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Fluchterfahrungen und Unterstützung nach der Ankunft: Editorial

DIW Wochenbericht 12 / 2024, S. 179-180

Cornelia Kristen

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In gegenwärtigen Debatten zum Migrationsgeschehen geht es häufig darum, wie viel Migration Deutschland braucht und welche Art. Auch die Integration der Zugewanderten spielt eine wichtige Rolle. Zum Teil wird dabei übersehen, dass die Erfahrungen auf der Flucht und in der ersten Zeit nach der Ankunft sich auf den weiteren Integrationsverlauf auswirken. Negative Erfahrungen auf der Flucht sind zu verarbeiten, sprachliche, rechtliche und gesundheitliche Hürden sind zu nehmen.

Die vorliegende Ausgabe des DIW Wochenberichts thematisiert diese frühe Phase. Einerseits wird untersucht, welche Erfahrungen Ankömmlinge auf der Flucht gemacht haben. Andererseits geht es um den geeigneten Umgang mit den Schutzsuchenden nach ihrer Ankunft. Betrachtet werden hierzu, welche Bedarfe an Unterstützung Geflüchtete angeben und inwieweit sie Hilfe in Anspruch nehmen sowie welchen Zugang sie zur Gesundheitsversorgung haben.

Die empirische Grundlage hierfür bilden neben offiziellen Statistiken Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP)info Jan Goebel et al. (2019): The German Socio-Economic Panel (SOEP). Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 239 (2), 345–360; Miriam Gauer und Cornelia Kristen (2023): A guide to using the Socio-Economic Panel for research on individuals of immigrant origin. SOEP Survey Papers 1332. Series C. (online verfügbar; abgerufen am 17.11.2023. Dies gilt auch für alle anderen Onlinequellen dieses Editorials, sofern nicht anders vermerkt). und die darin integrierte IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten.info Sie wird vom Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) in Kooperation mit dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sowie dem Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) durchgeführt. Herbert Brücker, Ninas Rother und Joachim Schupp (2017; korrigierte Fassung 2018): IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016: Studiendesign, Feldergebnisse sowie Analysen zu schulischer wie beruflicher Qualifikation, Sprachkenntnissen sowie kognitiven Potenzialen. Politikberatung kompakt 123 (online verfügbar); Martin Kroh et al. (2016): Das Studiendesign der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten. SOEP Survey Papers 365 (online verfügbar). Letztere beruhen auf Informationen zu Schutzsuchenden, die zwischen 2013 und 2020 nach Deutschland gekommen sind. Die meisten Geflüchteten sind in den Jahren 2015 und 2016 zugewandert und leben seitdem in der Bundesrepublik.

Im ersten Bericht wird das Fluchtgeschehen zwischen 2014 und 2023 beschrieben. Auf unterschiedlichen Fluchtrouten gelangen Schutzsuchende nach Europa. Diese Routen bergen vielfältige Gefahren. Die gefährlichste Route ist die zentrale Mittelmeerroute, auf der weltweit die meisten Menschen sterben. Diese Route wird in jüngerer Zeit wieder verstärkt für die Flucht genutzt. Die Landrouten enden zwar seltener tödlich als die Flucht auf der zentralen Mittelmeerroute, sie bergen aber andere Gefahren. Körperliche Übergriffe, sexuelle Belästigung, Raubüberfall, Betrug und Gefängnisaufenthalte sind anzutreffen. Während Personen, die von ihrer Flucht berichten, ein zum Teil düsteres Bild zeichnen, möchte etwa die Hälfte nicht über die Flucht sprechen. Über diese schweigende Gruppe und ihre Erfahrungen kann nur spekuliert werden. Die tatsächliche Gefahrenlage lässt sich anhand der gegenwärtig verfügbaren Informationen kaum adäquat einschätzen. Dies erschwert auch den geeigneten Umgang mit Schutzsuchenden nach ihrer Ankunft.

Der zweite Bericht beschäftigt sich mit der Unterstützung Schutzsuchender in der ersten Zeit nach der Migration. Kontrastiert werden die von den Geflüchteten geäußerten Bedarfe nach Unterstützung mit der Inanspruchnahme in verschiedenen Bereichen wie rechtlicher Beratung, Hilfestellung bei der Arbeitssuche, beim Zugang zu Bildung, dem Erlernen der deutschen Sprache und der gesundheitlichen Versorgung. Es wird gezeigt, dass die vorhandenen Bedarfe nicht in allen Bereichen gedeckt sind. Insbesondere bei der Suche nach Schulplätzen, Ausbildungs- oder Weiterbildungsangeboten sowie bei Flüchtlings- und Asylfragen geben viele Geflüchtete an, dass sie die benötigte Hilfe nicht erhalten haben. Außerdem ist die Inanspruchnahme sozial ungleich verteilt. Personen, die im Herkunftsland eine höhere Bildung erworben und auf dem dortigen Arbeitsmarkt eine gute Position hatten, sind eher in der Lage, vorhandene Angebote zu nutzen. Auch Geflüchtete, deren Asylstatus anerkannt ist, nehmen die Unterstützungsleistungen stärker in Anspruch als Personen, die sich noch im Asylverfahren befinden oder die geduldet sind.

Die Gesundheitsversorgung von Geflüchteten wird durch das Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) geregelt. Es legt fest, dass in der ersten Zeit nach der Ankunft ein eingeschränkter Anspruch auf Gesundheitsversorgung besteht. Die Folgen der Verlängerung der Geltungsdauer des Asylbewerberleistungsgesetzes von 18 auf 36 Monate werden im dritten Beitrag untersucht. Er zeigt, dass eine längere Wartezeit nicht wie erhofft Kosten einsparen dürfte. Stattdessen werden gesundheitliche Probleme zu spät behandelt, was zu höheren Kosten führt als eine rechtzeitige Behandlung. Auch ist Gesundheit zentrale Voraussetzung, damit die Integration in anderen Bereichen gelingt. Eine Verlängerung der Geltungsdauer ist auch deshalb kritisch zu sehen, weil sie Personen mit geringer Bildung und wenigen Deutschkenntnissen stärker trifft. Um den Zugang zur Gesundheitsversorgung zu vereinfachen, sollte die elektronische Gesundheitskarte genutzt werden. Sie bietet Ländern und Kommunen die Möglichkeit, den negativen Konsequenzen einer Ausweitung des AsylbLG entgegenzuwirken.

Die drei Beiträge verdeutlichen: Es ist unabdingbar herauszufinden, welche Gruppen von Personen welche Erfahrungen gemacht haben und welche Bedarfe sie daher aufweisen. Nur dann ist es möglich, Geflüchtete in der ersten Zeit nach ihrer Ankunft in geeigneter Weise zu unterstützen. Vor allem diejenigen, denen es weniger gut gelingt, Angebote zu nutzen und vorhandene Möglichkeiten auszuschöpfen, müssen gezielt in den Blick genommen werden. Dazu zählen insbesondere gering Gebildete oder Personen, die noch begrenzte Sprachkenntnisse aufweisen. Dies gilt für eine bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung ebenso wie für andere Unterstützungsleistungen. Auch ein angemessener Umgang mit negativen Erfahrungen auf der Flucht ist nur dann möglich, wenn diese erfasst und berücksichtigt werden.

Cornelia Kristen

DIW Fellow in der Infrastruktureinrichtung Sozio-oekonomisches Panel

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