Direkt zum Inhalt

Wie die Arbeitsanreize für Geringverdienende erhöht werden könnten: Kommentar

DIW Wochenbericht 48 / 2023, S. 682

Peter Haan, Johannes Geyer

get_appDownload (PDF  130 KB)

get_appGesamtausgabe/ Whole Issue (PDF  3.84 MB - barrierefrei / universal access)

Kaum wurde der Regelsatz für das Bürgergeld erhöht, gab es die erwartbaren Reaktionen: Der Lohnabstand sei nicht mehr gewahrt, es werde zu wenig sanktioniert und überhaupt gäbe es zu wenig Mitwirkungspflichten. Auch die Forderung, Bürgergeldempfänger*innen zu gemeinnütziger Arbeit zu verpflichten, ließ nicht lange auf sich warten. Wie sich solche lautstark vorgetragene Forderungen in der Realität auswirken würden, dazu gibt es allerdings kaum empirisch fundierte Erkenntnisse. Die Wirklichkeit ist nämlich, auch was die Ausgestaltung der Grundsicherungsleistungen betrifft, wesentlich komplizierter, als die schrille Debatte suggeriert. Sachliche Beiträge, die es durchaus gibt, haben da Schwierigkeiten, Gehör zu finden. Insbesondere ein Aspekt wird bisher wenig beleuchtet und würde mehr Aufmerksamkeit verdienen: Das Lohnabstandsgebot hat, abhängig von der konkreten Höhe des Stundenlohns, ganz unterschiedliche Implikationen. Das Existenzminimum und auch andere Transfers wie das Wohngeld orientieren sich zunächst nicht am Stundenlohn, sondern am Bedarf der Haushalte und damit am Einkommen. Das ist auch richtig, da ein Mindestniveau abgesichert werden soll. Allerdings müssen Geringverdienende deutlich mehr arbeiten, um das Mindestniveau zu erreichen als Gutverdienende – und das häufig auch noch in schlechteren Jobs, wenn man die Arbeitsbedingungen betrachtet.

Daher ist es gerade wichtig, die monetären Arbeitsanreize von Geringverdienenden zu erhöhen. Eine große Hürde bei den Arbeitsanreizen für Geringverdienende stellen dabei die Abgaben für die Sozialversicherung dar. Diese Beiträge werden bis zur Beitragsbemessungsgrenze im Prinzip von allen Versicherten mit dem gleichen Prozentsatz geleistet. Nur im Übergangsbereich gibt es einen bestimmten Einkommenskorridor mit größeren Entlastungen. Der Lohnabstand für Personen mit niedrigen Stundenlöhnen und damit verbunden der Arbeitsanreiz könnten erheblich erhöht werden, indem die Sozialversicherungsbeiträge für diese Gruppe weiter reduziert würden.

Derzeit werden Sozialversicherungsbeiträge durch Minijobs subventioniert. Einkommen unter 520 Euro sind von der Steuer und den Sozialversicherungsbeiträgen der Beschäftigten befreit beziehungsweise Beschäftigte können sich von den Beiträgen zur Rentenversicherung befreien lassen. Dabei spielt es keine Rolle, ob die Einkommen durch geringe Löhne und viele Stunden oder hohe Löhne und wenige Stunden entstehen. Der Lohnabstand für Personen mit niedrigen Stundenlöhnen würde sich deutlich erhöhen, wenn sich die Subventionen nicht am Einkommen, sondern direkt an den Stundenlöhnen orientierten. Minijobs könnten dann abgeschafft und auch der Übergangsbereich neugestaltet werden. Die dadurch freiwerdenden Mittel sollten genutzt werden, um die Subventionen bei geringen Löhnen nicht nur bis 520 Euro zu zahlen, sondern auch für eine Beschäftigung in Vollzeit. Das würde den Lohnabstand zum Bürgergeld und die Anreize für eine Vollzeitbeschäftigung deutlich steigern.

Diese Reform wäre substanziell und würde den Arbeitsanreiz unabhängig vom Bürgergeld erhöhen. Allerdings hat dieser Vorschlag bisher ein gravierendes Problem: Es liegen keine verlässlichen Informationen zu den geleisteten Arbeitsstunden vor, die die Sozialpolitik nutzen könnte. Eine belastbare Erfassung der Arbeitsstunden wurde bereits häufig angemahnt, sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in der politischen Debatte – unter anderem, um Missbrauch beim Mindestlohn zu verhindern. Im Rahmen des 2019 getroffenen Urteils des Europäischen Gerichtshofs sind die Arbeitgeber nach dem Arbeitsschutzgesetz verpflichtet, ein System einzuführen, mit dem die von den Beschäftigten geleistete Arbeitszeit erfasst werden kann. Bislang wurde dies vom deutschen Gesetzgeber jedoch nicht in nationales Recht überführt. Das Bundesarbeitsgericht hat im September 2022 festgestellt, dass in Deutschland die gesamte Arbeitszeit der Arbeitnehmer*innen aufzuzeichnen ist. Damit soll garantiert werden, dass Ruhezeiten eingehalten und Überstunden erfasst werden. Für diesen wichtigen Schritt gibt es also mindestens einen weiteren Grund: Er würde auch eine zielgerechte Sozialpolitik unterstützen.

Dieser Kommentar ist in einer längeren Version – und mit Wolfgang Schroeder von der Universität Kassel als drittem Autor – am 27. November 2023 im Tagesspiegel erschienen.

Johannes Geyer

Stellvertretender Abteilungsleiter in der Abteilung Staat

Peter Haan

Abteilungsleiter in der Abteilung Staat

keyboard_arrow_up