DIW Wochenbericht 10 / 2024, S. 143-144
get_appDownload (PDF 39 KB)
get_appGesamtausgabe/ Whole Issue (PDF 2.64 MB - barrierefrei / universal access)
Die Schwächephase der deutschen Wirtschaft setzt sich fort. Deutschland erlebt zwar keine Wirtschaftskrise und ist auch nicht der „kranke Mann Europas“. Dennoch dürfte die deutsche Wirtschaft im ersten Quartal 2024 erneut schrumpfen und für das Gesamtjahr lediglich eine „rote Null“ realisieren, also eine Stagnation mit negativem Vorzeichen. Die Erholung der nächsten zwei Jahre dürfte steinig sein. In einer solchen Situation ist die Wirtschaftspolitik mehr gefordert denn je.
Die Konjunkturprognosen der vergangenen 15 Monate mussten wiederholt nach unten revidiert werden, zum Teil recht deutlich. Die meisten Prognosen vor einem halben Jahr hatten für Deutschland noch Wachstumszahlen von mehr als einem Prozent für das laufende Jahr vorhergesagt. Nicht nur weltweit, sondern auch in Europa bleibt Deutschland gemessen am Wachstum eines der Schlusslichter. Ohne Deutschland dürfte die Eurozone in diesem Jahr ein Prozent wachsen, mit Deutschland sind es lediglich 0,5 Prozent.
Die größte Bremse für Deutschland werden wohl die schwachen Investitionen sein, die in diesem Jahr schrumpfen. Sowohl die Ausrüstungsinvestitionen als auch die Baubranche dürften durch hohe Vorleistungskosten und schwierige Finanzierungsbedingungen in diesem Jahr leiden. Der wichtigste Faktor für die wirtschaftliche Schwäche ist eine beachtlich negative Stimmung und das fehlende Vertrauen – sowohl bei Unternehmen als auch bei Konsument*innen. Dabei hilft die Feststellung wenig, dass die Stimmung deutlich schlechter ist als die Realität, zumal die Weltwirtschaft sich erholt. Vor allem die US-Wirtschaft erweist sich als sehr resilient, auch dank der expansiven Finanzpolitik der vergangenen Jahre. Die chinesische Wirtschaft dagegen schwächelt, auch wenn sie negative Schocks wie die Pleite des Immobilienriesen Evergrande und den anhaltenden Vertrauensverlust in den Immobilienmarkt bisher relativ gut wegstecken konnte.
Die deutschen Exportunternehmen profitieren vergleichsweise wenig von der globalen Erholung. Die Nettoexporte werden 2024 keinen positiven Beitrag zur Wirtschaftsleistung liefern und könnten die Wirtschaft 2025 sogar leicht bremsen. Viele Industrieunternehmen tun sich schwer, einerseits die hohen Energiekosten zu kompensieren und andererseits wichtige Transformationen zu beschleunigen. Allerdings ist die Ertragslage vieler Unternehmen robust und es gibt keine Anzeichen für eine Welle von Unternehmensinsolvenzen oder eine große Zahl von Arbeitsplatzverlusten.
Ein positiver Aspekt für die deutsche Wirtschaft dürfte der steigende private Konsum sein. Dank einer deutlich gefallenen Inflation erfahren die meisten Beschäftigten gute Steigerungen der Kaufkraft ihrer Löhne, was – trotz einer noch immer hohen Sparquote – den Konsum ankurbeln wird.
Hinzu kommt eine weiterhin positive Entwicklung der Beschäftigtenzahlen. Es gibt immer noch einen erheblichen Arbeitskräftemangel mit 1,7 Millionen offenen Stellen. Zwar dürfte die Arbeitslosenquote 2024 leicht steigen, jedoch dürfte auch die Zahl der Beschäftigten durch stetige Migration weiter zunehmen.
Nach einem Schrumpfen im ersten Quartal 2024 erwarten wir in unserer Prognose eine graduelle Erholung der Wirtschaft mit ordentlichen Wachstumszahlen in den verbleibenden drei Quartalen dieses Jahres. 2025 dürfte sich der Aufholprozess mit einem BIP-Wachstum von 1,2 Prozent fortsetzen.
Die Unsicherheit der Prognose ist aber nach wie vor erheblich. Die zahlreichen geopolitischen Konflikte von der Ukraine bis zum Nahen Osten sowie der Konflikt zwischen China und Taiwan könnten die Wirtschaft jederzeit wieder über höhere Energie- und Rohstoffpreise empfindlich schwächen. Die wirtschaftlichen Probleme Chinas sind ein zweiter Risikofaktor, zumal das Land für viele der großen deutschen Industriekonzerne ein wichtiger Absatzmarkt ist und bleibt. Ein drittes Risiko ist eine Wiederwahl von Donald Trump zum US-Präsidenten im November. Trump hat Zölle von 60 Prozent auf chinesische Produkte und zehn Prozent auf alle anderen Importe angekündigt. Es ist wahrscheinlich, dass er erneut Deutschland als einen seiner Hauptgegner in den Handelskonflikten benennt. Als Ganzes sind die Risiken des wirtschaftlichen Ausblicks nach unten gerichtet.
All dies bedeutet, dass die deutsche Wirtschaft bis 2026 hinein kontinuierlich unter ihrem Potenzial produziert. Die Produktionslücke in diesem Jahr dürfte 1,5 Prozent und 2025 noch immer 0,7 Prozent betragen. Bemerkenswert ist vor allem das deutlich abgeschwächte Potenzialwachstum der deutschen Wirtschaft, das mittlerweile bei weniger als 0,5 Prozent pro Jahr liegt und weiter sinkt. Dies ist einerseits der schwachen Produktivität geschuldet, aber auch dem Schrumpfen des Erwerbspotenzials durch die zunehmende Verrentung der Babyboomer. Deutschland dürfte im Prognosezeitraum seinen historischen Höhepunkt bei der Erwerbspersonenzahl erreichen.
Die Finanzpolitik hilft in diesen schwierigen wirtschaftlichen Zeiten kaum. Von zentraler Bedeutung dürften die Mehrausgaben für Verteidigung sein, die wohl in den kommenden zwei Jahren einen positiven Beitrag bei den Ausrüstungsinvestitionen leisten. Ansonsten liefert die Finanzpolitik eher negative Impulse. Zwar gab es punktuell Entlastungen für manche Bürger*innen, auf der anderen Seite wurden zahlreiche Steuern und Abgaben erhöht. Und auch die sonstigen Investitionen des Staates leisten keinen merklich positiven Beitrag. In Zeiten großer Verunsicherung und einer erheblichen Investitionsschwäche muss der Staat mehr tun, nicht nur um einen konjunkturellen Impuls zu setzen, damit Unternehmen durch bessere Rahmenbedingungen wieder mehr strukturelle Investitionen tätigen können. Die Obsession mit der Schuldenbremse ist zu einer der größten Zukunftsbremsen geworden. Es ist höchste Zeit für eine moderne, zukunftsgerichtete Finanzpolitik in Deutschland. Und die deutsche Politik muss sich konstruktiver in Europa einbringen, von der Wettbewerbspolitik bis hin zur Industrie- und Energiepolitik.
Auch die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank (EZB) bleibt 2024 eine erhebliche Bremse für die deutsche Konjunktur. Die Geldpolitik ist stark restriktiv und wird dies trotz drei prognostizierter Zinssenkungen 2024 wohl mindestens bis Ende 2025 bleiben. Die EZB läuft Gefahr, den Bogen zu überspannen, die Rechtfertigung für eine so restriktive Geldpolitik ist nicht mehr gegeben. Die Inflation ist bereits deutlich gesunken und dürfte in diesem Jahr wieder auf das Niveau der Preisstabilität sinken. Da Geldpolitik mit großen Verzögerungen wirkt, sollte die EZB jetzt handeln und die Zinsen senken, um die deutsche und die europäische Wirtschaft nicht noch empfindlicher zu schwächen.
Themen: Konjunktur