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Verlängerte Leistungseinschränkungen für Geflüchtete: Negative Konsequenzen für Gesundheit – erhoffte Einsparungen dürften ausbleiben

DIW Wochenbericht 12 / 2024, S. 199-207

Louise Biddle

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  • Solange Geflüchtete in den Geltungsbereich des Asylbewerberleistungsgesetzes fallen, ist ihr Anspruch auf Gesundheitsversorgung eingeschränkt
  • Analyse auf Basis der IAB-BAMF-SOEP-Befragung liefert erstmals Aufschluss über Belastungen des Gesetzes nach Personengruppe
  • Szenario zur beschlossenen Verlängerung der Einschränkungen zeigt: Menschen mit mit niedriger Bildung und geringen Deutschkenntnissen besonders betroffen
  • Elektronische Gesundheitskarte für Geflüchtete kann die negativen Konsequenzen der Gesetzesänderung abfedern, indem administrative Hürden abgebaut werden
  • Mit Blick auf die langfristigen Kosten für den Staat sollte anstelle einer Verlängerung von Einschränkungen alles für einen vereinfachten Zugang zur Gesundheisversorgung getan werden

„Je später kranke Menschen behandelt werden, desto teurer, da Geflüchtete nun noch länger auf angemessene Gesundheitsversorgung warten müssen. Menschen mit niedriger Bildung und geringen Deutschkenntnissen sind davon besonders betroffen. Die Verlängerung der gesundheitlichen Leistungseinschränkungen war kontraproduktiv.“ Louise Biddle

Bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens haben Geflüchtete nur einen eingeschränkten Anspruch auf Gesundheitsleistungen. Ende Februar 2024 wurde die maximale Dauer dieser Einschränkung von 18 auf 36 Monate verlängert. Diese Änderung dürfte die tatsächliche Wartezeit, die – wie Daten des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) zeigen – derzeit bei über einem Jahr liegt, verdoppeln. Besonders betroffen sind davon Geflüchtete mit niedriger Bildung und geringen Deutschkenntnissen. Dies hat nicht nur negative Konsequenzen für die Gesundheit der betroffenen Menschen. Auch der Staat hat Nachteile, denn eine spätere Behandlung erfordert oft einen teureren Behandlungsansatz. Deshalb wäre es sinnvoller gewesen, die Dauer der Einschränkungen zu verkürzen statt zu verlängern. Die elektronische Gesundheitskarte für Geflüchtete erleichtert den Zugang zur Gesundheitsversorgung während der Wartezeit, denn sie verringert administrative Hürden. Derzeit erhalten aber nur knapp 20 Prozent aller Geflüchteten eine Gesundheitskarte, denn sie wurde nicht in allen Bundesländern eingeführt. Die elektronische Gesundheitskarte sollte bundesweit eingeführt werden; so könnten die negativen Konsequenzen des Asylbewerberleistungsgesetzes für die Gesundheit abgefedert werden.

Ende Februar 2024 wurde der maximale Geltungszeitraum des Asylbewerberleistungsgesetzes (AsylbLG) von 18 auf 36 Monate erhöht. Dieses Gesetz regelt Höhe und Form der Sozialleistungen für Asylbewerber*innen, bevor auch sie Anspruch auf Bürgergeld und andere Sozialleistungen haben. Nach Berechnungen zu einem Gesetzesentwurf der CDU/CSU-FraktioninfoDeutscher Bundestag (2023): Gesetzentwurf der Fraktion CDU/CSU. Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung des Asylbewerberleistungsgesetzes (Asylbewerberleistungsweiterentwicklungsgesetz – AsylbLWG). Bundestags-Drucksache 20/9309 (14. November 2023, online verfügbar, abgerufen am 28. Februar 2024. Dies gilt auch für alle anderen Online-Quellen dieses Berichts, sofern nicht anders vermerkt). sollte eine solche Verlängerung mit Einsparungen „im dreistelligen Millionenbereich jährlich“ einhergehen. Dem Gesetzentwurf der Opposition vorausgegangen war eine Einigung von Bund und Ländern über eine Reihe von Maßnahmen, durch welche die Anreize für die Fluchtmigration nach Deutschland sowie die Kosten für Länder und Kommunen gesenkt werden sollen, darunter auch die Verlängerung des Geltungszeitraums des AsylbLG. Eine ausführliche und sachliche Diskussion über die tatsächlichen Auswirkungen einer solchen Anpassung ist bisher aber zu kurz gekommen. Am Beispiel der Gesundheitsversorgung lässt sich gut zeigen, welche Auswirkungen die Verlängerung des AsylbLG auf die Gesundheit und Integration von Geflüchteten, aber auch auf die Finanzierung der Gesundheitsversorgung hat.infoIn diesem Beitrag wird durchgängig der Begriff „Geflüchtete“ verwendet. Gemeint sind damit alle Personen, welche in Deutschland einen Erstantrag auf Asyl gestellt haben, unabhängig von dem Ergebnis dieses Antrags. Dies umfasst also sowohl Personen, die noch im Asylprozess sind, wie auch Personen mit einem positiven oder negativen (zum Beispiel Duldung, ausreisepflichtig) Asylbescheid. Geflüchtete aus der Ukraine sind nicht vom Asylbewerberleistungsgesetz betroffen und werden daher nicht in die Analyse einbezogen. Dabei werden auch die Folgen einer Einführung der elektronischen Gesundheitskarte (eGK) für Geflüchtete berücksichtigt.

Im Vergleich zu Sozialhilfeempfänger*innen ist der Anspruch auf Gesundheitsversorgung für Asylbewerber*innen, geduldete sowie ausreisepflichtige Personen eingeschränkt. Bis Ende Februar 2024 galt diese Einschränkung für 18 Monate, bis September 2019 lag der Geltungszeitraum bei 15 Monaten. Gemäß § 4 AsylbLG wird Gesundheitsversorgung nur für die Behandlung „akuter Erkrankungen und Schmerzzustände“ sowie zur Versorgung von schwangeren Frauen, Impfungen und für medizinisch gebotene Vorsorgeuntersuchungen gewährt. Weiterführende Dienstleistungen können gemäß § 6 im Einzelfall gewährt werden, solange diese „zur Sicherung […] der Gesundheit unerlässlich“ sind. In Bezug auf die Gesundheitsversorgung bietet das AsylbLG einen erheblichen Ermessenspielraum, da weder „akute Schmerzzustände“ nach § 4, noch die „Unerlässlichkeit“ der Versorgung nach § 6 genau definiert werden. Somit obliegt es den zuständigen Ärzt*innen einzuschätzen, ob ein solcher Fall vorliegt, sowie den Sozialämtern, ob eine Finanzierung zugestanden wird.infoAmand Führer (2023): Determinanten der Gesundheit und medizinischen Versorgung von Asylsuchenden in Deutschland. Bundesgesundheitsblatt, Nr. 10, 1083–1091 (online verfügbar). Hierdurch ergibt sich eine erhebliche Ungleichheit im tatsächlichen Zugang zur Gesundheitsversorgung für Geflüchtete.infoOliver Razum, Judith Wenner und Kayvan Bozorgmehr (2016): Wenn Zufall über den Zugang zur Gesundheitsversorgung bestimmt: Geflüchtete in Deutschland. Das Gesundheitswesen, Nr. 11, 711–714 (online verfügbar). Klar ist, dass Geflüchtete nach ihrer Ankunft in Deutschland erstmal mit erheblichen Einschränkungen in der Gesundheitsversorgung rechnen müssen. Erst nach dem Geltungszeitraum des AsylbLGinfoDie Geltungsdauer des AsylbLG war auch in der Vergangenheit Gegenstand von Reformdiskussionen und wurde mehrfach verändert. Bis September 2019 lag sie bei 15 Monaten. Zwischen 2007 und 2015 lag sie bei 48 Monaten, zwischen 1997 und 2007 bei 36 Monaten und zwischen 1993 und 1997 bei zwölf Monaten. oder einem positiv entschiedenen Asylantrag haben Geflüchtete bei Gesundheitsleistungen den gleichen Anspruch wie Sozialhilfeempfänger*innen (SGB XII, Abbildung 1).

Die Einführung des AsylbLG im Jahr 1993 ging mit einer Umstellung der Finanzierung der Gesundheitsversorgung durch die Krankenkassen auf die Kommunen einher und erforderte eine neue Abrechnungsstruktur. Dafür wurden Behandlungsscheine eingeführt: Vor einem Arztbesuch muss von den Geflüchteten ein Behandlungsschein bei der zuständigen Sozialbehörde beantragt werden. Die Sozialbehörde prüft damit neben einer Konformität mit dem AsylbLG auch die medizinische Notwendigkeit des Arztbesuches. Dieser Prozess wird von Patient*innen und Ärzt*innen als belastend wahrgenommen und führt zu unnötigen Verzögerungen der Behandlung.infoAnke Spura et al. (2017): Wie erleben Asylsuchende den Zugang zu medizinischer Versorgung? Bundesgesundheitsblatt 60, 462–470 (online verfügbar). Neben dem hohen Verwaltungsaufwand entscheiden damit de facto medizinische Laien über den Zugang zum Gesundheitssystem.infoFührer (2023), a.a.O. Als Alternative wurde in Bremen 2005 erstmals ein Abrechnungssystem für Geflüchtete mittels elektronischer Gesundheitskarte (eGK) eingeführt (Kasten 1). Derzeit gilt die eGK in sechs Ländern flächendeckend: Berlin, Brandenburg, Bremen, Hamburg, Thüringen und Schleswig-Holstein. In drei weiteren Ländern ist sie in einzelnen Kreisen beziehungsweise Kommunen eingeführt (Abbildung 2).

Die elektronische Gesundheitskarte für Geflüchtete ermöglicht die gesetzeskonforme Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen ohne Behandlungsscheine. Durch einen Rahmenvertrag mit einer Krankenkasse erhalten Geflüchtete eine Chipkarte, mit der sie wie gesetzlich Krankenversicherte direkt medizinische Versorgung in Anspruch nehmen können. Hierfür wird auf Landesebene vorab ein Leistungsspektrum definiert, welches mit dem AsylbLG konform ist.infoIn der Praxis bedeutet die Verhandlung eines Leistungskatalogs mit den Krankenkassen oft, dass die Restriktionen des AsylbLG in Regionen mit eGK geringer ausfallen und der Anspruch auf Gesundheitsversorgung mit wenigen Ausnahmen dem der gesetzlichen Krankenkassen entspricht, siehe auch Marcel Wächter-Raquet (2016): Einführung der Gesundheitskarte für Asylsuchende und Flüchtlinge. Der Umsetzungsstand im Überblick der Bundesländer. Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh (online verfügbar). Die Kosten der Versorgung werden weiterhin von der Kommune getragen, die Leistungen sind jedoch günstiger, da die Kommune nun von dem Kostenkatalog der Krankenkassen profitiert.infoOhne einen Rahmenvertrag mit einer Krankenkasse gelten in der Regel die Sätze der privaten Krankenversicherung. Für ihren Aufwand erhalten die Krankenkassen eine Verwaltungspauschale je Chipkarte. Diese liegt, zum Beispiel in Hamburg, bei zehn Euro pro Monat pro Person.infoWächter-Raquet (2016), a.a.O. Die eGK erleichtert den Zugang zur Gesundheitsversorgung, indem sie bürokratische Hürden sowohl für Patient*innen als auch Ärzt*innen abbaut, Klarheit über den Umfang der Gesundheitsleistungen schafft und durch die Abschaffung der Genehmigung durch Behörden Wartezeiten minimiert.

Neben den Vorteilen für die Kommunen hat die Einführung der eGK erhebliche Vorteile für den allgemeinen Gesundheitszustand und die psychische Gesundheit von Geflüchteten.infoPhilipp Jaschke und Yuliya Kosyakova (2021): Does Facilitated and Early Access to the Healthcare System Improve Refugees’ Health Outcomes? Evidence from a Natural Experiment in Germany. International Migration Review, 812–842 (online verfügbar). Diese Vorteile sind für Geflüchtete mit Sprachbarrieren besonders ersichtlich.infoJaschke und Kosyakova (2021), a.a.O. Zudem bewirkt die Einführung der eGK eine höhere Inanspruchnahme von PrimärversorgunginfoKevin Claassen und Pia Jäger (2018): Impact of the Introduction of the Electronic Health Insurance Card on the Use of Medical Services by Asylum Seekers in Germany. International Journal of Environmental Research and Public Health 856 (online verfügbar). und eine geringere Inanspruchnahme von Notfallversorgung.infoJudith Wenner et al. (2020): Differences in realized access to healthcare among newly arrived refugees in Germany: results from a natural quasi-experiment. BMC Public Health 20, 846 (online verfügbar).

Durch die Änderung des Geltungszeitraums des AsylbLG im Jahr 2019 und die schrittweise Einführung der elektronischen Gesundheitskarte seit 2005 sind zeitlich sowie regional unterschiedliche Ansprüche auf Gesundheitsdienstleistungen für Geflüchtete entstanden. Der Anspruch hängt zudem von der Bearbeitungszeit des Asylverfahrens ab, welche in den vergangenen Jahren und auch abhängig vom Herkunftsland variierte. Auch die Zahl der geduldeten Personen ist relevant, da diese Personen auch nach Abschluss des Asylverfahrens den Regelungen des AsylbLG unterliegen.infoVielen Geflüchteten mit abgelehntem Asylgesuch wird ein vorübergehender Schutzstatus („Duldung“) zugesprochen, da die Rückkehr ins Heimatland aus verschiedenen Gründen unmöglich ist. Der Anteil von ausreisepflichtigen Personen mit Duldung lag über die vergangenen Jahre durchgehend bei circa 80 Prozent. Vgl. auch Informationen auf der Webseite von Mediendienst Integration. Aufgrund dieser Gegebenheiten ist derzeit unklar, wie lange Geflüchtete tatsächlich auf regulären Anspruch auf Gesundheitsversorgung warten mussten.

Um die Folgen abzuschätzen, die eine Verlängerung des Geltungszeitraums nach sich zieht, stellt sich zum einen die Frage, wie viele Geflüchtete überhaupt betroffen wären, beziehungsweise bei wie vielen Geflüchteten bereits zu einem früheren Zeitpunkt ein abgeschlossenes Asylverfahren vorliegt. Zum anderen ist unklar, wer von einer längeren Wartezeit besonders betroffen ist: Geflüchtete aus verschiedenen Herkunftsländern haben unterschiedlich lange Asylverfahren. Somit kann die tatsächliche Wartezeit auf einen regulären Versorgungsanspruch für bestimmte Gruppen an Geflüchteten sehr unterschiedlich sein. Ältere Geflüchtete, Frauen oder Geflüchtete mit einem niedrigen Bildungsstand haben zudem eine höhere Krankheitslast, insbesondere in Bezug auf chronische Erkrankungen, und haben daher einen erhöhten Bedarf an Gesundheitsversorgung.infoLouise Biddle et al. (2019), Health monitoring among asylum seekers and refugees: a state-wide, cross-sectional, population-based study in Germany. Emerg Themes Epidemiol 16, Nr. 3. (online verfügbar); Jan Michael Bauer, Tilman Brand und Hajo Zeeb (2020). Pre-migration socioeconomic status and post-migration health satisfaction among Syrian refugees in Germany: A cross-sectional analysis. PLoS Med 17 (online verfügbar). Sollten bei diesen Gruppen zusätzlich besonders lange Wartezeiten vorliegen, käme es zu einer Doppelbelastung: Sie sind nicht nur häufiger und schwerer krank, sondern stehen auch zusätzlichen Hürden beim Zugang zum Gesundheitssystem gegenüber.

Einige Länder haben für Geflüchtete die eGK eingeführt, um während des Geltungszeitraums des AsylbLG den administrativen Zugang zur Gesundheitsversorgung zu vereinfachen. Auch hier ist jedoch unklar, wer von der eGK profitiert hat. Welche Wartezeiten verschiedene Personengruppen haben und inwiefern die Einführung der eGK den Zugang während der Wartezeit vereinfacht, lässt sich in einer Querschnittsanalyse auf Basis von Daten der IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten aus dem Jahr 2021 genauer betrachten (Kasten 2).

Als Datengrundlage dieses Berichts dient die IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten (M3-M6) des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP, v.38.1).infoSozio-oekonomisches Panel (SOEP) (2023): Version 87, Daten der Jahre 1984–2021 (SOEP-Core v38.1, Remote Edition – Update 2023, online verfügbar). Hierbei handelt es sich um ein Kooperationsprojekt des SOEP mit dem Institut für Arbeitsmarkt- und Bildungsforschung und dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, welches repräsentative Daten zu Geflüchteten erhebt, die von 2013 bis 2020 nach Deutschland gekommen sind.infoHerbert Brücker, Nina Rother und Jürgen Schupp (2017): IAB-BAMF-SOEP-Befragung von Geflüchteten 2016. Studiendesign, Feldergebnisse sowie Analysen zu schulischer wie beruflicher Qualifikation, Sprachkenntnissen sowie kognitiven Potenzialen. IAB Forschungsbericht 13/2017 (online verfügbar). Für die Analysen werden die neusten verfügbaren Daten aus der Erhebung im Jahr 2021 verwendet. Die Methode der Datenanalyse ist ein Mittelwertvergleich der Wartezeiten 1) unter aktuellen Bedingungen und 2) einer hypothetischen Ausweitung der Geltungsdauer des AsylbLG auf 36 Monate innerhalb und zwischen Gruppen mit 95-Prozent-Konfidenzintervallen. Außerdem wird die Abdeckung der elektronischen Gesundheitskarte in Prozent aller Geflüchteten berechnet.

Für die Berechnung der Wartezeit bis zum regulären Zugang zur Gesundheitsversorgung unter aktuellen Bedingungen (Stand: Januar 2024) werden zwei Informationen verknüpft: Zeit seit Ankunft in Deutschland und Zeitpunkt einer positiven Entscheidung über das Asylgesuch. Liegt der Zeitpunkt der positiven Asylentscheidung innerhalb der Geltungsdauer des AsylbLG (15 Monate vor beziehungsweise 18 Monate nach dem 21. September 2019), so wird dies als Wartezeit bis zum Zugang gewertet. Andernfalls wird die Geltungsdauer des AsylbLG verwendet. Liegen keine Informationen über den Zeitpunkt der Ankunft in Deutschland vor, so wird der Zeitpunkt der Asylbeantragung verwendet. Personen, welche zum Befragungszeitpunkt noch keinen Asylbescheid erhalten hatten und noch innerhalb der Geltungsdauer des AsylbLG waren – für welche die schlussendliche Wartezeit also unklar war – werden aus der Analyse ausgeschlossen. Insgesamt werden 2181 Geflüchtete, welche im Jahr 2021 an der Studie teilnahmen, in die Analyse einbezogen.

Daten zum Zeitpunkt der Ankunft und des Asylbescheids liegen für den jeweilige Monat und das Jahr vor. Für diese Analyse werden jedoch Tage als Maßeinheit verwendet, indem der Mittelpunkt eines jeweiligen Monats (der 15. Tag) verwendet wird. Hierbei wird angenommen, dass die Ankunft von Geflüchteten über den Monat gleichmäßig verteilt ist, sodass mit einer ausreichend großen Gruppengröße im Mittelwert eine korrekte Anzahl an Tagen berechnet wird. Ein Vorteil der Verwendung von Tagen anstatt Monaten ist, dass Verzerrungen vermieden werden, wenn diese Informationen mit Gesetzesänderungen verknüpft werden, da diese oft zum Anfang eines Monats stattfinden.

Für die Auswertung der Wartezeit unter einer hypothetischen Ausweitung der Geltungsdauer des AsylbLG auf 36 Monate werden ebenfalls Daten zur Zeit ihrer Ankunft in Deutschland und dem Zeitpunkt einer positiven Entscheidung über das Asylgesuch verknüpft. Allerdings wird in diesem Fall eine Wartezeit von 36 Monaten bestimmt, wenn innerhalb der ersten 36 Monate kein positiver Asylbescheid vorliegt. Andernfalls wird die Zeit bis zum positiven Asylbescheid als Wartezeit bestimmt. Wie bei der Auswertung der Wartezeit unter aktuellen Bedingungen werden auch für diese Analyse Personen ausgeschlossen, welche zum Befragungszeitpunkt noch keinen Asylbescheid erhalten hatten und sich weniger als 36 Monate in Deutschland aufhielten. Für dieses hypothetische Szenario werden 2152 Geflüchtete, welche im Jahr 2021 an der Studie teilnahmen, in die Analyse mit einbezogen.

Zur Auswertung der elektronischen Gesundheitskarte werden die Regionaldaten des SOEP herangezogen. Diese werden mit dem Zeitpunkt der Einführung in den jeweiligen Ländern, Kreisen oder Kommunen verknüpft.infoZu diesem Vorgehen vgl. Jaschke und Kosyakova (2021), a.a.O. Eine Befragungsperson kann von der elektronischen Gesundheitskarte profitieren, wenn diese in einer Region mit eGK wohnt und dessen Einführung noch vor dem regulären Anspruch auf Gesundheitsversorgung (also vor Ablaufen des AslybLG-Geltungszeitraums oder des Asylbescheids) stattfand.

Um Ungleichheiten in Bezug auf Personen mit besonderem Bedarf an Gesundheitsversorgung zu untersuchen, werden die berechnete Wartezeit und eGK-Abdeckung nach vier Merkmalen gesondert betrachtet: Geschlecht (männlich/weiblich), Altersgruppen (17–29 Jahre/30–49 Jahre/50+ Jahre), Bildungsstand im Herkunftsland auf Basis der ISCED-11-Klassifikation (niedrig/mittel/hoch) und Kenntnisse der deutschen Sprache, wobei Sprech-, Schreib- und Lesekenntnisse jeweils auf einer Skala von 1 bis 5 erfasst, summiert und anschließend Tertile des Gesamtscores gebildet werden (niedrig/mittel/hoch).

Für die Analyse werden Querschnittsgewichte verwendet, sodass die Ergebnisse repräsentativ für die 2021 in Deutschland lebenden Geflüchteten sind.

Geflüchtete warten im Schnitt über ein Jahr bis zum regulären Anspruch auf Gesundheitsversorgung

Insgesamt warteten Geflüchtete, die 2021 in Deutschland wohnten, mehr als ein Jahr (376 Tage), bis sie regulären Anspruch auf Gesundheitsversorgung erhielten. Dabei mussten 64 Prozent der Geflüchteten auf das Ende des persönlichen Geltungszeitraums des AsylbLGinfoZu diesem Zeitpunkt: 15 beziehungsweise 18 Monate warten, wohingegen 36 Prozent schon früher durch einen positiv bewilligten Status regulären Anspruch erhielten. Für die Mehrheit der Geflüchteten ist damit der maximale Geltungszeitraum des AsylbLG maßgeblich (Abbildung 3).

In der Wartezeit bis zum regulären Anspruch gibt es leichte, aber statistisch signifikante Unterschiede zwischen Frauen und Männern: Frauen mussten im Schnitt 17 Tage länger warten als Männer (Abbildung 4). Auch Geflüchtete mit niedriger Bildung mussten länger warten: Sie warteten im Schnitt 24 Tage länger als Geflüchtete mit mittlerer Bildung.

Geltungszeitraum von 36 Monaten dürfte Benachteiligung Geflüchteter mit niedriger Bildung und geringeren Deutschkenntnissen verstärken

Hätte für Geflüchtete, welche 2021 in Deutschland wohnten, anstatt eines Geltungszeitraums von 18 (beziehungsweise 15) Monaten bereits eine von 36 Monate gegriffen, so hätten Geflüchtete im Schnitt zusätzlich 352 Tage auf einen regulären Anspruch auf Gesundheitsversorgung gewartet. Dabei hätten 52 Prozent der Geflüchteten auf das Ende des Geltungszeitraums des AsylbLG, also 36 Monate, warten müssen, wohingegen 48 Prozent schon früher regulären Anspruch durch einen positiv bewilligten Status erhalten hätten.

Eine hypothetische Geltungsdauer von 36 Monaten verschärft die Unterschiede bei der Wartezeit stark: Personen mit niedriger Bildung hätten circa drei Monate länger warten müssen als Geflüchtete mit mittlerer oder hoher Bildung (Abbildung 5). Auch Geflüchtete mit niedrigen beziehungsweise mittleren Deutschkenntnissen hätten in diesem Szenario circa zwei Monate länger warten müssen als Geflüchtete mit guten Deutschkenntnissen.

Elektronische Gesundheitskarte kommt nur wenigen zugute

2021 wohnten 24 Prozent aller Geflüchteten in einer Region, in der die elektronische Gesundheitskarte eingeführt war. Für insgesamt 17 Prozent aller Geflüchteten war die schrittweise Einführung der eGK seit 2005 auch mit einem vereinfachten Zugang zur Gesundheitsversorgung verbunden. Sieben Prozent der Geflüchteten hatten zum Zeitpunkt der Einführung bereits vollen Zugang zum Gesundheitssystem und konnten somit nicht von der eGK profitieren, obwohl sie in einer eGK-Region wohnten (Abbildung 6). Somit kommen die Vorteile der eGK (Kasten 1) bisher nur wenigen Geflüchteten beziehungsweise Kommunen zugute. Der Großteil der Geflüchteten muss weiterhin mit der Unsicherheit, dem Aufwand und den Behandlungsverzögerungen leben, welche die Beantragung und Bewilligung von Leistungen per Behandlungsschein mit sich bringt.

Die regionale Abdeckung der eGK geht zudem mit Ungleichheiten in Bezug auf das Bildungsniveau Geflüchteter einher: 34 Prozent der Geflüchteten mit einem hohen Bildungsniveau wohnen in einer Region, in der die eGK eingeführt wurde. Geflüchtete mit mittlerem oder niedrigem Bildungsniveau leben jedoch nur zu 22 Prozent beziehungsweise 23 Prozent in einer Region mit eingeführter eGK. Wie der maximale Geltungszeitraum des AsylbLG resultieren die administrativen Rahmenbedingungen in den Ländern in einer systematischen gesundheitlichen Benachteiligung von Geflüchteten mit niedriger Bildung, obwohl diese Personen in der Regel eine höhere Krankheitslast aufweisen und ohnehin schon auf größere Hürden in der Inanspruchnahme von Versorgungsangeboten treffen.

Längere Geltungsdauer des AsylbLG: Hoffnung auf Kosteneinsparungen ist kurzsichtig

Die tatsächliche Wartezeit bis zum Anspruch auf reguläre Gesundheitsversorgung ist bereits jetzt erheblich und dürfte sich durch eine Ausweitung des AsylbLG auf 36 Monate mehr als verdoppeln. Dabei ist die Annahme, dass sich durch die Einschränkung der Gesundheitsversorgung Kosten sparen lassen, kurzsichtig. Im Gegenteil: Studien zeigen, dass es auf lange Sicht sogar kostspieliger ist, die Gesundheitsversorgung von Geflüchteten einzuschränken.infoKayvan Bozorgmehr und Oliver Razum (2015): Effect of Restricting Access to Health Care on Health Expenditures among Asylum-Seekers and Refugees: A Quasi-Experimental Study in Germany, 1994–2013. PLoS ONE 10, Nr. 7 (online verfügbar). Dies erklärt sich dadurch, dass Gesundheitsprobleme erst dann behoben werden, wenn es sich bereits um einen Notfall handelt oder eine intensive Behandlung notwendig ist. Eine frühe Intervention in der Primärversorgung kann hingegen teure Krankenhausaufenthalte, aufwendige Diagnoseverfahren und gravierende Krankheitsverläufe vermeiden.infoAldo Rosano et al. (2013): The relationship between avoidable hospitalization and accessibility to primary care: a systematic review. European Journal of Public Health, 356–360 (online verfügbar).

Das Argument der Kosteneinsparungen ist auch kurzsichtig, da es die Folgen einer schlechten Gesundheit auf die soziale und ökonomische Partizipation von Geflüchteten außer Acht lässt. Es ist wissenschaftlich gut belegt, dass schwere Erkrankungen die Möglichkeiten einschränken, an Bildungsangeboten teilzunehmen, einen Arbeitsplatz zu finden und zu halten, die Sorgearbeit der Familie zu tragen oder sich im sozialen Umfeld zu engagieren.infoSiehe zum Beispiel Maria K. Christensen et al. (2020): The cost of mental disorders: a systematic review. Epidemiol Psychiatr Sciences (online verfügbar). Werden Gesundheitsprobleme nicht frühzeitig durch eine bedarfsgerechte Versorgung adressiert, so kommt es langfristig zu erheblichen sozialen und ökonomischen Kosten für den Bund und die Sozialsysteme.

Die im Gesetzentwurf von der CDU/CSU-Fraktion genannten Einsparungen lassen sich somit im Hinblick auf die Gesundheitsversorgung wissenschaftlich nicht begründen. Ob mit einem längeren Geltungszeitraum des AsylbLG Deutschland als Zielland weniger attraktiv wird und die Zahl der Asylbewerber*innen zurückgeht, ist zudem keineswegs belegt.infoWissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestags (2020): Push- und Pull-Faktoren in der Migrationsforschung. Dokumentation Nr. WD 1-3000-027/20 (online verfügbar). Im Kontext der Fluchtmigration sind eher die Bedingungen und Ereignisse im Herkunftsland ausschlaggebend für zunehmende oder abnehmende Asylzahlen; mehr oder weniger restriktive Gesetzgebungen in Zielländern spielen demgegenüber nur eine untergeordnete Rolle.infoTimothy J. Hatton (2009): The Rise and Fall of Asylum: What Happened and Why? The Economic Journal 119, 183–213 (online verfügbar).

Außerdem dürften durch die Änderung des AsylbLG, vor allem durch den längeren Ausschluss von der regulären Gesundheitsversorgung, insbesondere die Wartezeiten von Geflüchteten mit niedriger Bildung und geringen Deutschkenntnissen verlängert werden. Gerade diese Geflüchteten weisen aber eine hohe Krankheitslast auf und benötigen daher eine zügige, bedarfsgerechte Gesundheitsversorgung.infoBauer et al. (2020), a.a.O.

Fazit: Zugang von Geflüchteten zur regulären Gesundheitsversorgung sollte erleichtert werden

Die gesetzlichen Bestimmungen wie auch die administrativen Regelungen für den Zugang von Geflüchteten zur Gesundheitsversorgung sind restriktiv und werden durch die Verlängerung der Geltungsdauer des AsylbLG auf 36 Monate weiter verschärft. Damit verbunden ist eine klare Einschränkung des Rechts auf Gesundheit, zu dem sich Deutschland unter anderem mit Ratifizierung des UN-Sozialpakts verpflichtet hat.infoKayvan Bozorgmehr, Judith Wenner und Oliver Razum (2017): Restricted access to health care for asylum-seekers: applying a human rights lens to the argument of resource constraints. European Journal of Public Health 27, 592–593 (online verfügbar). Diese Einschränkungen werden oft mit ihrem temporären Charakter gerechtfertigt. Jedoch führt in Deutschland die lange Bearbeitungsdauer von Asylverfahren, die hohe Schutzquote sowie der hohe Anteil von geduldeten Personen dazu, dass die Einschränkungen Personen betreffen, die sich länger in Deutschland aufhalten.

Die Einschränkungen bei der Gesundheitsversorgung sind zudem mit erheblichen Nachteilen verbunden, kurzfristig für die Geflüchteten, langfristig für das Gesundheitswesen insgesamt, wenn zu späte Behandlung hohe Kosten in der Notfallversorgung oder bei der Intensivbehandlung nach sich zieht. Anstatt für Geflüchtete zusätzliche rechtliche Barrieren zu errichten, sollte der Zugang erleichtert werden, zum Beispiel durch niedrigschwellige Gesundheitsangebote in Geflüchtetenunterkünften,infoKatharina Wahedi et al. (2020): Medizinische Versorgung von Asylsuchenden in Erstaufnahmeeinrichtungen. Bundesgesundheitsblatt – Gesundheitsforschung – Gesundheitsschutz, 1460–1469 (online verfügbar). den Abbau administrativer Hürden durch die bundesweite Einführung der eGKinfoFührer (2023), a.a.O. und angemessene Sprachmittlungsangebote.infoAmand Führer und Patrick Brzoska (2022): Die Relevanz des Dolmetschens im Gesundheitssystem. Gesundheitswesen, 474–478 (online verfügbar).

Die Einführung der eGK für Geflüchtete bietet erhebliche gesundheitliche und ökonomische Vorteile (Kasten 1), ist jedoch derzeit noch unzureichend implementiert. Durch den Abbau administrativer Hürden, speziell des Behandlungsscheins, kann früher auf niedrigschwellige Versorgungsangebote zugegriffen werden, anstatt dass Krankheiten länger verschleppt werden. Gegen die eGK werden häufig die relativ hohen Verwaltungspauschalen der Krankenkassen sowie der befürchtete Anstieg der Gesundheitskosten ins Feld geführt. Jedoch wurden in Hamburg im Vergleich zur vorherigen Praxis, die medizinische Versorgung mit Behandlungsscheinen zu regeln, Verwaltungskosten in Höhe von 1,6 Millionen Euro jährlich eingespart.infoFrank Burmester (2014): Auswirkungen der Zusammenarbeit mit der AOK Bremen/Bremerhaven aus Sicht der Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration. Fachtag Gesundheitsversorgung Ausländer – Best Practice Beispiele aus Hamburg. Berlin (online verfügbar). Außerdem führte der vereinfachte Zugang zur Gesundheitsversorgung mit der eGK nicht zu einer unangemessenen Inanspruchnahme: Im Ruhrgebiet stieg die Anzahl der Arztbesuche nach Einführung der eGK zwar, sie war aber immer noch geringer als bei Personen ohne Fluchthintergrund.infoPia Jäger et al. (2019): Does the Electronic Health Card for Asylum Seekers Lead to an Excessive Use of the Health System? Results of a Survey in Two Municipalities of the German Ruhr Area. International Journal of Environmental Research and Public Health, 1178 (online verfügbar). Somit ist zwar – je nach gesundheitlichem Bedarf – kurzfristig mit gestiegenen Kosten in der Primärversorgung zu rechnen.infoAlfons Hollederer (2020): Die Gewährleistung von Krankheitshilfen bei asylsuchenden Menschen: Zweiklassenmedizin in Deutschland? Bundesgesundheitsblatt, 1203–1218 (online verfügbar). Langfristig sind diese Ausgaben für den Staat jedoch eher eine Investition, welche teurere Notfall- und Krankenhausversorgung vermeidet.infoHollederer (2020), a.a.O.

Hintergrund für die Änderung des AsylbLG war die Hoffnung auf Einsparungen und reduzierte Anreize für die Fluchtmigration nach Deutschland. Ein nüchterner Blick in die gesundheitswissenschaftliche Evidenz zeigt jedoch, dass sich diese Annahmen im Gesundheitsbereich nicht bestätigen lassen. Im Gegenteil: Mit Blick auf die Kosten für den Staat und die betroffenen Menschen wäre es sinnvoller, den Geltungszeitraum des AsylbLG zu verkürzen, anstatt ihn zu verlängern. Die flächendeckende Einführung der eGK bietet die Möglichkeit, administrative Hürden im Zugang zur Gesundheitsversorgung während der Wartezeit gering zu halten. Gerade jetzt, wo die Änderung des AslybLG die gesundheitliche Situation von Geflüchteten weiter verschärft, sollte die Einführung der eGK mit Nachdruck verfolgt werden.

Louise Biddle

Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Infrastruktureinrichtung Sozio-oekonomisches Panel



JEL-Classification: H51;I14;J15
Keywords: refugees, asylum seekers, healthcare entitlement, healthcare access, health inequities
DOI:
https://doi.org/10.18723/diw_wb:2024-12-4

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