DIW Wochenbericht 7 / 2024, S. 95-103
Johannes Geyer, Peter Haan, Mia Teschner
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„Frauen arbeiten oft weniger Stunden und verdienen häufig weniger als ihre Partner, weshalb dann öfter Frauen als Männer für die Pflege von Angehörigen ihre Arbeitszeit reduzieren oder die Erwerbstätigkeit ganz aufgeben. Hinzu kommen soziale Normen.“ Mia Teschner
In vielen europäischen Ländern zeigen sich erhebliche geschlechtsspezifische Unterschiede in der informellen Pflege von Angehörigen: Frauen pflegen Familienmitglieder wesentlich öfter als Männer. Der Unterschied in der Pflege zwischen den Geschlechtern, der Gender Care Gap, variiert stark zwischen den europäischen Ländern. Deutschland befindet sich im Mittelfeld. Dieser Wochenbericht analysiert länderübergreifend, welche institutionellen, gesellschaftlichen und arbeitsmarktspezifischen Faktoren in einem Zusammenhang mit dem Gender Care Gap in der Pflege stehen. Die Ergebnisse zeigen, dass der Gender Care Gap in Ländern kleiner ist, in denen mehr für das formelle Pflegesystem ausgegeben wird. Auch zeigen die Ergebnisse, dass in Ländern mit einer generell größeren Geschlechterungleichheit und einer stärkeren Ungleichheit in der Erwerbsbeteiligung zwischen Männern und Frauen tendenziell auch der Gender Care Gap größer ist. Die Ergebnisse unterstreichen damit, dass die Geschlechterungleichheiten in der informellen Pflege mit Ausgaben im Gesundheitswesen, dem Pflegesystem und der Struktur des Arbeitsmarktes zusammenhängen.
Um den Gender Care Gap zu reduzieren, sollten die Ausgaben für formelle Pflege erhöht werden, um pflegende Angehörige zu entlasten und die Qualität von Pflege in Einrichtungen zu erhöhen. Gleichzeitig sollte die Politik mit steuerlichen und familienpolitischen Anreizen die Erwerbsbeteiligung von Frauen stärken, damit sich die Erwerbs- und Sorgearbeit im Haushalt gleichmäßiger verteilt.
Eine der zentralen Zukunftsherausforderungen für die Sozial- und Gesundheitspolitik ist die steigende Zahl der pflegebedürftigen Personen im Zuge der Alterung der Gesellschaft. In Deutschland beziehen derzeit etwa fünf Millionen Personen Leistungen der Pflegeversicherung. Nach aktueller Vorausschätzung muss mit einem weiteren Anstieg in den kommenden Jahrzehnten gerechnet werden.In einer aktuellen Vorausschätzung berichtet das Statistische Bundesamt, dass die Zahl der Leistungsempfangenden bis zum Jahr 2055, bei konstanten Pflegequoten, auf 6,8 Millionen ansteigt. Sollte sich der Trend ansteigender Pflegequoten fortsetzen, werden es noch deutlich mehr. Statistisches Bundesamt (2023): Statistischer Bericht – Pflegevorausberechnung – Deutschland und Bundesländer (online verfügbar, abgerufen am 13. Dezember 2023, dies gilt auch für weitere Onlinequellen, soweit nicht anders vermerkt). Der größte Teil aller Pflegebedürftigen (83 Prozent) wird zuhause gepflegt. Knapp 14 Prozent dieser Personen sind in Pflegegrad I eingestuft („geringe Beeinträchtigung der Selbstständigkeit“) und erhalten nur wenige zusätzliche Leistungen der Pflegeversicherung. Etwa 60 Prozent dieser Personen erhalten ausschließlich Pflegegeld, organisieren die Pflege also informell, ohne professionelle Hilfe.Statistisches Bundesamt (2021): Pflegestatistik – Pflege im Rahmen der Pflegeversicherung. (online verfügbar). Die anderen 25 Prozent der Pflegebedürftigen im eigenen Haushalt organisieren die Pflege mit Hilfe ambulanter Pflege- und Betreuungsdienste, wobei das meist auch informelle Pflege seitens der Angehörigen einschließt.
Die häusliche Pflege, insbesondere ohne professionelle Hilfe, ist zeitaufwendig und führt häufig dazu, dass die pflegenden Angehörigen ihre Erwerbsarbeit reduzieren, komplett aufgeben oder nicht mehr nach Erwerbsarbeit suchen. Wie auch bei der Kinderbetreuung sind es vor allem Frauen, die informelle Pflege leisten und dafür ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen oder zurückstellen.Johannes Geyer et al. (2023): Long-term Care in Germany. NBER Working Paper No. 31870 (online verfügbar). Der Geschlechterunterschied bei der Übernahme informeller Pflege von Angehörigen zwischen Männern und Frauen wird in Anlehnung an den Gender Pay Gap als Gender Care Gap in der PflegeDiese Abgrenzung umfasst nicht andere unbezahlte Sorgearbeit, wie die Betreuung von Kindern oder Hausarbeit, und unterscheidet sich daher von anderen Definitionen des Gender Care Gaps. Siehe hierzu auch den DIW-Glossar zum Gender Care Gap (online verfügbar)., im Folgenden Gender Care Gap bezeichnet.Das starke Engagement von Frauen in der Pflege spiegelt sich auch im formellen Pflegesektor wider. Nach Auswertungen der OECD liegt der Anteil von Frauen in der professionellen Langzeitpflege in OECD-Ländern im Durchschnitt bei rund 90 Prozent. Dies umfasst häufig Jobs mit schlechten Arbeitsbedingungen und vergleichsweise geringen Löhnen. Vgl. OECD (2019): Women are well-represented in health and long-term care professions, but often in jobs with poor working conditions (online verfügbar).
Der Gender Care Gap ist ein wesentlicher Faktor für Ungleichheit in der Erwerbstätigkeit und im Einkommen von Männern und Frauen.Clara Schäper, Annekatrin Schrenker und Katharina Wrohlich (2023): Gender Pay Gap und Gender Care Gap steigen bis zur Mitte des Lebens stark an. DIW Wochenbericht Nr. 9, 99–105 (online verfügbar, abgerufen am 30. Januar 2024). Das betrifft nicht nur die laufenden Einkommensmöglichkeiten, sondern auch die Höhe der Rentenansprüche, da diese direkt vom versicherten Erwerbseinkommen abhängen.Bei informeller Pflege von Personen, die noch nicht vollständig in Rente gegangen sind, werden inzwischen Rentenansprüche gutgeschrieben und diese Zeiten zählen auch als Pflichtversicherungszeiten. Ende 2021 betraf dies knapp eine Million Versicherte, davon waren 86 Prozent Frauen. Hierbei hängen die Unterschiede in der Höhe der Rentenansprüche zwischen Frauen und Männern häufig mit geschlechtsspezifischen Unterschieden in der Erwerbsbiografie zusammen.Anna Hammerschmid und Carla Rowold (2019): Gender Pension Gaps in Europa hängen eindeutiger mit Arbeitsmärkten als mit Rentensystemen zusammen. DIW Wochenbericht Nr. 25, 439–447 (online verfügbar, abgerufen am 30. Januar 2024).
Die überdurchschnittlich oft von Frauen übernommene Pflege von Angehörigen wird häufig mit geschlechtsspezifischen Unterschieden auf dem Arbeitsmarkt erklärt: Frauen verdienen oft weniger und arbeiten weniger Stunden als ihre Partner, so dass eine Reduktion oder Aufgabe ihrer Beschäftigung für die Pflege das Haushaltseinkommen in geringerem Maße reduziert, als wenn der Partner seine Erwerbstätigkeit einschränken würde. Ein weiterer Faktor, der zu einem Gender Care Gap beiträgt, sind soziale Normen, die die Pflegetätigkeit eher als Aufgabe von Frauen betrachten. Zudem können die Gründe für die Unterschiede in der privat bereitgestellten Pflege zwischen Frauen und Männern auch im zugrundeliegenden Pflegesystem liegen. So kann ein starker Wohlfahrtsstaat mit hohen Ausgaben für formelle Pflegeangebote, wie ambulante Pflegedienste, Tagesbetreuung oder stationäre Pflegeheime, die geschlechtsspezifischen Ungleichheiten in der informellen Pflege abmildern, da generell weniger informelle Pflege geleistet werden muss.
In diesem Wochenbericht wird untersucht, wie sich der Gender Care Gap in Deutschland von anderen europäischen Ländern unterscheidet.Der Wochenbericht ist Teil des Forschungsprojektes PENSINEQ, das über die Joint Project Initiative „JPI: More Years Better Lives“ (JPI-MYBL) gefördert wird. Dabei wird auch gezeigt, wie der Gender Care Gap mit den staatlichen Ausgaben für Pflege und der Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in der Gesellschaft und auf dem Arbeitsmarkt zusammenhängt. Die Analyse nutzt die Daten des Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE), die Menschen ab einem Alter von 50 Jahren in 17 europäischen Ländern repräsentativ abbilden. Neben zentralen sozio-demographischen Indikatoren enthalten die Daten detaillierte Informationen zu geleisteter informeller Pflege (Kasten).Axel Börsch-Supan (2022): Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE) Wave 6. Release version: 8.0.0. SHARE-ERIC. Data set. DOI: 10.6103/SHARE.w6.800 (online verfügbar, abgerufen am 7. Dezember 2023).
Dieser Bericht basiert auf Welle 6 (Erhebungsjahr 2015) des Survey of Health, Ageing and Retirement in Europe (SHARE).Axel Börsch-Supan (2022), a.a.O. Dieser Bericht verwendet Daten aus dem Erhebungsjahr 2015, da die darauffolgenden Erhebungsjahre aus methodischen Gründen nicht für diesen Bericht geeignet sind. Die Stichprobe ist auf Befragte im Alter von mindestens 50 Jahren beschränkt.Rund 98 Prozent der Befragten im SHARE (Welle 6) sind 50 Jahre oder älter. Diese Einschränkung dient dazu, in dieser Studie die Pflege als Unterstützung für langfristig pflegebedürftige Personen zu untersuchen und von der elterlichen Versorgung kleiner Kinder abzugrenzen.
Als Pflege wird in dieser Studie ausschließlich persönliche Pflege (beispielsweise Hilfe beim Anziehen, Baden oder Duschen, Essen, ins Bett legen oder aufstehen, Benutzen der Toilette) außerhalb des eigenen Haushalts und innerhalb der letzten zwölf Monate vor Befragung betrachtet. Pflege innerhalb des eigenen Haushalts wird hierbei nicht berücksichtigt, da in der zugrundeliegenden Datenbasis die beiden Formen der Pflege unterschiedlich erfasst werden und daher nicht vergleichbar sind.Die Erfassung von Pflege außerhalb des eigenen Haushalts umfasst Hilfe bei persönlicher Pflege innerhalb der letzten zwölf Monate unabhängig von der Häufigkeit, während Pflege innerhalb des eigenen Haushalts nur regelmäßige Pflege (täglich oder fast täglich in den letzten drei Monaten) einschließt. Pflege von im Haushalt lebenden Partner*innen wird demnach nicht erfasst. Andere Hilfstätigkeiten als persönliche Pflege für Angehörige oder Bekannte, wie etwa Unterstützung bei Gartenarbeiten oder Behördenangelegenheiten, werden ebenfalls nicht erfasst. Damit wird zum einen Pflege klar als Unterstützung für eine andere Person definiert und zum anderen eine Vergleichbarkeit mit alternativen formellen Pflegeangeboten, wie etwa die Versorgung durch einen ambulanten Pflegedienst, gewährleistet. Der Gender Care Gap wird in der Literatur häufig auf Basis von Stunden berechnet, die täglich für Pflege Angehöriger aufgewendet werden.Nina Klünder (2017): Differenzierte Ermittlung des Gender Care Gap auf Basis der repräsentativen Zeitverwendungsdaten 2012/13. Berlin. Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e.V., Geschäftsstelle Zweiter Gleichstellungsbericht der Bundesregierung. DOI: https://doi.org/10.25595/1368. In der hier zugrundeliegenden Datenbasis sind keine Informationen zur täglichen Zeitverwendung (Stunden) für persönliche Pflege vorhanden. Diese Studie misst demnach, ob die befragte Person angibt, persönliche Pflege für Angehörige (außerhalb des eigenen Haushalts) zu leisten. Darüber hinaus wird in den SHARE-Daten erfasst, ob persönliche Pflege täglich, wöchentlich oder seltener geleistet wird.
Der Gender Care Gap stellt in dieser Studie die relative Differenz zwischen den Anteilen pflegender Frauen und Männer dar. Im ersten Schritt werden über länderspezifische, querschnittsgewichtete Regressionen jeweils die absoluten Differenzen in den Anteilen pflegender Personen zwischen Frauen und Männern unter Berücksichtigung des Alters und der Bildung berechnet. Diese werden im Anschluss durch den länderspezifischen, gewichteten Anteil aller pflegenden Männer dividiert, um den relativen Gender Care Gap zu berechnen. Je größer dieser Gender Care Gap, desto stärker ist die geschlechtsspezifische Ungleichheit bei der Übernahme informeller Pflege.
Im zweiten Schritt wird dieser relative Gender Care Gap auf die verschiedenen Ländercharakteristika einzeln zurückgerechnet, um die jeweiligen statistischen Zusammenhänge zwischen dem Gender Care Gap und verschiedenen Indikatoren des nationalen Arbeitsmarktes und Pflegesystems (Tabelle) zu untersuchen. Für die Indikatoren werden jeweils, analog zu den SHARE-Daten, Informationen aus dem Jahr 2015 verwendet.
Indikator (verwendetes Jahr) | Beschreibung und Anmerkungen |
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Relative Ausgaben für Langzeitpflege (2015) |
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Relative Ausgaben für stationäre Langzeitpflege (2015) |
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Gender Equality Index (2017) |
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Relative geschlechtsspezifische Unterschiede in der Erwerbstätigenquote (2015) |
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Quellen: Eurostat; European Institute for Gender Equality; OECD.
Für die Berechnung des Gender Care Gaps wird in dieser Studie ausschließlich informelle Pflege außerhalb des eigenen Haushalts betrachtet, also beispielsweise Hilfe beim Anziehen, Baden oder Duschen, Essen, ins Bett legen oder aufstehen, Benutzen der Toilette. Die Pflege des Partners oder der Partnerin im eigenen Haushalt wird nicht untersucht. Um eine bessere Vergleichbarkeit der Statistiken zu gewährleisten, wird die absolute Differenz zwischen den Anteilen von pflegenden Frauen und Männern um Alter und Bildung bereinigt (Kasten).Hierbei sind Alter und Bildung der pflegenden Person gemeint. Die Ergebnisse dieses Wochenberichts sind ähnlich zu Analysen, in denen die Differenz zwischen Frauen und Männern nicht um Alter und Bildung bereinigt wird. Diese bereinigten absoluten Differenzen werden durch den länderspezifischen Anteil pflegender Männer dividiert, um die jeweiligen relativen Gender Care Gaps zu berechnen.
Obwohl sich der Gender Care Gap zwischen den Ländern unterscheidet, ergibt sich ein eindeutiges Bild: In allen Ländern leisten Frauen öfter informelle Pflege als Männer (Abbildung 1). In Portugal, der Schweiz und Schweden ist der Unterschied am geringsten. Hier liegt der Gender Care Gap, bezogen auf den Anteil der pflegenden Männer, bei rund 60 bis 90 Prozent. Das bedeutet, dass Frauen etwas weniger als doppelt so oft pflegen wie Männer. In den Ländern mit dem höchsten Gender Care Gap, Luxemburg, Griechenland und Kroatien, liegt der bereinigte relative Gender Care Gap bei 200 Prozent oder mehr. Hier ist der Anteil der pflegenden Frauen demnach rund dreimal so hoch wie der Anteil pflegender Männer. In Deutschland liegt der Gender Care Gap bei 133 Prozent – Frauen pflegen also etwas mehr als doppelt so häufig die Angehörigen wie Männer. Damit liegt Deutschland im Mittelfeld der hier betrachteten Länder.
Betrachtet man die Regelmäßigkeit und Häufigkeit, mit der Männer und Frauen pflegen (Abbildung 2), zeigen sich in den meisten Ländern ebenfalls markante geschlechtsspezifische Unterschiede. In vielen Ländern pflegen Frauen deutlich häufiger täglich, als es Männer in dem jeweiligen Land tun. In Portugal, Griechenland und Dänemark pflegen Frauen rund dreimal so häufig täglich wie Männer. Diese starken geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Pflege zeigen sich in diesen Ländern häufig auch mit Blick auf wöchentliche Pflege. Nur in wenigen Ländern wie Schweden, Frankreich oder Polen ist der Anteil von Frauen und Männern, die täglich pflegen, etwa gleich groß. In diesen Ländern sind die geschlechtsspezifischen Unterschiede bei wöchentlicher Pflege aber häufig deutlich höher, wodurch sich auch in diesen Ländern ein positiver Gender Care Gap ergibt (Abbildung 1). In Deutschland pflegen Frauen rund doppelt so häufig täglich und etwa dreimal so häufig wöchentlich wie Männer, wenn sie Pflege leisten.
Bei genauerer Betrachtung ergeben sich systematische regionale Unterschiede: Während in nord- und osteuropäischen Ländern insgesamt seltener informell gepflegt wird (Abbildung 2, links), ist die Häufigkeit informeller Pflege in der Bevölkerung in süd- und westeuropäischen Ländern insgesamt höher (Abbildung 2, mittig und rechts). In jenen Ländern ist häufig auch der Gender Care Gap höher. In Ländern, in denen besonders viel Pflegearbeit informell organisiert wird, sind es besonders häufig die Frauen, die diese Arbeit übernehmen. Das lässt darauf schließen, dass ein Großteil der privat geleisteten Pflegearbeit von Frauen aufgefangen wird. Auch hier nimmt Deutschland eine mittlere Position ein.
Um die länderspezifischen Unterschiede in den Pflegesystemen zu erfassen, betrachtet diese Studie die jeweiligen Ausgaben für Langzeitpflege, sowohl insgesamt als auch für stationäre Pflege in Einrichtungen (Tabelle im Kasten). Höhere anteilige Ausgaben für Pflege werden dabei als Indikator für ein besseres Pflegesystem interpretiert. Insbesondere die Ausgaben für stationäre Pflege weisen auf einen ausgeprägten formellen Pflegesektor hin, der zeitliche Entlastung für pflegende Angehörige bieten kann.
Die Ergebnisse der Analyse (Abbildung 3) zeigen, dass in Ländern, in denen insgesamt die Ausgaben für Langzeitpflege höher sind, wie etwa in Schweden, Belgien oder der Schweiz, der Gender Care Gap geringer ist. Auf der anderen Seite zeigen sich in Ländern vergleichsweise hohe geschlechtsspezifische Unterschiede in der privat geleisteten Pflege, in denen die Ausgaben für Langzeitpflege gering sind, wie etwa Kroatien oder Griechenland. Deutschland ordnet sich hier in beiden Dimensionen im Mittelfeld ein. Betrachtet man statt der Gesamtausgaben für Langzeitpflege ausschließlich die Ausgaben für stationäre Langzeitpflege, wird dieser Zusammenhang noch deutlicher. Während in Schweden und der Schweiz der Anteil der Ausgaben für stationäre Pflege am Bruttoinlandsprodukt bei knapp zwei Prozent liegt, liegt er in Griechenland und Kroatien nur bei 0,07 beziehungsweise 0,15 Prozent. In Deutschland liegen die Ausgaben für stationäre Langzeitpflege bei rund einem Prozent, womit Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern mittig zu verordnen ist.
Setzt man diese starken Unterschiede in den Ausgaben für stationäre Pflege in Beziehung zu den Gender Care Gaps der jeweiligen Länder, zeigt sich auch hier ein klarer, statistisch signifikanter Zusammenhang: In Ländern mit höheren Ausgaben für stationäre Langzeitpflege sind im Durchschnitt geringere geschlechtsspezifische Unterschiede in der privat geleisteten informellen Pflege zu beobachten (Abbildung 4). Dieses Ergebnis spiegelt auf Länderebene wider, dass ein stärkerer formeller Pflegesektor pflegende Angehörige, insbesondere Frauen, im privaten Bereich bei der Pflege entlastet. Ob dies zu einer allgemeinen Gleichstellung der Geschlechter beiträgt, ist allerdings fraglich, da der Frauenanteil in der professionellen Pflege ebenfalls hoch ist und diese Berufe häufig vergleichsweise schlecht bezahlt sind.OECD (2019), a.a.O.
Um den Zusammenhang des Gender Care Gaps mit allgemeiner geschlechtsspezifischer Ungleichheit in den jeweiligen Ländern zu untersuchen, wird der Gender Equality Index (GEI) herangezogen (Tabelle im Kasten). Der GEI umfasst verschiedene Dimensionen von Ungleichheit, die zu einem einzelnen Index zwischen 1 (totale Ungleichheit) und 100 (totale Gleichheit) zusammengefasst sind. Die Ergebnisse zeigen, dass in den Ländern, in denen über verschiedene Dimensionen hinweg eine stärkere Gleichheit der Geschlechter vorliegt, auch der Gender Care Gap geringer ist (Abbildung 5).Dieser negative Zusammenhang ist statistisch nicht signifikant, was jedoch auch mit der geringen Anzahl an Ländern zusammenhängen kann. Der Gender Equality Index liegt für alle Länder aus Abbildung 1 außer der Schweiz vor. Die zugrundeliegende Fallzahl sind somit 16 Länder. In Ländern wie Kroatien, Griechenland oder Estland wird dieser Zusammenhang deutlich: Hier liegen die Werte des GEI bei rund 50, was in Relation zu den anderen Ländern eine hohe Geschlechterungleichheit aufzeigt. In diesen Ländern liegt der Gender Care Gap bei über 170 Prozent. Das Gegenbeispiel ist Schweden: Das Land mit dem höchsten GEI (83) hat gleichzeitig den drittkleinsten Gender Care Gap (88 Prozent). Deutschland ordnet sich auch hier mit einem GEI von 66 und einem Gender Care Gap von rund 133 Prozent in beiden Dimensionen mittig ein. Es gibt jedoch auch Ausnahmen von diesen Zusammenhang. So weist etwa Portugal einen geringen Gender Care Gap auf und zeigt sich gleichzeitig in Hinblick auf die allgemeine Geschlechtergleichheit am unteren Ende der Verteilung. Solche Ausnahmen zeigen, dass die Ungleichheit in der informellen Pflege zwischen Frauen und Männern auch von anderen Faktoren getrieben sein kann, die nicht im GEI erfasst sind (Tabelle im Kasten).
Eine wichtige Dimension der geschlechtsspezifischen Unterschiede ist die Ungleichheit in der Erwerbstätigenquote (Tabelle im Kasten). Der Zusammenhang zwischen dem Gender Care Gap und Unterschieden in Erwerbsmustern zwischen Männern und Frauen wird daher separat dargestellt (Abbildung 6).
Ein positiver Unterschied in der Erwerbstätigenquote bedeutet, dass die Erwerbsbeteiligung von Männern anteilig höher ist als die von Frauen (Tabelle im Kasten). Und dieser Indikator steht in einem positiven Zusammenhang mit der geschlechtsspezifischen Ungleichheit in der Pflege: Je größer die relative Differenz in der Erwerbstätigenquote zwischen Männern und Frauen, umso größer ist auch der Gender Care Gap (Abbildung 6).Wie auch beim Gender Equality Index ist der Zusammenhang statistisch nicht signifikant, was durch die geringe Fallzahl von 16 Ländern bedingt sein kann. Daten für die Erwerbstätigenquote nach Geschlecht liegen für alle Länder aus Abbildung 1 außer Kroatien vor. Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang mit Blick auf Griechenland, Schweden, Portugal und die Schweiz. In Griechenland beträgt der Unterschied in der Erwerbstätigenquote zwischen Männern und Frauen in Relation zur Erwerbstätigenquote der Männer knapp 30 Prozent. Gleichzeitig leisten Frauen dort rund dreimal so oft informelle Pflege wie Männer (Gender Care Gap von knapp 200 Prozent). In Schweden, Portugal und der Schweiz hingegen, wo der relative Unterschied in der Erwerbstätigenquote maximal elf Prozent beträgt, leisten Frauen weniger als doppelt so oft informelle Pflegearbeit wie Männer (Gender Care Gaps von unter 100 Prozent). Deutschland liegt hier wie zuvor im Mittelfeld: Der relative geschlechtsspezifische Unterschied in der Erwerbstätigenquote liegt in Deutschland bei rund zehn Prozent, der Gender Care Gap bei etwa 133 Prozent. Diese Ergebnisse bestätigen, dass sich erwartungsgemäß Geschlechterunterschiede auf dem Arbeitsmarkt in Geschlechterunterschieden bei informeller Pflege widerspiegeln und diese beiden Faktoren sich gegenseitig bedingen können.
Frauen leisten deutlich häufiger und mehr informelle Pflege als Männer. Das trifft auf alle europäischen Länder zu, die in dieser Studie auf Basis der Daten von SHARE untersucht wurden. Es zeigen sich aber wichtige Unterschiede zwischen den Ländern. Die Unterschiede hängen zum einen mit den Ausgaben für das formelle Pflegesystem zusammen: je höher die Ausgaben für formelle Pflege sind, umso geringer ist der Gender Care Gap. Gleichzeitig spielt die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in den Ländern eine wichtige Rolle. Länder mit geringer Ungleichheit zwischen den Geschlechtern weisen auch einen geringen Gender Care Gap aus.
Deutschland liegt im internationalen Vergleich bei den Ausgaben für formelle Pflege und der Geschlechterungleichheit im Mittelfeld. Auch der Gender Care Gap liegt etwa im Durchschnitt. Deutschland kann von den Nachbarstaaten mit einem geringeren Gender Care Gap lernen. Eine höhere Frauenerwerbstätigkeit wäre auch ein Beitrag zur Bekämpfung des Fachkräftemangels, was angesichts des demografischen Wandels immer wichtiger werden wird.
Deutschland sollte mehr in formelle Pflege investieren, um Angebot und Qualität zu erhöhen und um den Aufwand der Angehörigen für die informelle Pflege zu reduzieren. Aktuell wird die informelle Pflege noch von geburtenstarken Jahrgängen getragen. Das wird sich in Zukunft ändern und in der mittleren Frist werden diese Kohorten selbst Pflegeleistungen nachfragen. Unabhängig von der konkreten Care Arbeit könnte die Ungleichheit so durch einen weiteren Ausbau des Pflegesystems reduziert werden. Ein aktuelles Problem dabei ist der wachsende Fachkräftemangel in der professionellen Pflege. Laut Vorausberechnungen des Statistischen Bundesamtes liegt die erwartete Zahl an Pflegekräften im Jahr 2049 mindestens 280000 unter dem erwarteten Bedarf.Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 24. Januar 2024: Bis 2049 werden voraussichtlich mindestens 280000 zusätzliche Pflegekräfte benötigt (online verfügbar, abgerufen am 30. Januar 2024). Unter Personalmangel leidet nicht nur die Qualität der Pflege. Eine gute Personalausstattung von Pflegeeinrichtungen ist auch eine Bedingung dafür, dass der informelle Pflegebereich entlastet werden kann und damit auch der Gender Care Gap sinkt.
Um die Ungleichheit bei der Care-Arbeit zu reduzieren, wäre es auch wichtig, mehr Männer für die informelle Pflege zu mobilisieren. Dieses Ziel ist aber vermutlich nur sehr langfristig zu erreichen, wie man es beispielsweise beim Elterngeld sieht, wo es immer noch deutliche Unterschiede bei der Kinderbetreuung gibt. Dafür ist es entscheidend, dass die Ungleichheit zwischen Männern und Frauen auf dem Arbeitsmarkt reduziert wird. Hier gibt es prominente Vorschläge, mit denen dieses Ziel erreicht werden kann, beispielsweise eine Reform des Ehegattensplittings oder die Verbesserung der Betreuung von Kindern, die eine Vollzeiterwerbstätigkeit von beiden Eltern ermöglichen würde. Diese Instrumente könnten dem langfristigen Ziel einer gleichen Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern zuträglich sein.
Themen: Gesundheit, Gender
JEL-Classification: D13;J16;J22
Keywords: Long-term Care, Gender Care Gap, Gender inequality, SHARE
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2024-7-1
Frei zugängliche Version: (econstor)
http://hdl.handle.net/10419/283938