DIW Wochenbericht 12 / 2024, S. 181-190
Cornelia Kristen, Jana Nebelin
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„Offizielle Statistiken erfassen zwar Todesfälle, bilden aber andere Gefahren auf der Flucht nur unzureichend ab. Befragungen füllen diese Lücke zum Teil, jedoch zeigt sich, dass viele Geflüchtete keine Auskunft über ihre Erfahrungen während der Flucht geben wollen.“ Jana Nebelin
Die Routen, auf denen Geflüchtete in den Jahren 2014 bis 2023 nach Europa und Deutschland gekommen sind, wurden in unterschiedlichem Maße für die Flucht genutzt. Zuletzt hat die Bedeutung der zentralen Mittelmeerroute wieder zugenommen. Lauf offizieller Statistiken, in denen vor allem Todesfälle erfasst werden, ist dies die weltweit tödlichste Fluchtroute. Die Gefahrenlage auf den verschiedenen Routen lässt sich auch aus Perspektive der Ankömmlinge beschreiben. Diese zeichnen ebenfalls ein in Teilen düsteres Bild von der Flucht, gekennzeichnet von unterschiedlichen Formen von Gewalt und Bedrohung. Gleichzeitig sprechen viele Schutzsuchende, darunter insbesondere Frauen, gar nicht erst über ihre Flucht. Um die Gefahren besser beschreiben und geeignete Instrumente zu ihrer Bekämpfung entwickeln zu können, sollten die Vorkommnisse während der Flucht besser erfasst werden.
Die politische Diskussion über Geflüchtete konzentriert sich häufig auf deren absolute Zahl. Die Fragen, auf welchen Routen sie nach Europa und Deutschland kommen und welchen Gefahren sie dabei ausgesetzt sind, finden weniger Beachtung. In diesem Bericht wird anhand offizieller Statistiken die Nutzung der unterschiedlichen Fluchtrouten nach Europa und Deutschland für den Zeitraum zwischen 2014 und 2023 beschrieben. Es wird gezeigt, auf welchen Routen Geflüchtete gewandert sind und welche Korridore von welchen Gruppen genutzt wurden. Außerdem werden die Gefahren behandelt, die mit der Flucht nach Europa verbunden sind und die sich zwischen den verschiedenen Routen systematisch unterscheiden. Die Gefahren lassen sich einerseits anhand von offiziellen Informationen beschreiben, andererseits aus Sicht der Geflüchteten charakterisieren. Um die Perspektive der Schutzsuchenden nachzuzeichnen, wird die IAB-BAMF-SOEP-Stichprobe für Geflüchtete genutzt.Die Studie wird vom Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) in Kooperation mit dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) sowie dem Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF-FZ) durchgeführt. Herbert Brücker, Nina Rother und Joachim Schupp (2017; korrigierte Fassung 2018): IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016: Studiendesign, Feldergebnisse sowie Analysen zu schulischer wie beruflicher Qualifikation, Sprachkenntnissen sowie kognitiven Potenzialen. DIW Politikberatung kompakt 123 (online verfügbar; abgerufen am 7. Dezember 2023. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen, sofern nicht anders vermerkt); Martin Kroh et al. (2016): Das Studiendesign der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten. SOEP Survey Papers 365 (online verfügbar). Sie umfasst Personen, die zwischen 2014 und 2021 nach Deutschland gekommen sind. Die meisten von ihnen stammen aus Syrien und sind in den Jahren 2015 und 2016 eingewandert.
Die Wege, auf denen Schutzsuchende nach Europa kommen, sind in der Regel nicht direkt, schnell oder einfach zu bewältigen, sondern können mehrere Etappen und Länder einschließen und mit längeren Phasen des Aufenthalts an einzelnen Stationen einhergehen.Benjamin Etzold (2019): Fragmentierte Flucht nach Europa. Stadtforschung und Statistik 32(2), 71–80; Joris Schapendonk (2012): Migrants’ im/mobilities on their way to the EU: lost in transit? Tijdschrift voor Economische en Sociale Geografie 103(5), 577–583. Es haben sich zentrale Fluchtrouten gebildet, auf denen Geflüchtete häufig auch auf Angebote von Schleppern oder andere Dienstleistungen angewiesen sind.Benjamin Etzold (2019), a.a.O., 77. Unterscheiden lassen sich die östliche Mittelmeerroute, die zentrale Mittelmeerroute, die westliche Mittelmeerroute, die Westbalkanroute und die östliche Landroute (Abbildung 1, Tabelle). Während die ersten drei Routen mit einer Überquerung des Mittelmeers verbunden sind, handelt es sich bei den letzten beiden Routen um Landrouten.
Route | Frontex | Frontex-Länderzuordnung | IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten |
---|---|---|---|
Östliche Mittelmeerroute | Eastern Mediterranean | Zypern, Seegrenze zu Griechenland, Landgrenzen Griechenland und Bulgarien mit der Türkei | Mit dem Boot/Schiff über das Meer von der Türkei nach Griechenland |
Zentrale Mittelmeerroute | Central Mediterranean | Seegrenzen zu Italien und Malta | Mit dem Boot/Schiff über das Meer von Nordafrika nach Italien oder Malta |
Westliche Mittelmeerroute | Western Mediterranean | Land- und Seegrenze zu Spanien ohne kanarische Inseln | Mit dem Boot/Schiff über das Meer von Nordafrika nach Spanien oder Frankreich |
Western African | Kanarische Inseln | ||
Westbalkanroute | Western Balkans | Bulgarien, Rumänien, Ungarn und Kroatien an den Landgrenzen zu Ländern der Westbalkanregion | Über das Festland von der Türkei nach Bulgarien oder Griechenland |
Circular route from Albania to Greece | Griechische Landgrenze zu Albanien und Nordmazedonien | ||
Östliche Landroute | Eastern Land Borders | Rumänien, Ungarn, Slowakei, Polen, Litauen, Lettland, Estland, Finnland, Norwegen, Landgrenzen zu Moldawien, Ukraine, Belarus und der Russischen Föderation | Über das Festland von Russland |
Anmerkung: Den Geflüchteten wurde folgende Frage gestellt: Haben Sie auf Ihrer Reise oder Flucht nach Deutschland eine der folgenden Hauptrouten genutzt? Zusätzlich zur direkten Abfrage wurden die Geflüchteten aufgefordert, die Route auf einer virtuellen Weltkarte zu vermerken. Die hieraus resultierenden georeferenzierten Punkte können genutzt werden, um auf die Fluchtrouten zu schließen. So können fehlende Werte bei der direkten Abfrage aufgefüllt werden. Siehe Lucas Guichard, Ismael Issifou und Sekou Keita (2023): Price adjustments on the market for human smuggling: evidence from a large demand shock, 10 (online verfügbar).
Quellen: Frontex (2023): Migratory Routes (online verfügbar); SOEP (2023): SOEP-Core – 2021: Person und Biografie (M3–M6, Erstbefragte, mit Verweis auf Variablen) (online verfügbar).
Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, berichtet regelmäßig über die Anzahl irregulärer Grenzübertritte in die Europäische Union und Schengen-assoziierte Länder. Auch wenn diese Zahlen das Migrationsgeschehen nicht akkurat widerspiegeln, zum Beispiel, weil nicht alle Geflüchteten erfasst oder Personen mehrfach aufgegriffen und gezählt werden, können sie einen Eindruck über Unterschiede in der Nutzung der verschiedenen Routen vermitteln (Abbildung 2). Die östliche Mittelmeerroute und die Westbalkanroute gehören im Beobachtungszeitraum (mit 35,1 beziehungswiese 32,6 Prozent aller irregulären Grenzübertritte) zu den wichtigsten Korridoren, insbesondere in den Jahren 2015 und 2016. Es folgen die zentrale Mittelmeerroute (mit 24,8 Prozent), die westliche Mittelmeerroute (mit 6,7 Prozent) und die östliche Landroute (mit 0,7 Prozent). Mit Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens im März 2016 ist die Anzahl irregulärer Grenzübertritte auf der östlichen Mittelmeer- und der Westbalkanroute deutlich zurückgegangen. In den Jahren 2022 und 2023 waren die zentrale Mittelmeerroute (mit 39,1 Prozent) und die Westbalkanroute (mit 36,7 Prozent) die am stärksten frequentierten Korridore. Diese beiden Routen haben gegenüber den Vorjahren wieder an Bedeutung gewonnen.
Schutzsuchende aus Afghanistan, Eritrea, dem Irak und vor allem Syrien gehörten in den Jahren 2015 und 2016 zu den größten Geflüchtetengruppen. Zwischen 2014 und 2023 haben aus diesen Ländern 2,9 Millionen Personen in der EUEigene Auszählung beruhend auf Eurostat (2023): Asylum applicants by type of applicant, citizenship, age and sex – annual aggregated data; Online data code:migr_asyappctza__custom_8776839 (online verfügbar). Für das Jahr 2023 konnten nur die Monate Januar bis August berücksichtigt werden. und davon 1,5 Millionen Personen in DeutschlandEigene Auszählung beruhend auf (a) für die Jahre 2013 bis 2022: BAMF (2023): Das Bundesamt in Zahlen. Asyl. Nürnberg: BAMF, 17; (b) für das Jahr 2023 (Januar-Oktober): BAMF (2023): Aktuelle Zahlen (Oktober 2023). Nürnberg: BAMF, 3. einen Asylerstantrag gestellt. Sie machen ungefähr die Hälfte aller Anträge aus. Die Gesamtzahl der Asylerstanträge in diesem Zeitraum beläuft sich auf 7,2 Millionen in der EUEurostat (2023): Asylum and first time asylum applicants – annual aggregated data (tps00191) (online verfügbar). Für das Jahr 2023 konnten nur die Monate Januar bis August berücksichtigt werden., wovon 2,6 Millionen in der BundesrepublikBAMF (8.11.2023): Anzahl der Asylanträge (Erstanträge) in Deutschland von 1991 bis 2023 (bis Oktober). In Statista (online verfügbar). Für das Jahr 2023 konnten nur die Monate Januar bis Oktober berücksichtigt werden. gestellt wurden.
Die verschiedenen Fluchtrouten wurden in unterschiedlichem Maße von verschiedenen Herkunftsgruppen genutzt (Abbildung 3). Die wichtigste Fluchtroute für Menschen aus Afghanistan, Irak und Syrien war zwischen 2014 und 2023 die östliche Mittelmeerroute. Sie wurde von 69,1 Prozent der erfassten Geflüchteten aus Afghanistan genutzt, von 80,4 Prozent der Geflüchteten aus dem Irak und von 65,1 Prozent der Geflüchteten aus Syrien. Ein weiterer wichtiger Korridor in die Europäische Union war für diese Gruppen die Westbalkanroute. Sie wurde im Beobachtungszeitraum von 27,4 Prozent der Geflüchteten aus Afghanistan, von 9,8 Prozent der Geflüchteten aus dem Irak und von 28,3 Prozent der Geflüchteten aus Syrien gewählt. Schutzsuchende aus Eritrea sind dagegen in erster Linie auf der zentralen Mittelmeerroute nach Europa gekommen (94,6 Prozent).
Der Weg in die Europäische Union ist gefährlich. Menschen ertrinken im Mittelmeer, sie sterben an Hunger und Durst, werden Opfer von Menschenhandel, Entführung sowie sexueller und anderer Formen von Gewalt. Die Internationale Organisation für Migration (IOM) dokumentiert weltweit Todesfälle und Todesursachen entlang der Fluchtkorridore. Auch wenn diese Daten unvollständig sind, da nicht alle Todesfälle und Todesursachen erfasst werden, vermitteln sie einen Eindruck von den Gefahren unterschiedlicher Fluchtrouten.Frank Laczko, Ann Singleton und Julia Black (Hrsg.) (2017): Fatal journeys, vol. 3, part 1: improving data on missing migrants. International Organization for Migration (online verfügbar).
Während die Todesfälle auf Landwegen eher mit Gewalt und Fahrzeugunfällen in Verbindung gebracht werden, ist der Tod durch Ertrinken kennzeichnend für die Seerouten.UNODC (2018): Global study on smuggling of migrants 2018. United Nations, 39 (online verfügbar). Weltweit sterben die meisten Menschen auf der Flucht auf dem Mittelmeer. Die global gesehen tödlichste Route ist die zentrale Mittelmeerroute – ausgehend von Tunesien, Algerien, Marokko oder Libyen und mit Ziel Italien oder Malta.UNODC (2018), a.a.O., 39; Erhabor Idemudia und Klaus Boehnke (2020): Psychosocial experiences of African migrants in six European countries. Social Indicators Research Series 81, 33 und 37; Heaven Crawley et al. (2016): Destination Europe? Understanding the dynamics and drivers of Mediterranean migration in 2015. MEDMIG Final Report, 33 (online verfügbar). Dieser Korridor ist so gefährlich, weil hier mit etwa 300 zu überwindenden Kilometern eine besonders lange Überfahrt zu bewältigen ist. Im Vergleich dazu liegen zwischen der Türkei und einer der griechischen Inseln etwa 30 Kilometer (östliche Mittelmeerroute), ähnlich wie zwischen Marokko und Spanien (westliche Mittelmeerroute).UNODC (2018), a.a.O., 39.
Dieser Sachverhalt spiegelt sich in offiziellen Statistiken wider (Abbildung 4). Durchgängig entfallen auf die zentrale Mittelmeerroute die meisten Todesfälle. Für den Beobachtungszeitraum und die betrachteten Migrationskorridore macht diese 63 Route Prozent aller Todesopfer aus. Die anderen beiden Seerouten folgen mit 17,5 Prozent (westliche Mittelmeerroute) und 13,6 Prozent (östliche Mittelmeerroute). Im Gegensatz dazu kommen auf den Landrouten, die von rund einem Drittel der Geflüchteten genutzt werden, deutlich weniger Menschen zu Tode. Die Anteile betragen für die Westbalkanroute 5,2 Prozent und für die östliche Landroute 0,7 Prozent aller Todesfälle.
Da zwei Drittel der Geflüchteten über die Seerouten kommen, bildet Ertrinken die mit großem Abstand bedeutsamste Todesursache zwischen 2014 und 2023. Diese alleine macht 81,0 Prozent aller gezählten Todesfälle auf den Routen aus.Eigene Auszählung beruhend auf Missing Migrants Project (2023) (online verfügbar). Für das Jahr 2023 konnten nur die Monate Januar bis September berücksichtigt werden. Alle übrigen Todesursachen belaufen sich jeweils auf weniger als fünf Prozent. 65,9 Prozent der Todesfälle durch Ertrinken entfallen auf die zentrale Mittelmeerroute, 15,9 Prozent auf die östliche Mittelmeerroute und 16,3 Prozent auf die westliche Mittelmeerroute.Missing Migrants Project (2023), a.a.O. Diese Routen wurden im Beobachtungszeitraum von den oben genannten Gruppen vorwiegend genutzt (Abbildung 3). Insbesondere Geflüchtete aus Eritrea stechen heraus, weil sie fast ausschließlich (94,6 Prozent) auf der gefährlichsten Route, der zentralen Mittelmeerroute, nach Europa gekommen sind.
Statistiken zu Todesfällen bilden die Gefahrenlage nicht nur deshalb unvollständig ab, weil nicht jeder Fall erfasst werden kann, sondern auch weil sie sich ausschließlich auf Ereignisse richten, die zum Tod führen. Darüber hinaus können Berichte von Ankömmlingen die vielfältigen Gefahren entlang der Migrationskorridore beschreibend ergänzen.
Die Perspektive der Schutzsuchenden lässt sich anhand von Auswertungen der IAB-BAMF-SOEP-Stichprobe für Geflüchtete abbilden.Brücker, Rother und Schupp (2017; korrigierte Fassung 2018), a.a.O; Kroh et al. (2016), a.a.O. Der Erfassung des Fluchtgeschehens wurde eine einleitende Frage vorangestellt, die ankündigt, dass Erlebnisse im Zusammengang mit der Flucht angesprochen werden sollen: „Als nächstes haben wir ein paar Fragen, bei denen es um Erlebnisse im Zusammenhang mit Ihrer Flucht geht. Dabei werden auch Fragen zu negativen Erfahrungen gestellt. Möchten Sie die Fragen zu diesem Thema beantworten oder möchten Sie diese Fragen lieber nicht beantworten?“ Nahezu die Hälfte der Befragten (47,2 Prozent) möchte nicht über die Flucht berichten (Abbildung 5). Die übrigen Personen haben entweder keine negativen Erfahrungen gemacht (27,4 Prozent) oder berichten von Gewalt und Bedrohung (25,4 Prozent). Frauen scheinen Gefahren deutlich seltener als Männer ausgesetzt gewesen zu sein (16,2 Prozent im Vergleich zu 30,2 Prozent). Allerdings sprechen sie auch seltener als Männer über ihre Flucht (53,3 Prozent im Vergleich zu 44,0 Prozent). Es könnte deshalb sein, dass sie nicht weniger Gefahrensituationen erlebt haben als Männer, sondern dass die Erlebnisse in den Daten nicht sichtbar sind, weil Frauen die Beantwortung der Fragen zur Flucht häufiger vermeiden.
Analog zu den Ergebnissen der offiziellen Statistiken wird die zentrale Mittelmeerroute auch von den Ankömmlingen als besonders gefährlich charakterisiert (Abbildung 6). Für diesen Fluchtkorridor ergibt sich der höchste Anteil negativer Erfahrungen (47,2 Prozent). Im Gegensatz dazu weist die östliche Landroute mit 13,9 Prozent den geringsten Anteil an Personen mit negativen Erfahrungen auf. Gleichzeitig gibt es auch Seerouten, die von den Geflüchteten als ähnlich gefährlich wie bestimmte Landrouten eingestuft werden. So liegt die Westbalkanroute bei den negativen Erfahrungen mit 40,9 Prozent gleichauf mit der östlichen Mittelmeerroute (39,5 Prozent).
Zu den bedrohlichen Ereignissen auf der Flucht lassen sich körperliche Übergriffe, sexuelle Belästigung, Raubüberfall, Betrug, Erpressung, Gefängnis und Schiffbruch zählen (Abbildung 7). Am häufigsten wird von Betrug berichtet (23,7 Prozent). Auch Gefängnisaufenthalte (18,3 Prozent) und körperliche Übergriffe (18,0 Prozent) werden prominent genannt. Sexuelle Belästigung findet dagegen seltenere Erwähnung (2,6 Prozent). Es ist fraglich, ob negative Erfahrungen in diesem Bereich angemessen abgebildet werden. Sexuelle Übergriffe könnten ungezählt geblieben sein, weil sich die betroffenen Personen von vornherein gegen die Beantwortung der Frage zu den negativen Erfahrungen entschieden haben oder darüber auch dann nicht berichten, wenn sie ansonsten über ihre Flucht sprechen. Bis auf den Bereich sexueller Übergriffe sind unter Männern deutlich höhere Anteile an allen Arten negativer Erfahrungen zu verzeichnen als unter Frauen.
In der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten erteilten nur rund die Hälfte der Schutzsuchenden Auskunft zum Fluchtgeschehen (Abbildung 5). Über die Erlebnisse von Befragten, die nicht über ihre Flucht berichten, kann nur spekuliert werden. In dieser Gruppe könnten zum Beispiel gehäuft Personen mit negativen Erfahrungen vertreten sein. In diesem Fall würde der Bericht die Gefahrenlage unterschätzen. Richtung und Ausmaß der Verzerrung sind jedoch unklar. Da es sich um eine so große Gruppe von Personen handelt, über deren Flucht keine Aussagen möglich sind, soll abschließend mithilfe eines multivariaten Modells der Einfluss verschiedener Faktoren auf das Antwortverhalten untersucht werden. Verglichen werden Personen, die Angaben zu ihrer Flucht machen mit Personen, die dies nicht tun (Abbildung 8).
Zunächst werden in die Analysen Charakteristiken und Bedingungen einbezogen, die mit bestimmten Gefahren auf der Flucht in Verbindung stehen könnten. Sofern Frauen in stärkerem Maße als Männer sexuellen Übergriffen auf der Flucht ausgesetzt waren, über die sie nicht im Rahmen einer Befragung Auskunft geben möchten, müssten sie seltener als Männer über ihre Flucht berichten. Dies zeigt sich auch so in den Analysen. Geflüchtete Frauen weisen im Vergleich zu Männern eine um rund sechs Prozentpunkte geringere Wahrscheinlichkeit auf, die Fragen zum Fluchtgeschehen zu beantworten.
Eine größere zu überwindende Distanz zwischen dem Herkunfts- und dem Zielort könnte ebenso wie eine längere Dauer der Flucht für ein erhöhtes Risiko stehen, Gefahren ausgesetzt gewesen zu sein. Allerdings finden sich in den Analysen keine statistisch signifikanten Hinweise auf einen solchen Sachverhalt.
Traumatische Erfahrungen auf der Flucht können sich nachteilig auf die mentale Gesundheit auswirken und die Bereitschaft, über die Flucht zu berichten, senken. Allerdings zeigen die Ergebnisse keinen solchen Zusammenhang. Ein höherer Wert auf der Skala zur mentalen Gesundheit geht mit einer geringeren Wahrscheinlichkeit einher, über die Flucht zu berichten. Eventuell kommt in diesem Ergebnis das Bedürfnis derjenigen, die auf der Flucht schlechte Erfahrungen gemacht haben und geringere Werte auf der Skala zur mentalen Gesundheit aufweisen, zum Ausdruck, ihre Erlebnisse zu teilen und zu verarbeiten.
Die zweite Gruppe von Einflüssen umfasst Bedingungen, die auch unabhängig von den Erlebnissen auf der Flucht ein bestimmtes Anwortverhalten nahelegen. Bildung befähigt beispielsweise zu Reflexion und Verbalisierung von Erfahrungen, weshalb Befragte mit einer höheren Bildung eher über die Flucht sprechen sollten als Befragte mit einer geringeren Bildung. Diese Überlegung scheint zuzutreffen: Personen mit tertiärer Bildung weisen gegenüber Personen ohne Grundbildung eine um zwölf Prozentpunkte höhere Wahrscheinlichkeit auf, sich zum Fluchtgeschehen zu äußern. Analog zur Bildung steht auch eine wirtschaftlich vorteilhafte Lage im Herkunftsland für eine privilegierte sozioökonomische Situation, die aus ähnlichen Gründen wie bei der Bildung mit einem bereitwilligeren Antwortverhalten einhergehen sollte. Sie könnte es auch erlauben, die gestellte Frage besser zu verstehen. Dieser Zusammenhang lässt sich in den Analysen nachweisen. Schutzsuchende, die sich vor ihrer Migration in einer ökonomisch überdurchschnittlichen Lage befunden haben, weisen im Vergleich zu unterdurchschnittlich positionierten Personen eine um acht Prozentpunkte höhere Wahrscheinlichkeit auf, die Fragen zum Fluchtgeschehen zu beantworten.
Schließlich könnte vermutet werden, dass Geflüchtete mit unsicherem oder ungewissem Aufenthaltsstatus zurückhaltender sind bei der Beantwortung von Fragen zum Fluchtgeschehen, weil sie dieses durch ihre Aussagen nicht gefährden möchten. Umgekehrt könnte aber auch argumentiert werden, dass Personen in einer unsicheren Situation eher bereit sind, an sie gerichtete Erwartungen zu erfüllen und sie sich deshalb in der Befragungssituation konform verhalten und Auskunft geben. Die Befunde sprechen für das zweite Argument: Geflüchtete aus allen Gruppen mit geklärtem Status in Form von Anerkennung, Ablehnung oder Resettlement weisen eine geringere Wahrscheinlichkeit auf, Fragen zur Flucht zu beantworten, als Geflüchtete, die sich in einem laufenden Asylverfahren befinden.
Insgesamt liefern die Befunde kaum Anhaltspunkte für die Vermutung, dass das Antwortverhalten mit negativen Erfahrungen auf der Flucht in Verbindung steht.
Geflüchtete erreichen Europa auf unterschiedlichen Wegen, die sich zu fünf Migrationskorridoren zusammenfassen lassen. Drei führen über das Mittelmeer (die östliche, die zentrale und die westliche Mittelmeerroute), zwei über das Land (die Westbalkan- und die östliche Landroute). Die Nutzung dieser Fluchtrouten hat sich in den vergangenen zehn Jahren (2014 bis 2023) immer wieder verändert. Gefahren und Tod sind ständige Begleiter. Die Seerouten wurden von rund zwei Drittel der Geflüchteten genutzt. Auf ihnen ereigneten sich 81 Prozent aller Todesfälle. Unter den Seerouten sticht die zentrale Mittelmeerroute aufgrund der großen zu überwindenden Distanz heraus: Sie ist die gefährlichste und tödlichste Migrationsroute weltweit. Und genau dieser Korridor wird in den vergangenen zwei Jahren wieder in stärkerem Maße genutzt.
Fragt man die Ankömmlinge nach ihren Erfahrungen, so wird vor allem eines deutlich: Über die Flucht wird nicht gerne gesprochen. Diejenigen, die darüber Auskunft geben, zeichnen ein bedrückendes Bild vielfältiger Gefahren. Warum über die Flucht nicht geredet wird, kann anhand der vorliegenden Daten nicht abschließend geklärt werden. Gleichzeitig wäre es wichtig zu wissen, ob vor allem traumatische Erlebnisse die Ursache hierfür sind. In diesem Fall wäre es wichtig, den Zugang zu entsprechender medizinischer und psychologischer Behandlung zu erleichtern. Dies könnte auch die Integration der Geflüchteten unterstützen.
Derzeit können jedoch weder das Migrationsgeschehen noch die Gefahrenlage zufriedenstellend abgebildet werden. Die offiziellen Statistiken erfassen nicht alle Geflüchteten, können aber die gleichen Personen mehrfach enthalten. Auch Informationen zu Todesfällen und Gefahren sind oft unvollständig und unterschätzen das Leid, wobei unklar ist in welchem Ausmaß. Befragungsdaten sind hier unzureichend, weil sie die notwendigen Informationen nicht enthalten. Es ist zwar wichtig, den Befragten die Möglichkeit zu geben, einzelne Fragen nicht zu beantworten. In Befragungen sollte jedoch vermieden werden, ganze Blöcke von Fragen zu überspringen. Das gegenwärtige Vorgehen, wonach Personen, die die Eingangsfrage zum Fluchtgeschehen verneinen, viele Fragen nicht gestellt bekommen, führt zu einem lückenhaften Bild. Ohne Kenntnis der Situation, welchen Gefahren Geflüchtete auf den unterschiedlichen Fluchtrouten ausgesetzt waren, bleibt es schwierig, sie in geeigneter Weise zu unterstützen.
Themen: Migration
JEL-Classification: F22;J15
Keywords: refugees, escape routes
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2024-12-2