Bedarf an und Inanspruchnahme von Unterstützung bei Geflüchteten ungleich verteilt

DIW Wochenbericht 12 / 2024, S. 191-198

Ellen Heidinger

get_appDownload (PDF  358 KB)

get_appGesamtausgabe/ Whole Issue (PDF  3.02 MB - barrierefrei / universal access)

  • Bericht analysiert den Bedarf an und die Inanspruchnahme von Unterstützung bei Geflüchteten, die zwischen 2013 und 2016 nach Deutschland gekommen sind
  • Größter Bedarf besteht bei Spracherwerb und Gesundheitsversorgung, aber auch bei Asylfragen, Zugang zu Arbeit und Bildung brauchen die meisten Hilfe
  • Geduldete und Asylbewerber*innen können seltener Unterstützung in Anspruch nehmen als jene mit anerkanntem Aufenthaltsstatus
  • Zusätzliche Bildungsabschlüsse und Arbeitserfahrung aus dem Herkunftsland korrelieren positiv mit Inanspruchnahme von Hilfe
  • Inanspruchnahme von Unterstützung muss erleichtert werden, etwa durch bessere Informationsverbreitung sowie kultur- und sprachsensible Angebote

„Der Bedarf nach Unterstützung ist unter Geflüchteten allgemein hoch, kann jedoch nicht überall gedeckt werden. Sprach- und kultursensible Angebote müssen ausgebaut werden, um allen Personengruppen Zugang zu gewähren. Das Chancen-Aufenthaltsgesetz ist ein erster Schritt.“ Ellen Heidinger

Laut Bundesinnenministerium sollen Beratung und Hilfe zur Integration für alle Schutzsuchenden verfügbar sein. Der vorliegende Wochenbericht untersucht, inwieweit dies auf Personen zutrifft, die zwischen 2013 und 2016 nach Deutschland geflüchtet sind. Mithilfe von Daten der IAB-BAMF-SOEP-Befragung Geflüchteter wird der Bedarf an und die tatsächliche Inanspruchnahme von Unterstützungsangeboten in fünf Lebensbereichen untersucht: Flüchtlings- und Asylfragen, Deutsch lernen, Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Bildung und zur Gesundheitsversorgung. Die Analyse zeigt, dass der große Bedarf an Unterstützung nicht überall gedeckt werden kann und der Zugang zu Hilfen selektiv ist. Vor allem Geduldete und Personen im Asylverfahren erhalten seltener Hilfe als jene mit anerkanntem Aufenthaltsstatus. Personen, die Bildung oder Arbeitserfahrung aus ihrem Herkunftsland mitbringen, gelingt es eher, die benötigte Hilfe in Anspruch zu nehmen. Staatliche sowie zivilgesellschaftliche Akteure sollten weiterhin zusammenarbeiten, um zugeschnittene sprach- und kultursensible Unterstützung anzubieten.

Für das Jahr 2024 sieht der Haushaltsentwurf des Bundes 1,2 Milliarden Euro für verschiedene Maßnahmen zur Förderung der Integration und Migration, für Minderheiten und Vertriebene vor. Die Ausgaben für Integrationskurse und Migrationsberatung bilden mit 937 Millionen Euro den Schwerpunkt.infoBundesrechnungshof (2023): Information über die Entwicklung des Einzelplans 06 (Bundesministerium des Innern und für Heimat) für die Beratungen zum Bundeshaushalt 2024. Bericht nach § 88 Absatz 2 BHO an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages (online verfügbar, abgerufen am 9. Februar 2024. Dies gilt auch für alle anderen Onlinequellen in diesem Bericht, sofern nicht anders vermerkt). Ergänzt wird dies durch Integrationskonzepte auf kommunaler Ebene in Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen. Es soll laut Bundesinnenministerium sichergestellt werden, dass für jede Person ein entsprechendes Angebot zur Orientierung und Beratung verfügbar ist.infoPressemitteilung des Bundesministeriums des Inneren und für Heimat vom 21. Juli 2023: Bundesinnenministerium stellt 160 Millionen Euro zusätzlich für Integrationsmaßnahmen bereit (online verfügbar). Der vorliegende Wochenbericht analysiert auf Basis der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten, inwieweit diese Angebote in den Jahren 2016 bis 2020 benötigt und in Anspruch genommen worden sind. Dafür werden Geflüchtete, die seit 2013 nach Deutschland gekommen sind, und die Bereiche Flüchtlings- und Asylfragen, Deutsch lernen, Arbeitsmarktzugang, Bildung und Gesundheitsversorgung in den Fokus genommen. Der Bericht analysiert auch, welche Faktoren einen besonderen Zusammenhang mit der Inanspruchnahme von Unterstützung aufweisen.infoDer vorliegende Wochenbericht basiert auf: Ellen Heidinger (2023): Overcoming Barriers to Service Access: Refugees’ Professional Support Service Utilization and the Impact of Human and Social Capital. Journal of International Migration and Integration (24), 271–312.

Geflüchtete sind nach ihrer Ankunft in Deutschland unter anderem mit Fragen der Familienzusammenführung, des Arbeitsmarktzugangs, der Bestreitung des Lebensunterhaltes sowie der Gesundheitsversorgung konfrontiert.infoAxel Böhm (2017): Was bewegt geflüchtete Menschen in Deutschland? Migrationsmotive, Sorgen und Zukunftsorientierungen. Migration und Soziale Arbeit Nr. 4, 357–364. Dazu kommen soziale Isolation, Ungewissheit und Zukunftssorgen.infoMaria Metzing, Diana Schacht und Antonia Scherz (2020): Psychische und körperliche Gesundheit von Geflüchteten im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen. DIW Wochenbericht Nr. 5, 63–72 (online verfügbar). Die Bearbeitungsdauer von Asylverfahren in Erstanträgen betrug 2022 durchschnittlich 7,8 Monate.infoDeutscher Bundestag, Parlamentsnachrichten (2023): Durchschnittliche Bearbeitungsdauer von Asylverfahren (online verfügbar). Um diese Probleme zu bewältigen, sind Geflüchtete in hohem Maße auf externe Unterstützung angewiesen. Neben Hilfe von Familie und Bekannten bieten sowohl zivilgesellschaftliche als auch staatliche Einrichtungen professionelle Unterstützung bei der Integration und dem Ankommen in Deutschland (Kasten 1).

Die Höhe und Art der staatlichen Unterstützung für Geflüchtete ist im Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) festgelegt und abhängig vom rechtlichen Status. Das bundesweit geltende Gesetz wird von den Ländern umgesetzt und in vielen Fällen weiter an die Kommunen delegiert. Zu den Aufgaben der Kommunen gehören Vollzug des Ausländerrechts (zum Beispiel Durchführung von Abschiebungen) sowie die Bereitstellung von Unterkunft, finanziellen Leistungen, die Gesundheitsversorgung und das Bildungswesen. Darüber hinaus können sich die Kommunen für zusätzliche freiwillige Aufgaben wie Sprachförderung, Qualifizierung, Unterstützung des freiwilligen Engagements und Öffentlichkeitsarbeit entscheiden. Dabei müssen sie auf eigene Mittel zurückgreifen oder Möglichkeiten der Mittelbeschaffung, beispielsweise aus europäischen Quellen wie dem Europäischen Sozialfonds (ESF) oder dem Asyl-, Migrations- und Integrationsfonds (AMIF), nutzen. Diese föderale Aufteilung der Zuständigkeiten führt zu einer großen Vielfalt an Regelungen und Maßnahmen vor allem in der Sozialhilfe. Während die Kommunen nicht in den politischen Entscheidungsprozess eingebunden sind, findet Integration auf lokaler Ebene statt.infoJutta Aumüller, Priska Daphi und Celine Biesenkamp (2015): Die Aufnahme von Flüchtlingen in den Bundesländern und Kommunen – Behördliche Praxis und zivilgesellschaftliches Engagement. Teilhabe – Vernetzung – Engagement – Integration; Expertise. Stuttgart: Robert Bosch-Stiftung (online verfügbar). Viele Kommunen tragen durch eigene Integrationskonzepte und die Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Organisationen dazu bei, die Teilhabe von Geflüchteten am lokalen Leben sicherzustellen.infoDanielle Gluns (2018): Social Assistance for Refugees in Germany. LoGoSO Research Papers Nr. 4 (online verfügbar). Diese Organisationen sind ehrenamtliche Initiativen wie Wohlfahrtsverbände, Stiftungen, Vereine oder anders organisierte, selbstverwaltete Non-Profit-Gruppierungen. Sie erweitern die staatlichen Leistungen und übernehmen vor allem Aufgaben der Asylberatung, sozialen Beratung, sowie Begegnung und unterstützen bei Fragen des täglichen Lebens.

Studien belegen, dass die reine Existenz dieser Angebote nicht ausreicht und es zahlreiche Hürden zur Inanspruchnahme gibt.infoM. Reza Nakhaie (2017): Service Needs of Immigrants and Refugees. Journal of International Migration and Integration 19(2), 143–160; Jaswant Kaur Bajwa et al. (2017): Refugees, Higher Education, and Informational Barriers. Refuge 33(2), 56–65. Neben sprachlichen Barrieren können kulturelle Barrieren, wie fehlende Vertrautheit mit sozialen Normen, Stigmatisierung oder Diskriminierung den Zugang verhindern. Zudem fehlen Geflüchteten oft die Informationen über geeignete Angebote. Insbesondere im ländlichen Raum sind die Angebote auch nicht immer oder teilweise nur schwer erreichbar. Dazu kommt die rechtliche Barriere. So standen bis zum 31. Dezember 2022 die vom Bund finanzierten Integrations- und Sprachkurse nur Personen mit anerkanntem Asylstatus oder solchen im Verfahren offen, denen eine sogenannte positive Bleibeperspektive bescheinigt wurde.infoDas Gesetz zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts ist am 31.12.2022 in Kraft getreten und soll unter anderem allen Asylbewerber*innen den Zugang zu Integrations- und Berufssprachkursen im Rahmen verfügbarer Plätze zusichern. Das Bundesinnenministerium legte im Oktober 2015 fest, dass eine sogenannte gute Bleibeperspektive besteht, wenn Geflüchtete aus Eritrea, Irak, Iran, Somalia oder Syrien kommen. Von August 2019 bis März 2021 galt dies vorübergehend nur für Syrien oder Eritrea. Seitdem gilt die Regelung für die Herkunftsländer Eritrea, Somalia und Syrien. Diese Barrieren können die Inanspruchnahme beeinträchtigen oder gänzlich verhindern. US-amerikanische Studien zeigen, dass vor allem Geflüchtete mit geringem sozioökonomischem Status beim Zugang zu professioneller Unterstützung benachteiligt sind.infoNakhaie (2017), a. a. O; Navjot K. Lamba (2003): The employment experiences of Canadian refugees: Measuring the impact of human and social capital on quality of employment. Canadian Review of Sociology/Revue Canadienne de Sociologie, 40(1), 45–64. Deshalb wird im zweiten Teil des Berichtes untersucht, wie wahrscheinlich die Inanspruchnahme von Unterstützung nach Asylstatus sowie der im Herkunftsland erworbenen Bildung und Arbeitserfahrung ist. Zunächst wird der Bedarf und die tatsächliche Inanspruchnahme von Unterstützung in fünf verschiedenen Lebensbereichen betrachtet.

Bedarf an Unterstützung ist bei Geflüchteten allgemein groß

Ein Bedarf an Unterstützung in einem der fünf Lebensbereiche liegt vor, wenn eine Person angegeben hat, dass sie Hilfe benötigt und erhalten hat oder Hilfe benötigt hat, diese aber nicht erhalten hat. Aufsummiert haben 21 Prozent aller Befragten angegeben, dass sie in allen fünf abgefragten Bereichen einen Bedarf an Unterstützung haben und fast jede zweite befragte Person braucht Hilfe in entweder vier oder allen Bereichen (Abbildung 1). Lediglich zwei Prozent geben an, keinen Unterstützungsbedarf zu haben.

Bedarf an Hilfe bei Spracherwerb und medizinischer Versorgung ist besonders groß

Besonders beim Deutschlernen brauchen viele Geflüchtete Hilfe. Über 91 Prozent der Befragten geben an, hier Unterstützung zu benötigen (Abbildung 2). Dies ist zu erwarten, da Geflüchtete ihre Deutschkenntnisse unmittelbar nach ihrer Ankunft in Deutschland als gering einstufen.infoJan Eckhard (2024): Deutschkenntnisse von geflüchteten Frauen und Männern: Entwicklung, Unterschiede und Hintergründe. Kurzanalyse des BAMF Nr. 1 (online verfügbar). Auch bei der Frage nach der medizinischen Versorgung geben 82 Prozent an, Hilfe zu benötigen. Ein mittlerer Bedarf von 62 beziehungsweise 69 Prozent besteht bei Flüchtlings- und Asylfragen sowie bei der Arbeitssuche. Jede*r zweite Befragte (51 Prozent) gibt an, Unterstützung bei der Suche nach Schulen, Hochschulen, Ausbildungsplätzen oder Weiterbildungsangeboten zu benötigen. Dieser vergleichsweise geringe Hilfebedarf könnte darauf zurückzuführen sein, dass zwei Drittel der Geflüchteten (65 Prozent) zum Befragungszeitpunkt angaben, bereits in ihrem Herkunftsland erwerbstätig gewesen zu sein. Somit ist für viele die Suche nach Bildungsangeboten nicht mehr unmittelbar relevant. Allerdings sollte man bei dieser Interpretation mitberücksichtigen, dass sich Geflüchtete nach der Ankunft in Deutschland dazu entscheiden können, sich weiterzubilden, selbst wenn sie in ihrem Herkunftsland bereits erwerbstätig waren. Ebenfalls ist es möglich, dass Qualifikationen aus dem Herkunftsland nicht anerkannt werden und sich Personen deshalb entscheiden, nach Weiterbildungen zu suchen.

Geflüchtete erhalten oft keine Hilfe bei der Arbeitssuche

Oft erhalten Geflüchtete nicht die benötigte Unterstützung. Nur bei der medizinischen Versorgung ist der Bedarf größtenteils gedeckt: Lediglich acht Prozent der Befragten gaben an, dass ihnen hier nicht geholfen wurde, obwohl es nötig gewesen wäre. Bei der Hilfe zum Deutschlernen, Flüchtlings- und Asylfragen, der Arbeits- sowie der Bildungssuche hingegen geben 25 Prozent bis knapp 40 Prozent an, die benötigte Unterstützung nicht erhalten zu haben. Beim Spracherwerb ist anzumerken, dass zwei Drittel derjenigen, die Hilfe benötigten, diese auch erhalten haben. Wie andere Analysen belegen, lernen dadurch viele Geflüchtete gut Deutsch und bauen auch zunehmend Kontakte zu Deutschen auf.infoWenke Niehues, Nina Rother und Manuel Siegert (2021): Vierte Welle der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten. Spracherwerb und soziale Kontakte schreiten bei Geflüchteten voran. Kurzanalyse des BAMF Nr. 4 (online verfügbar). Untersuchungen, die sich auf das Erhebungsjahr 2016 beschränken, zeigen ähnliche Ergebnisse.infoJana A. Scheible und Axel Böhm (2018): Geflüchtete Menschen in Deutschland: Hilfebedarfe und Nutzung von Beratungsangeboten. Kurzanalyse des BAMF Nr. 5 (online verfügbar).

Die ungedeckten Bedarfe bei der Arbeits- und Bildungssuche sollten auch in Zusammenhang mit dem Asylstatus gesehen werden. Da Personen, deren Asylantrag sich in Bearbeitung befindet, grundsätzlich erst nach drei beziehungsweise neun MonateninfoAsylbewerber*innen dürfen, solange sie verpflichtet sind, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen (Residenzpflicht von drei Monaten), keine Erwerbstätigkeit und damit auch keine Ausbildung aufnehmen. Sofern das Asylverfahren nach neun Monaten nach Asylantragsstellung noch nicht unanfechtbar abgeschlossen ist, ist der Person die Ausübung einer Beschäftigung zu erlauben. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2024): Arbeitsmarktzugang für Geflüchtete (online verfügbar). eine Arbeitserlaubnis und somit auch eine Ausbildungserlaubnis erteilt werden kann, ist es möglich, dass Befragte diesen Bedarf als ungedeckt einschätzen, selbst dann, wenn sie dahingehend korrekt beraten wurden. Auch der große Prozentsatz derer, die einen ungedeckten Bedarf bei Flüchtlings- und Asylfragen angeben (34,6 Prozent) kann auf Personen zurückzuführen sein, deren Asylstatus noch nicht feststeht und die sich daher nicht unterstützt sehen.

Geduldete benötigen viel Unterstützung, sind aber selten in der Lage, Hilfe in Anspruch zu nehmen

Im Mittel geben Befragte in etwa vier der fünf Bereiche an, Hilfe zu brauchen, und nehmen diese in zwei Bereichen in Anspruch (Abbildung 3). Betrachtet man die Befragten aufgeschlüsselt nach Asylstatus, ergibt sich ein detailliertes Bild: Geduldete Personen weisen zeitgleich den höchsten Bedarf (vier Bereiche) und fast die niedrigste Inanspruchnahme (knapp eineinhalb Bereiche) auf. Anders sieht es bei Personen mit anerkanntem Asylstatus aus: Sie geben durchschnittlich an, in nur drei Bereichen Hilfe zu benötigen, und erhalten sie in zweieinhalb. Der eingeschränkte Zugang zu staatlichen Sprachkursen sowie zum Arbeits- und Ausbildungsmarkt für Personen mit ungeklärtem Aufenthaltsstatus kann hierfür ausschlaggebend sein. Geduldete brauchen häufig Hilfe, um Zukunftsfragen zu klären und ihren Verbleib zu organisieren. Die vorliegenden Analysen zeigen allerdings, dass sie in vielen Fällen keine Unterstützung erhalten.

Die Befragten haben unabhängig von ihrem Bildungs- und Erwerbsniveau im Mittel einen gleich hohen Bedarf an Unterstützung. Personen mit höherer Bildung und zusätzlicher Arbeitserfahrung erhalten aber öfter Hilfe. Es gibt verschiedene Mechanismen, die diesen Unterschied erklären könnten. Sowohl zusätzliche Bildung als auch Arbeitserfahrung korrelieren positiv mit kognitiven Fähigkeiten wie Problemlösung und verbalen Fähigkeiten sowie mit nicht-kognitiven Fähigkeiten wie Kommunikationskompetenz oder Selbstwirksamkeit.infoJames J. Heckman, Jora Stixrud und Sergio Urzua (2006): The effects of cognitive and noncognitive abilities on labor market outcomes and social behavior. Journal of Labor Economics, 24(3), 411–482. Personen mit höherer Bildung sind potenziell besser darin, Informationen zu recherchieren. Menschen mit Arbeitserfahrungen können von Berufsnetzwerken profitieren, haben Kenntnis über Verwaltungsabläufe oder wissen bereits, welche nächsten Schritte für einen Wiedereinstieg in den Arbeitsmarkt notwendig sind. Bildung und Arbeitserfahrung hängen also mit der Inanspruchnahme von Unterstützung zusammen.

Bildung und Arbeitserfahrung aus dem Herkunftsland gehen mit höherer Inanspruchnahme von Hilfe einher

Ob die Inanspruchnahme von Unterstützung auch unter Kontrolle anderer Faktoren vom Asylstatus oder von Bildungsabschlüssen und Arbeitserfahrung aus dem Herkunftsland abhängt, wird mit einem multivariatem Regressionsmodell untersucht.infoEs werden Alter, Geschlecht, Aufenthaltsdauer, Herkunftsregion sowie Erhebungsjahr berücksichtigt Geduldete, Personen ohne Bildungsabschluss und ohne Arbeitserfahrung im Herkunftsland bilden dabei jeweils die Referenzgruppe (Abbildung 4). Im Asylverfahren zu sein oder einen anerkannten Asylstatus zu haben, hängt mit der höheren Inanspruchnahme von Unterstützung in den Bereichen Spracherwerb, Arbeits- und Bildungssuche sowie der medizinischen Versorgung zusammen. Der Zusammenhang ist für Personen mit anerkanntem Asylstatus größer als für Personen im Asylverfahren. Die Regelungen, die es Personen im Asylverfahren und Geduldeten bisher verboten haben, an staatlichen Orientierungs- und Deutschkursen teilzunehmen und zu arbeiten, scheinen Geduldete stärker zu treffen. Zumindest scheinen nicht-staatliche Angebote Personen im Asylverfahren bei der Suche nach Arbeit, Bildungsangeboten und beim Spracherwerb teilweise aufzufangen.

Als Datengrundlage dieses Berichts dient die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten, die ein Kooperationsprojekt des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) mit dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung und dem Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge ist.infoHerbert Brücker, Nina Rother und Joachim Schupp (2017; korrigierte Fassung 2018): IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016: Studiendesign, Feldergebnisse sowie Analysen zu schulischer wie beruflicher Qualifikation, Sprachkenntnissen sowie kognitiven Potenzialen. DIW Politikberatung kompakt 123 (online verfügbar). Dies ist eine Längsschnittbefragung von Personen, die zwischen dem 1. Januar 2013 und dem 31. Dezember 2016 als Schutzsuchende nach Deutschland gezogen sind. Die Stichprobe wurde aus dem Ausländerzentralregister entnommen und Informationen zur Lebenssituation der Schutzsuchenden, wie Bildung, berufliche Situation, Sprachkenntnisse, aber auch gesellschaftliche Teilhabe und rechtliche Rahmenbedingungen wurden erhoben.infoMiriam Gauer und Cornelia Kristen (2023): A guide to using the SOEP for research on individuals of immigrant origin. SOEP Survey Papers 1332. Series C (online verfügbar).

Der vorliegende Wochenbericht umfasst die Erhebungswellen 2016 bis 2020, da in diesen Jahren die zentralen Konstrukte des Bedarfes und der Inanspruchnahme nach Unterstützung in fünf Lebensbereichen jeweils in der ersten Befragung erfasst wurden. Konkret wurde folgender Einleitungstext und fünf Fragen mit jeweils identischen drei Antwortmöglichkeiten gestellt:

Wenn man neu in einem Land ist, ist es manchmal schwer, sich überall zurecht zu finden. Bei den folgenden Fragen geht es darum, ob Ihnen seit Ihrer Ankunft in Deutschland in unterschiedlichen Bereichen geholfen wurde.

  1. Haben Sie rechtliche Beratung in Flüchtlings- und Asylfragen erhalten?
  2. Haben Sie Hilfe beim Erlernen der deutschen Sprache erhalten?
  3. Haben Sie Hilfe bei der Arbeitssuche erhalten?
  4. Haben Sie Hilfe bei der Suche nach Schulen, Hochschulen, Ausbildungsplätzen oder Weiterbildungsangeboten erhalten?
  5. Haben Sie Hilfe bei der medizinischen Versorgung erhalten?

[1] Ja, ich habe Hilfe erhalten

[2] Nein, ich hätte zwar Hilfe gebraucht, habe aber keine erhalten

[3] Nein, ich habe keine Hilfe gebraucht

Zusammengenommen umfasst die Stichprobe 6733 Beobachtungen aus den fünf Erhebungswellen. Die gewichtete soziodemografische Zusammensetzung ist wie folgt: 27,4 Prozent der Befragten sind Frauen und das mittlere Alter beträgt 31,47 Jahre (Standardabweichung 10,57 Jahre). Die Hauptherkunftsländer der Geflüchteten sind Syrien, Afghanistan und der Irak und sie befinden sich seit 1,7 Jahren (Standardabweichung 0,86 Jahre) in Deutschland. Zum Zeitpunkt der Befragung lebten 45 Prozent in einer Gemeinschaftsunterkunft. 58,4 Prozent der Befragten besitzen eine Aufenthaltserlaubnis, haben also einen anerkannten Asylstatus. 34,9 Prozent befinden sich im Asylverfahren und 6,7 Prozent haben einen abgelehnten Asylantrag und sind geduldet.infoDuldung bedeutet die vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (§ 60a AufenthG). Der Staat duldet die Betroffenen, weil ihre Abschiebung derzeit aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist. In der vorliegenden Stichprobe verfügen alle Personen mit einem abgelehnten Asylantrag über eine Duldung.

Zur Untersuchung der Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme von Unterstützung nach den Merkmalen Asylstatus sowie der im Herkunftsland erworbenen Bildung und Arbeitserfahrung wurden fünf binäre logistische Regressionsmodelle geschätzt – je eines pro untersuchtem Lebensbereich. Aus der Beschränkung auf Individuen, die einen Bedarf nach Unterstützung angegeben haben, ergeben sich folgende Stichprobengrößen:

Stichprobengröße
Lebensbereich Befragte
Flüchtlings- und Asylfragen 3835
Deutsch lernen 6577
Arbeitssuche 3558
Bildung 3368
Gesundheitsversorgung 6089

Es werden jeweils die durchschnittlichen marginalen Effekte mit 95-Prozent-Konfidenzintervall ausgewiesen. Damit liegt in 95 Prozent der Fälle der tatsächliche Wert in diesem Intervall.

Weiter korrelieren ein mittlerer oder weiterführender Bildungsabschluss aus dem Herkunftsland positiv mit der Inanspruchnahme von Unterstützung im Bereich des Spracherwerbes und der Arbeitssuche. Dies trifft auch auf zusätzliche Arbeitserfahrung zu, denn Arbeitserfahrung generell geht positiv einher mit der Inanspruchnahme von Hilfe bei der Arbeitssuche, dem Spracherwerb und bei Flüchtlings- und Asylfragen. Personen, mit Bildung oder Arbeitserfahrung aus dem Herkunftsland nehmen in diesen Bereichen eher Hilfe in Anspruch.

Fazit: Flächendeckende und angepasste Angebote müssen Barrieren zu Unterstützung senken

Die Analysen verdeutlichen, dass Geflüchtete häufig Unterstützung beim Arbeitsmarktzugang, bei Bildungs- und Spracherwerb, Asylfragen und der medizinischen Versorgung brauchen. Ob sie diese allerdings auch erhalten, variiert zwischen den einzelnen Bereichen stark. Vor allem Hilfe bei der Arbeits- und Bildungssuche sowie bei Asylfragen wird oft nicht in Anspruch genommen. Geduldete und Personen im Asylverfahren erhalten seltener Hilfe als Personen mit anerkanntem Aufenthaltsstatus. Zudem gelingt es Geflüchteten mit Bildungsabschlüssen oder Arbeitserfahrung aus dem Herkunftsland häufiger, Hilfsangebote zu nutzen.

Daraus folgen drei Dinge sowohl für die politische Praxis als auch für staatliche und zivilgesellschaftliche Institutionen, die Unterstützung für Geflüchtete anbieten: Erstens sollten Geduldete und Personen im oft langwierigen Asylverfahren konkreter unterstützt werden. Ein erster Schritt war es, das Chancen-Aufenthaltsgesetzes im Dezember 2022 einzuführen sowie die Bundesmittel für Integrations- und Sprachkurse zu erhöhen. Asylbewerber*innen sollten unabhängig von ihrer Aufenthaltsdauer und ihrem Status an Kursen teilnehmen können und bei Fragen zum Leben in Deutschland unterstützt werden. Wenn der rechtliche Status ungeklärt ist, ergeben sich viele Zukunftssorgen und Probleme, bei denen Personen auf Hilfe angewiesen sind. Zweitens müssen Angebote niedrigschwellig kommuniziert und verbreitet werden. Oftmals können nur Personen Hilfe in Anspruch nehmen, die Ressourcen in Form von Bildung oder Arbeitserfahrung aus ihrem Herkunftsland mitbringen. Ein hoher Bildungsabschluss oder bereits geleistete Erwerbsarbeit sollten aber kein Kriterium der Inanspruchnahme sein. Dieser selektive Zugang fördert ungleiche Startbedingungen und benachteiligt Personen ohne diese Ressourcen, beispielsweise Frauen oder junge Personen.infoAdriana Cardozo (2023): Erwerbschancen geflüchteter Frauen in Deutschland verbessern sich trotz ungünstiger Ausgangslage. DIW Wochenbericht Nr. 19, 217–225 (online verfügbar). Drittens sollten existierende Angebote besser auf die Bedarfe zugeschnitten werden. In der Praxis gibt es kein einheitliches Modell der Unterstützung, dass für alle Geflüchteten passend ist. Personen haben unterschiedliche Bedarfe und Zugangsvoraussetzungen. Informationskampagnen sollten gezielt auf bestehende Kurse oder Hilfen hinweisen und die sprach- und kultursensible Migrationsberatung sollte ausgebaut werden. Auch Mentorenprogramme sollten gefördert und ausgeweitet werden.infoMagdalena Krieger et al. (2020): Mentorenprogramme fördern die Integration von Geflüchteten. DIW Wochenbericht Nr. 49, 905–914 (online verfügbar).

Staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure müssen noch besser zusammenarbeiten, um flächendeckende und zugängliche Unterstützung anzubieten und Zugangshürden abzubauen. Dies fördert die Integration in den Arbeitsmarkt und die Gesellschaft. Weiterführende Analysen können zeigen, ob sich das Chancen-Aufenthaltsgesetz langfristig positiv auf die Teilnahme an Integrations- und Deutschkursen sowie auf die anschließende Arbeitsmarktintegration auswirkt.

Ellen Heidinger

Doktorandin in der Infrastruktureinrichtung Sozio-oekonomisches Panel



JEL-Classification: F22;J15;L31
Keywords: refugees, professional support, support utilization, integration
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2024-12-3

keyboard_arrow_up