unter vielen geflüchteten Familien in Dänemark erheblich, da deren Nettoeinkommen um durchschnittlich 40 Prozent zurückgingen. Dies verschlechterte nicht nur die soziale Teilhabe und Gesundheit, sondern erhöhte auch die Armutskriminalität. Die Studie zeigt, dass dies nicht mit der Ethnizität oder Religion der Menschen zusammenhing, sondern mit deren Armut. Also nicht Herkunft, Hautfarbe oder Religion verursachen Kriminalität, sondern Armut und fehlende Teilhabe.

Integration würde deutlich verschlechtert

Ein weiterer Schaden durch die Kürzung sozialer Leistungen entstand der Studie für Dänemark zufolge durch deutlich geringere Bildungschancen und Bildungserfolge für geflüchtete Kinder. Auch hierdurch ist der langfristige Schaden für die Betroffenen, gerade für die Kinder, aber auch für Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes, erheblich.

Das Fazit der wissenschaftlichen Studien ist daher: Die Kürzung sozialer Leistungen für Geflüchtete ist die schlechteste Politik, die ein Staat umsetzen kann, weil sie nicht nur wenig effektiv als Abschreckung für potenzielle Migrant*innen ist, sondern die Integration der Menschen im Land deutlich verschlechtert.

In anderen Worten: Ist es die höchstens geringfügige Abnahme der Zuwanderung wert, die Integrationschancen für 3,1 Millionen Schutzsuchende in Deutschland zu verschlechtern und vor allem die Zukunftschancen vieler Kinder weiter zu verschlechtern? Sind wir gewillt, auch für Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes einen so erheblichen Schaden in Kauf zu nehmen? Dies sind rhetorische Fragen, die auch die stärksten Gegner der Zuwanderung unmöglich bejahen können.

Wir brauchen dringend eine Versachlichung der populistischen Debatte um Zuwanderung. Es gibt keine leichten Lösungen. Die Kürzung von Leistungen, verstärkte Abschiebungen und Grenzkontrollen werden selbst mit den größten Anstrengungen die Zahl der Geflüchteten nach Deutschland nur geringfügig reduzieren – die Kosten für die über drei Millionen Geflüchteten in Deutschland wären jedoch dramatisch. Die Politik und allen voran die demokratischen Parteien sollten alle ihre Anstrengungen auf die Verbesserung der Integration der Menschen konzentrieren – Qualifikation, Ausbildung, größere Teilhabe für Frauen, bessere Betreuung für Kinder, klare Zukunftsperspektiven – und nicht durch populistische Parolen versuchen, auf Stimmenfang zu gehen.

Themen: Migration

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