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Die EZB sollte die Kehrtwende vollziehen: Kommentar

DIW Wochenbericht 10 / 2024, S. 164

Marcel Fratzscher

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Die Schwächephase der deutschen Wirtschaft hält an. Die größte Bremse – neben der Finanzpolitik – ist die Geldpolitik. Die hohen Zinsen bremsen vor allem die Investitionen und gefährden den Erfolg der Transformation. Es ist höchste Zeit, dass die Europäische Zentralbank (EZB) eine Kehrtwende vollzieht.

Die größte wirtschaftspolitische Herausforderung ist strukturell: Unternehmen müssen dringend mehr Investitionen tätigen, um mittelfristig neue Technologien zu adaptieren, sich zu digitalisieren und innovativer zu werden. Denn Investitionen benötigen häufig viele Jahre, bis sie umgesetzt sind und wirken. Und hierfür ist neben Strukturreformen und einer expansiveren Finanzpolitik eine weniger restriktive Geldpolitik notwendig. Nun lässt sich zu Recht einwenden, dass die primäre Aufgabe der EZB nicht die Unterstützung von Wachstum oder Investitionen ist, sondern die Preisstabilität. Aber die EZB läuft Gefahr, ihren Fehler von vor zwei Jahren zu wiederholen und zu spät zu handeln, denn Geldpolitik entfaltet ihre volle Wirkung erst nach anderthalb bis zwei Jahren.

Eine zweite Gefahr ist die Überschätzung der Rolle der Nachfrage. Der allergrößte Teil der hohen Inflation seit 2022 ist externen Effekten auf der Angebotsseite geschuldet – primär ausgelöst durch die hohen Energiekosten im Zuge des Ukrainekriegs. Eine Zentralbank kann mit ihrer Geldpolitik weder viel gegen solche externen Faktoren ausrichten, noch sollte sie es, da relative Preise sich anpassen müssen. Die von der EZB immer wieder betonte Sorge wegen sogenannter Zweitrundeneffekte – vor allem, dass die Inflation zu höheren Löhnen und einer stärkeren Nachfrage führt – hat sich bisher nicht bewahrheitet. Es ist richtig, dass Löhne steigen und auch die Lohnstückkosten zulegen. Aber dies sind notwendige temporäre Aufholeffekte.

Zudem war die Stimmung bei Unternehmen und Konsumenten – und damit die Gefahr eines unerwarteten Nachfrageschubs – selten schlechter als heute. Daher ist es zwar verständlich, dass die EZB gerne mehr harte Zahlen sehen möchte. Nur selbst Zahlen mit deutlichen Lohnerhöhungen würden wenig daran ändern, dass baldige Zinssenkungen notwendig und angemessen sind.

Als Drittes ist es sicherlich verständlich, dass die Mitglieder des EZB-Zentralbankrats ihre Glaubwürdigkeit schützen und verhindern wollen, dass die Inflation noch länger zu hoch bleibt. Diese Glaubwürdigkeit nimmt jedoch auch dann Schaden, wenn die Inflation wieder zu gering ausfällt – so wie in den Jahren 2014 bis 2020. Die EZB sollte sich weder von den „Falken“ noch von den „Tauben“ dominieren lassen, sondern zu einer vollen Symmetrie ihrer Geldpolitik zurückfinden – also einer zu hohen Inflation die gleiche Bedeutung beimessen wie einer zu geringen Inflation.

Eine Zentralbank muss immer unabhängig von den Forderungen der Finanzmärkte agieren. Aber sie sollte weise und offen genug sein, den Signalen und Informationen aus der Wirtschaft Gehör zu schenken, und diese sagen heute sehr deutlich: Es wäre für die EZB angemessen, nun mit Zinssenkungen zu beginnen und recht flott den neutralen Leitzins von zwei bis zweieinhalb Prozent zu erreichen. Es gibt auch keinen Grund, auf eine erste Zinssenkung der US-Notenbank zu warten, denn die US-Wirtschaft befindet sich in einer sehr viel stärkeren Position als die europäische.

Meiner Lesart der Daten und Fakten nach ist die Wahrscheinlichkeit heute höher, dass die Inflation über die nächsten drei bis fünf Jahre zu gering sein wird, als dass die Inflation zu hoch bleiben wird. Dies würde nicht nur die Glaubwürdigkeit der EZB erodieren, sondern könnte auch der Wirtschaft einen empfindlichen Schaden zufügen. Denn weniger Investitionen und ein Verlust an Wettbewerbsfähigkeit bedeuten ein dauerhaft geringeres Potenzialwachstum, eine langsamere ökologische und digitale Transformation und damit weniger Wohlstand und gute Jobs langfristig – was es der EZB erschweren würde, stabile Preise zu gewährleisten.

Dieser Beitrag erschien in ungekürzter Version am 1. März im Handelsblatt.

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