DIW Wochenbericht 1/2 / 2024, S. 20
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Zwei von drei Deutschen finden die Schuldenbremse gut und wollen an ihr festhalten – so eine neue Umfrage im Auftrag des „Spiegels“. Es gibt wohl kaum eine Gesellschaft, in der so tief in der Psyche verankert ist, dass Sparen gut ist und Schulden schlecht sind. Die Obsession beim Sparen könnte Deutschland jedoch die Zukunft kosten, denn kluge Schulden heute sind der Wohlstand von morgen. Wir müssen mit grundlegenden Missverständnissen zu Sparen und Schulden in Deutschland aufräumen.
Von klein auf wird Kindern in Deutschland beigebracht, Sparen sei uneingeschränkt gut. Das politisch inkorrekte Bild der schwäbischen Hausfrau wird auch von Finanzministern gerne zitiert: Man müsse erst Geld erwirtschaften und sparen, bevor es ausgegeben werden könne. Daher trifft die Kritik von Opposition und Medien an der Bundesregierung für ihre Ausgabenpolitik auf so starke Resonanz und könnte Deutschland in eine tiefe politische Krise stürzen.
Der öffentliche Diskurs in Deutschland ist von drei grundlegenden Widersprüchen geprägt. Zum einen gibt es kein Land in der Welt, das jedes Jahr mehr Ersparnisse anhäuft. Was in den Statistiken als Leistungsbilanz beschrieben wird, zeigt, dass Deutschland seit 2005 meist mehr als 200 Milliarden Euro jährlich an Nettoersparnissen aufgebaut und ins Ausland verliehen hat. So hat Deutschland mittlerweile 2500 Milliarden Euro mehr an Ersparnissen im Ausland – Direktinvestitionen, Kredite oder Finanzanlagen – als das Ausland in Deutschland. Das Problem: Deutsche Sparer*innen und Investor*innen haben diese häufig nicht sehr klug angelegt und immer wieder viel Geld im Ausland verloren. Es wäre in vielen Fällen sehr viel klüger, Gelder in Deutschland zu investieren.
Ein zweiter Grund betrifft die Frage, wofür die Schulden aufgenommen wurden. Das Problem heute sind nicht vermeintlich hohe Staatsschulden – Deutschland hat eine der geringsten Schuldenquoten aller großen Industrieländer –, sondern ihre unproduktive Nutzung. So waren die Nettoinvestitionen des deutschen Staates in den vergangenen 20 Jahren stets negativ. Öffentliche Vermögenswerte wie Straßen, Brücken, Schulen, Beteiligungen und andere Finanzvermögen sind geschrumpft.
Und genau hier liegt das Problem mit der Schuldenbremse. Sie ist blind, wenn es darum geht, wofür der Staat sein Geld ausgibt. Sie behandelt Investitionen genauso wie öffentlichen Konsum oder staatliche Subventionen. Der Widerspruch im öffentlichen Diskurs liegt darin, dass Unternehmen und Bürger*innen sich über zu hohe Schulden und eine schlechte Infrastruktur beklagen, aber gleichzeitig auch weniger Steuern und Abgaben zahlen wollen. Wir müssen uns entscheiden, worauf wir unsere Prioritäten legen wollen – mehr Ausgaben mit geringeren Schulden und weniger Steuern sind logisch unvereinbar.
Dies führt zum dritten Widerspruch. Zu oft heißt es, wir könnten uns keine Schulden leisten, weil dies zulasten künftiger Generationen ginge. Aber was wollen junge Menschen und künftige Generationen für ihre Zukunft? Aus Umfragen wissen wir, dass jungen Menschen eine intakte Umwelt, gute Arbeitsplätze, Freiheit, ein gutes Bildungssystem, eine leistungsfähige Daseinsfürsorge, sozialer und geopolitischer Frieden wichtig sind. Und genau dafür sind staatliche Investitionen heute dringender denn je.
Gerade der deutsche Staat hat mit seinem Sparkurs der Zukunftsfähigkeit des Landes geschadet und lebt nach wie vor von seiner Substanz. Dabei sind manche (nicht alle!) Schulden heute die Voraussetzung für einen schnelleren Abbau von Schulden in der Zukunft: Für jede 100 Euro, die der Staat heute in Bildung investiert, erhält er langfristig 200 bis 300 Euro durch höhere Steuereinnahmen zurück.
Wir brauchen dringend ein Umdenken. Kluge Schulden heute – ausgegeben für Investitionen in Bildung, Infrastruktur und Innovation – sind gute Schulden, weil sie die Grundlage des Wohlstands von morgen sind. Die Schuldenbremse darf nicht länger als Alibi für das Scheitern kluger Zukunftspolitik missbraucht werden.
Der Beitrag ist am 20. Dezember 2023 im Handelsblatt erschienen.
Themen: Öffentliche Finanzen