DIW Wochenbericht 45 / 2023, S. 634
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Finanzminister Christian Lindner und Justizminister Marco Buschmann haben eine Kürzung der Leistungen für Geflüchtete gefordert, um die Zuwanderung zu reduzieren – so wie auch andere Politiker*innen in den letzten Wochen. Aber ist das wirklich eine gute Idee? Nein, ganz im Gegenteil, wie internationale Studien zeigen. Eine solche Kürzung ist einer der schlechtesten und schädlichsten Vorschläge, die seit langer Zeit gemacht wurden.
Die Behauptung hält sich hartnäckig, dass ein erheblicher Anteil der Geflüchteten nur deshalb nach Deutschland komme, weil hier die Leistungen – Wohnungen, Gesundheitsvorsorge, Grundversorgung und Geld – so großzügig seien. Ergo: Kürzt man diese Leistungen, werde der Zufluss von Migrant*innen kleiner. Doch das ist ein gefährlicher Irrglaube: Der größte Teil der wissenschaftlichen Literatur stellt meist keinen Effekt von Veränderungen sozialer Leistungen auf die irreguläre Zuwanderung fest. Es gibt jedoch wichtige Ausnahmen, und zu diesen gehört eine Studie von drei Ökonom*innen der US-amerikanischen Princeton University aus dem Jahr 2019. Die Verfechter*innen der Kürzung sozialer Leistungen haben zuletzt auf diese Studie verwiesen, die eine recht radikale Kürzung von Leistungen um 50 Prozent im Juni 2002 in Dänemark untersucht. Demnach hatte diese Kürzung die Zuwanderung um 3,7 Prozent oder 5 000 Menschen reduziert. Kritik an der Studie wurde aber auch mit Blick darauf laut, dass sie wichtige Push-Faktoren – etwa die Fluchtursachen in den Heimatländern – und andere Faktoren ignoriere. Die bei weitem meisten Geflüchteten kommen heute aus der Ukraine nach Deutschland. Es darf stark bezweifelt werden, dass diese nur wegen der Sozialleistungen hier sind und nicht wegen des Krieges in ihrer Heimat. Und selbst wenn man den Effekt in Höhe von 3,7 Prozent für Deutschland als realistisch betrachtet, so wäre dies angesichts von insgesamt 3,1 Millionen Schutzsuchenden, die heute bei uns leben, lediglich ein sehr kleiner Rückgang der Zuwanderung.
Hinzu kommt: Alle anderen Auswirkungen einer solchen Politik werden ausgeblendet. Zahlreiche Studien, unter anderem auch eine von drei Forschern aus London und Kopenhagen, analysieren die Auswirkungen der selben Reform in Dänemark 2002 auf die bereits im Land lebenden Geflüchteten und deren Integration. Sie stellt einen katastrophal negativen Effekt der Kürzung sozialer Leistungen auf Beschäftigung, Armut, Kriminalität und Bildungschancen der Geflüchteten fest. So brachte die Reform zwar beispielsweise mehr Männer kurzzeitig in Jobs, schadete den Erwerbschancen letztlich aber trotzdem oftmals, weil weniger Zeit für die Aneignung langfristig wichtiger Qualifikationen blieb. Die Kürzung der Sozialleistungen erhöhte das Armutsproblem vieler geflüchteter Familien in Dänemark erheblich, da deren Nettoeinkommen um durchschnittlich 40 Prozent zurückgingen. Dies verschlechterte nicht nur die soziale Teilhabe und Gesundheit, sondern erhöhte auch die Armutskriminalität. Die Studie zeigt, dass dies nicht mit der Ethnizität oder Religion der Menschen zusammenhing, sondern mit deren Armut. Also nicht Herkunft, Hautfarbe oder Religion verursachen Kriminalität, sondern Armut und fehlende Teilhabe. Auch Bildungschancen und Bildungserfolge geflüchteter Kinder reduzierten sich deutlich – mit erheblichen Folgen nicht nur für die Betroffenen selbst, sondern für Wirtschaft und Gesellschaft als Ganzes.
Leistungskürzungen für Geflüchtete wären also die schlechteste Politik, die ein Staat umsetzen kann, weil sie potentielle Migrant*innen kaum abschreckt und gleichzeitig die Integration der Menschen im Land deutlich verschlechtert. Wir brauchen dringend eine Versachlichung der populistischen Debatte um Zuwanderung. Einfache Lösungen gibt es nicht. Die Politik sollte ihre Anstrengungen darauf konzentrieren, die Integration der Menschen zu verbessern. Qualifikation, Ausbildung, größere Teilhabe für Frauen, bessere Betreuung für Kinder und klare Zukunftsperspektiven sind nur wenige von vielen möglichen Ansatzpunkten.
Dieser Kommentar ist in einer längeren Version am 1. November 2023 im Tagesspiegel erschienen.
Themen: Migration
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2023-45-3
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/280709